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Hamburger Meisterklasse

Manchmal geschehen Theaterwunder, wo man sie nicht unbedingt erwartet. Schließlich hat John Neumeier sich schon häufig von großen Künstlerpersönlichkeiten zu Ballettabenden anregen lassen, und selten ist es ihm dabei gelungen, frei von Sentimentalitäten und glamourösem Oberflächenglanz zu arbeiten.

Von Wiebke Hüster |
    Auch sein Nijinsky-Ballett litt darunter, dass das Leiden des Genies meistens nur hinreißende Bilder schön angezogener Menschen präsentierte.

    Nun aber ist ihm eine Sensation gelungen. Eine Stunde lang reiht er traumhafte Szenen aneinander, die ein irisierendes Licht auf einige der bedeutungsvollsten Momente der Tanzgeschichte werfen.

    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, jener Zeit, als das Ballett den anderen Künsten voran in die Moderne sprang, spielt sein neues Ballett "Le Pavillon d'Armide" zu Musik von Nikolai Tscherepnin. Als es 1909 bei der ersten Premiere der Ballets Russes in Paris gezeigt wurde, prägte sich Vaslaw Nijinskys tänzerisches Genie damit unvergesslich ein.

    Seit 1916 aber ist dieses wunderschöne Rokoko-Ballett um den auf ein einsames Schloss verschlagenen Chevalier, dessen Geliebte überraschend einem Gobelin entsteigt, von den Bühnen verschwunden. Neumeier macht nun etwas fantastisches: Er lässt Fragmente des Originals wiederentstehen, deren tänzerische Schönheit dem Publikum wie ein Flirren vor Augen steht. Zu der schönen "Armide" treten andere Figuren wie Nijinsky als siamesischer Tänzer aus dem Ballett "Les Orientales".
    Aber auch berühmte Partnerinnen Nijinskys wie etwa die bezaubernde Tamara Karsawina tanzen in Rokoko-Kostümen vor dem Original-Schlosspark, wie ihn der Maler Alexandre Benois für die Premiere entworfen hatte.

    Diese Reminiszenzen bindet Neumeier in eine Rahmenhandlung ein, die eine Beschwörung tragischer Szenen dieser Zeit darstellt. Der ältere Nijinsky ist es, der seine Rolle in "Le Pavillon d'Armide" erinnert. Seine Frau Romola, so die Eingangsszenen des Stücks, hat ihn in ein Nervensanatorium gebracht, nachdem Anfänge seiner späteren Schizophrenie sich bemerkbar gemacht haben. In der Isolation von den Ballets Russes vermischen sich ihm Gegenwart und Vergangenheit. Die Ärzte, Schwestern und Patienten flanieren im Park, dazwischen tauchen Karsawina oder sein eigenes Alter Ego wie zauberhafte Geister auf.
    Was so viele Fotografien, auf denen Nijinsky wie ein kleiner, muskulöser, etwas seltsam dreinschauender exotischer Schauspieler wirkt, nicht auszulösen vermögen, Neumeier gelingt es mit seiner gar nicht raffiniert kontruierten, aber zutiefst berührenden Balletterzählung. Man spürt, fühlt, glaubt, wie faszinierend, wie überwältigend Nijinsky als Tänzer gewesen sein muss.

    John Neumeier wird beim Premierenapplaus in der ausverkauften Hamburgischen Staatsoper mit Bravorufen überschüttet. Nach dreieinhalb Stunden Ballett fühlt sich niemand müde. Langanhaltend aufwühlend wirkt nicht nur Neumeiers Uraufführung, sondern auch die Stücke, die "Le Pavillon" rahmten: George Balanchines eklatant modernes Prokofjew-Ballett "Der verlorene Sohn", 1929 kurz vor Diaghilews Tod für die Ballets Russes entstanden - und Nijinsky wundervoll archaische und zugleich anmutig avantgardistische Choreographie "Le Sacre du printemps".

    Glanzvoller hätten die 35. Hamburger Balletttage nicht eröffnet werden können. Ein avantgarde-trunkenes Publikum verlässt das Haus, im Kopf Bilder einiger der besten Tänzer der Welt: Hélène Bouchet als verführerische Sirene, die den verlorenen Sohn auf erotische Abwege lenkt, Otto Bubenicek als erkrankter, melancholischer, einsamer Nijinsky, Thiago Bordin im herrlichen Danse Siamoise oder Silvia Azzoni als "Auserwählte" in "Le Sacre". Das muss man gesehen haben!