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Handgemacht

Kasperl, Seppl und das Krokodil, die Prinzessin, der König und die böse Hexe oder der Polizist – mit dem Puppentheater, das man von früher kennt, hat das Internationale Figurentheater-Festival nicht mehr viel zu tun. Die Grenzen des Genres wurden gesprengt, interdisziplinäre Einflüsse aufgegriffen. Nichts ist dem Metier fremd.

Von Bernd Noack |
    Garnelen sind auch bloß Menschen. Das behauptet zumindest die holländische Theater-Gruppe "hotel modern" und lässt die gepanzerten Wesen, die man ansonsten eher aus Tiefkühltruhen und Pfannen kennt, wie selbstverständlich in die Zivilisation einbrechen. Dort freilich stehen und kauern sie vor den selben Schwierigkeiten und Überraschungen wie sie auch diejenigen durchmachen müssen, von denen sie normalerweise gegessen werden. Und somit ist der gemeinen Garnele nichts Menschliches fremd: Unter Wehen wird sie geboren, als Tote wird sie beweint; dazwischen liebt und kämpft sie, betrügt und mordet, genießt, erkrankt und landet auch schon mal auf dem elektrischen Stuhl. Mit ihren großen schwarzen Augen schauen die Krusten-Menschen dann in eine Welt, die nicht die ihre sein kann, in die sie geworfen wurden wie in einen Kochtopf.

    Die Absurdität dieser Szenerie ist reizvoll, der Rollentausch verspricht tiefe Erkenntnisse über die Unzulänglichkeit der Schöpfung an sich: Dem Gerede von der Krone aller Kreaturen traut gerade der, der angeblich gemeint ist, ohnehin schon lange nicht mehr. Und als "hotel modern" seine "Garnelen-Geschichten" jetzt beim Internationalen Figurentheater-Festival in Erlangen als deutsche Erstaufführung zeigte, war die Hoffnung nicht klein, dass es zumindest komisch werden würde. Denn gespannt war man ja, welches Thema sich die Holländer für ihre bis ins Detail perfektionierte Bühnenkunst aus Puppenspiel, Performance, Musik und verblüffender Filmtechnik diesmal einfallen lassen würden. Nach den per Handkamera auf Großleinwand live übertragenen mörderischen Sandkastenspielen in "The Great War" und dem höchst umstrittenen Stück "Kamp", in dem KZ-Alltag und Häftlingsleiden erschreckend naiv und effekthaschend im Spielzeugeisenbahn-Format HO banalisiert wurden, war Skepsis angesagt.

    Und tatsächlich bleibt "hotel modern" sogar bei seinem Ausflug ins Tierreich seinem Hang zur Geschmacklosigkeit treu. Satirische Überspitzungen gipfeln fast schon zwangsläufig in quälende Übertreibungen; die Freude der Truppe am visuellen Schock, den sie perfide aus der kleinsten Harmlosigkeit herausholt, kann dann aber doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier eine Art von Humor zelebriert wird, der sich darin erschöpft, vor allem angestrengt taburesistent sein zu wollen. Blutige Tumor-Operationen am offenen Panzer; öde Witzchen am KZ-Modell darüber, ob Arbeit frei oder froh macht; Exorzisten-Schleim, elektrischer Stuhl, Minderheiten-Bashing - bei "hotel modern" kommt nur zur Sprache, was man auch für politisch einwandfrei unkorrekt hält.

    Das Festival-Publikum freilich ist begeistert von diesem "Mut". So war das zum Beispiel vor zwei Jahren bei "Kamp" in Salzburg, und so war das nun auch bei dem Horror-Trip der Krustentiere in Erlangen. Dabei hatte man doch gerade hier, bei der 16. Auflage der Figurentheater-Biennale, die Möglichkeit des Vergleichs und hätte sich nicht von eben solch einer technischen Perfektionierung der inhaltlichen Dürftigkeit blenden lassen brauchen. Denn das zwölftägige Festival im mittelfränkischen Städtedreieck, das nach 30 Jahren längst zu den wichtigsten und größten des Genres in Europa zählt, hat wieder einmal gezeigt, wie spannend, abenteuerfreudig, ästhetisch überraschend und hauptsächlich ungezähmt das Spiel mit Figuren, Objekten und Bildern mittlerweile ist.

    Unter dem Bühnendach, das noch vor gar nicht langer Zeit allein Zeitgenossen wie Kasper und dessen hölzerne Kollegen an langen dünnen Schnüren zappeln sah, haben sich andere eingenistet. Und es gibt viel Raum dort: für den lettischen Alltags-Arrangeur Alvis Hermanis etwa, für den Illusionisten Philippe Genty, die Poeten "Nico and the navigators", die Klang-und Bild-Experimentalisten von der italienischen Societas Raffaello Sanzio, für den Altmeister Neville Trantor, für die slapstick-tauglichen Masken der "Familie Flöz", für die leise Geschichten-Erzählerin Yvette Coetzee, für die scheiternden Objekt-Maschinisten von "Akhe" aus St. Petersburg oder "Das Helmi", die Berliner Knautschpuppen-Anarchisten mit garantiert keiner Marionettenspieler-Ausbildung.

    Nichts ist dem Metier fremd: Die Bildende Kunst trifft auf den Tanz und das Objekt die Puppe mitten in die Weichteile; die Videobilder flimmern über Körper und Körper arrangieren sich zu Gemälden; sogar der Mensch selber gibt eine gute animierte Figur ab, während die Figuren ihrerseits dem Menschen zeigen, dass sie auch ohne ihn ganz gut überlebensfähig sind.

    "Das Besondere dieser Szene ist ..."

    ... sagt der Erlanger Festival-Leiter Bodo Birk,

    "... dass sie 'ne große Offenheit entwickelt hat. Und das war nicht von Anfang an so. Als das Festival gegründet wurde, als der Einsatz von abstrakteren Puppen und animierten Objekten und offenem Spiel von Puppen schon überraschend war und schon Grenzüberschreitungen waren, da haben sich schon damals Puppenspielverbände dagegen gewehrt gegen solch eine Interpretation. Die Gefahr besteht natürlich, wenn alles offen ist, dass es überhaupt keine Grenzen mehr gibt, dass es wie jedes andere Theaterfestival ein Festival für allen Bühnenformen sein könnte. Und das ist schon wichtig, dass die Besucher merken, dass wir uns Gedanken darüber machen: Was könnte es noch mit Figuren zu tun haben, warum passt es noch in das Gesamtkonzept. Aber auch einzelne Ausreißer sind da erlaubt, da hat auch keiner was dagegen.""

    So gesehen hätten die armen holländischen Garnelen freilich kaum einen besseren Ort finden können als dieses Festival, um sich in die Pfanne hauen zu lassen.