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"Handlungsbedarf in Richtung Qualität"

"Es kann nicht um Masse gehen, sondern es muss um Klasse gehen", sagt Norbert Hocke von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Er fordert, der steigenden Nachfrage nach U3-Betreuungsplätzen auf keinen Fall mit größeren Kita-Gruppen beikommen zu wollen.

Norbert Hocke im Gespräch mit Jasper Barenberg | 01.08.2013
    Barenberg: Am Telefon begrüße ich Norbert Hocke, im Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist er intensiv mit dem Thema Kita-Ausbau und Betreuung von Kindern befasst. Schönen guten Tag, Herr Hocke!

    Norbert Hocke: Schönen guten Tag!

    Barenberg: Herr Hocke, genügend Plätze im Osten, ein wenig Nachholbedarf noch im Westen, absehbar Engpässe in den größeren Städten – wie zufrieden sind Sie am heutigen Stichtag?

    Hocke: Also, zunächst muss man mal zufrieden sein, dass der Rechtsanspruch für die Null- bis Dreijährigen überhaupt jetzt so in Kraft treten kann. Das ist eine bildungs- und betreuungs- und familienpolitische Leistung, die darf man nicht unterschätzen. Unzufrieden bin ich nach wie vor: Politik redet von 40 Prozent oder 39 Prozent – ein Rechtsanspruch ist ein Rechtsanspruch, und da können wir nicht mit 40 Prozent ausgehen oder 39 Prozent ausgehen, sondern der Bedarf wird deutlich höher werden, und da werden sich dann die Probleme zeigen.

    Barenberg: Aber der ist ja schon regional sehr unterschiedlich. In größeren Städten größer als im ländlichen Raum, im Norden größer als im Süden. Also da gibt es ja regionale Unterschiede, muss man die nicht auch berücksichtigen?

    Hocke: Die muss man berücksichtigen, und man hätte im Prinzip sehr genau mit einer Jugendhilfeplanung, die sehr sozialräumlich auch ansetzt, hätte man bestimmte Schwierigkeiten, die man jetzt hat, frühzeitig verhindern können. Es war damals beim Krippengipfel scheinbar nicht im Auge der Politik, dass wir sehr kommunal denken müssen in dieser Frage, und die Kommunen hätten viel stärker von Anfang an durch die Länder unterstützt werden müssen.

    Barenberg: Wo würden Sie denn Abstriche machen? Betrifft das vor allem das Stichwort Qualität der Betreuung, wie wir sie jetzt derzeit haben?

    Hocke: Also, es kann nicht um Masse gehen, sondern es muss um Klasse gehen. Es geht hier um Kinder im Alter von null bis drei, und dann von drei bis sechs Jahren, die brauchen feste Bindungen, die brauchen Bildungsangebote, und die kann man nicht in großen Gruppen oder in Platz-Sharing, wo man vormittags ein paar hat und nachmittags ein paar andere Kinder hat, über die Bühne bringen. Nein, wir müssen uns jetzt dringend zusammensetzen mit Politik und Gewerkschaften, um über die Qualität in den Einrichtungen zu reden.

    Barenberg: Welche Mängel würden Sie denn jetzt, Stichtag heute, zum heutigen Tag zunächst mal konstatieren? Da hat es ja einige Länder gegeben, die die Maßstäbe etwas aufgeweicht haben, um mehr Erzieherinnen und Erzieher für diesen Beruf zu gewinnen. Beispielsweise, es wurden Gruppen vergrößert, es wurden Spielflächen verkleinert. Was ist in Sachen Qualität Stand der Dinge heute?

    Hocke: Also auch da ist es natürlich sehr unterschiedlich. Es gibt Länder, die sich weigern, die Fachkräfteverordnung zu lockern, damit wir halb oder unausgebildetes Personal in die Einrichtungen bekommen. Es gibt aber auch Länder, die überlegen, mit einer regelmäßigen Überbelegung die Gruppen größer zu machen. Hier werden wir die Personal- und Betriebsräte auffordern, dieser Überbelegung nicht zuzustimmen. Und wir werden auch die Erzieherinnen dazu auffordern, Überlastungsanzeigen zu stellen. Denn wenn nachher irgendetwas passiert, dann wird ein Gericht klären, ob die entsprechenden Regelungen eingehalten wurden, und die Erzieherinnen werden dann zur Verantwortung gezogen. Wir müssen mit ganz kleinen Kindern sehr, sehr sorgfältig und verantwortungsvoll umgehen, und da, glaube ich, ist zurzeit noch einiger Handlungsbedarf notwendig.

    Barenberg: Und es kommt ja hinzu, Herr Hocke, dass die Qualität der Betreuung in einer großen nationalen Studie ohnehin gerade erst kritisiert wurde. Den meisten Einrichtungen wurde bescheinigt, dass es gerade einmal mittelmäßig ist, was sie dort tun. Wie weit sind wir also entfernt von dem Stand, von der Qualität der Betreuung, wie wir sie uns eigentlich wünschen müssten?

    Hocke: Da sind wir noch einen ganz großen Schritt weit entfernt. Wenn ich mir die Personalschlüssel oder die Erzieher-Kind-Relation anschaue bundesweit, liegen wir deutlich unter dem, was die Wissenschaft empfiehlt, deutlich unter dem, was zum Teil die OECD auch empfiehlt. Wir geben insgesamt in Deutschland immer noch zu wenig für die frühkindliche Bildung aus. Die OECD empfiehlt ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts, wir liegen circa bei 0,5 bis 0,6 Prozent. Also es ist Handlungsbedarf in Richtung Qualität, und von daher ist natürlich wirklich zu überlegen, ob wir uns das Betreuungsgeld nicht besser in ein Qualitätsgeld umwandeln sollten, denn das wäre der richtige Schritt, der augenblicklich zu tun wäre.

    Barenberg: Auf der anderen Seite sagen die Befürworter des Betreuungsgeldes ja, dass es nur gerecht ist, im Sinne der Wahlfreiheit auch denen zumindest einen symbolischen Beitrag zukommen zu lassen, die sich dafür entscheiden, ihre Kinder zu Hause zu betreuen.

    Hocke: Die Frage, ob ich ein Kind zu Hause betreue oder in einer Kita betreuen lasse, muss jede Familie für sich selber treffen. Aber trotzdem müssen doch die Eltern, die einen Krippenplatz haben, auch für dieses Kind dann bezahlen in der Krippe. Wir tun so, als ob wir einen Nulltarif in den Einrichtungen haben. Nein, die Eltern, die einen Krippenplatz haben, müssen für dieses Kind auch zahlen, und deswegen kann ich nicht verstehen, warum die, die ihr Kind nicht in eine Einrichtung bringen, dann dafür auch noch belohnt werden. Das ist ja so, als ob ich in eine öffentliche Bibliothek, weil ich mir Bücher selber kaufe, weil ich nicht in die öffentliche Bibliothek gehe, nun ein Büchergeld vom Staat bekomme. Hier ist ein sozialpolitisch fataler Fehler gemacht worden.

    Barenberg: Der deutsche Kinderschutzbund beklagt deutliche Qualitätsmängel, der DGB warnt davor, den Rechtsanspruch auf Kosten der Qualität umzusetzen, beklagt größere Gruppen, schlechte Arbeitsbedingungen und mangelhafte Ausbildung, sieht das Kindeswohl gefährdet und verlangt ein Betreuungsqualitätsgesetz. Würden Sie sich anschließen? Müssen wir da auch gesetzgeberisch tätig werden, um einen bestimmten Standard für die Zukunft zu gewährleisten?

    Hocke: Ja. Die Situation in den Ländern, wie alle Studien zeigen, ist dermaßen unterschiedlich, und wenn man dann noch mal in die Kommunen geht, noch unterschiedlicher. Wir brauchen dringend einen bundeseinheitlichen Standard, der die Qualität über die Personalschlüssel, die Freistellung von Leitungen, Fachberatungen regelt, die Vor- und Nachbereitungszeit. Hier ist es dringend notwendig, über den Bundesgesetzgeber eine entsprechende Diskussion für ein Bundesqualitätsgesetz auf den Weg zu bringen.

    Barenberg: Da sehen Sie den Bund in erster Linie in der Pflicht. Gilt das auch beispielsweise für die laufenden Kosten, die in den Kitas anfallen, denn auch da beklagen ja Länder, beklagen insbesondere auch Kommunen, dass sie der Bund da jetzt im Stich lässt?

    Hocke: Also der Bund ist natürlich mit vielen Dingen in Vorleistung gegangen. Wir haben nicht nur die vier Milliarden für den Ausbau, wir haben dann auch das Sprachprogramm auf Bundesebene, 400 Millionen, und der Bund ist noch einmal mit Lernort Praxis mit sieben oder acht Millionen auch noch mal in die Bütt gegangen. Nein, wir brauchen generell eine Neufinanzierung in diesem System. Bund, Länder und Gemeinden können nach dem alten System nicht mehr die Sozialleistungen erbringen. Der Bund muss die Möglichkeit haben, direkt den Kommunen Geld zur Verfügung zu stellen, dazu muss das Kooperationsverbot aber fallen. Es muss hier eine neue Finanzregelung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden erfolgen.

    Barenberg: Zum Schluss, Herr Hocke, noch die Frage nach dem Fachpersonal. Es herrscht ein großer Mangel an Erzieherinnen, an Erziehern sowieso, und das wird sich absehbar auf die nächsten Jahre ja auch nicht ohne Weiteres ändern lassen. Wann kann diese Lücke denn geschlossen werden, und wie?

    Hocke: Die Lücke kann nur dann geschlossen werden, wenn ernsthaft unternommen wird, dass man nicht nur die Realschülerinnen und Erfahrene im Beruf für den Erzieherinnenberuf anwirbt, sondern wenn wir auch grundständige Studiengänge in allen Bundesländern bekommen, damit Abiturienten für diesen Beruf grundständig ausgebildet werden. Dies ist zurzeit leider nicht der Fall, und von daher haben wir eine große Lücke, die in den letzten Jahren hätte geschlossen werden können, aber da haben die Länder erst mal sich blind gestellt und dieses Problem wollten sie aussitzen. Das wird aber nicht gelingen, denn wir brauchen über den Kita-Bereich auch für den Grundschulbereich Erzieherinnen, die hier Stück für Stück die Ganztagsbetreuung mit übernehmen werden, das heißt, in den nächsten Jahren wird dieser Beruf ein Mangelberuf bleiben, und die Bundesagentur für Arbeit muss endlich deutlich dieses auch akzeptieren, damit wir dann auch mit vielleicht ausländischem Personal hier entsprechend die Lücken füllen können.

    Barenberg: Norbert Hocke, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, heute hier live im Deutschlandfunk. Ich bedanke mich für das Gespräch, Herr Hocke!

    Hocke: Recht herzlichen Dank!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.