Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Hannah Arendt: Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher

Hannah Arendts Artikel für die deutsch-jüdische Zeitschrift Aufbau in New York sind heute abend Thema ebenso wie eine neue französische Studie über die Macht des rassistischen Vorurteils. Zwei Biographien möchte ich Ihnen außerdem vorstellen: Die eine handelt von der Emigration aus Nazi-Deutschland nach Uruguay und der späteren Rückkehr nach Berlin, die andere vom Leben als schwarze Deutsche in der Nachkriegszeit. Zum Schluss gehen wir dem geschichtlichen Wandel des Zeitbegriffs nach und widmen uns 18 Versuchen über die Beschleunigung.

Lothar Baier | 04.12.2000
    Die Zeitschrift Aufbau wurde 1934 als Vereinsblatt des Einwandererclubs "German Jewish Club" in New York gegründet und entwickelte sich im Laufe der Jahre zum weltweit gelesenen Sprachrohr der deutschsprachigen Juden. Immer mehr Menschen kamen als Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland, unter ihnen im Jahr 1941 auch Hannah Arendt, Philosophin, Heidegger- und Jaspers-Schülerin, die über Frankreich in die USA gelangt war. Vom Oktober 41 bis zum April 45 schrieb sie für den Aufbau unter dem Titel "This Means You" eine politische Kolumne. Immer wieder handeln diese Texte vom Existenzkampf der Juden in Europa und seinen unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Formen, die Hannah Arendt schonungslos verwirft oder vehement unterstützt:

    "Die einen überzeugt, dass 'keiner weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß'. Die anderen, selig in dem Bewusstsein, den Zeitgeist zu personifizieren, in dem sie ausgerottet werden. Und die dritten ängstlich darauf bedacht, nicht mehr zu verteidigen und nicht mehr zu fordern als jüdisches Territorium in Palästina..., als das Stückchen Erde, auf dem man hofft, vor Antisemitismus sicher zu sein. Vor Antisemitismus aber ist man nur auf dem Monde sicher; und der berühmte Ausspruch Weizmanns, dass die Antwort auf den Antisemitismus der Aufbau Palästinas sei, hat sich als ein gefährlicher Wahn erwiesen. Wir können den Antisemitismus nur bekämpfen, wenn wir mit der Waffe in der Hand gegen Hitler kämpfen."

    In Anlehnung an den Ausspruch des römischen Senators Cato hat Hannah Arendt diese stetig wiederholte Forderung unter den Titel "Ceterum censeo" gestellt. Ihre Kolumnen aus dem Aufbau wurden nun unter dem eben erwähnten Zitat "Vor Antisemitismus ist man nur auf dem Monde sicher" wieder veröffentlicht. Lothar Baier hat sie für uns gelesen:

    "Vor Antisemitismus aber ist man nur noch auf dem Monde sicher", schrieb Hannah Arendt vor fast 60 Jahren, am 26. Dezember 1941, in einem in New York veröffentlichten Artikel. Der Satz ist immer noch und gerade im Hinblick auf die jüngsten Anschläge auf Synagogen und jüdische Friedhöfe von trister Aktualität. Doch ebensowenig überholt ist eine andere bittere Einsicht der 1933 aus Deutschland vertriebenen und 1941 im amerikanischen Exil aufgenommenen Philosophin. Im Oktober 41 schrieb die jüdische Intellektuelle:

    "Gibt es für uns wirklich nur die Alternative zwischen übelwollenden Feinden und leutseligen Freunden? Gibt es für uns nirgendwo echte Verbündete...?"

    Auslöser der verzweifelt klingenden Frage war ein im "Aufbau" veröffentlichter Brief des französischen Schriftstellers Jules Romains gewesen, in dem dieser in seiner Eigenschaft als Präsident des französischen PEN-Clubs jüdischen Emigranten Undankbarkeit vorwarf. Statt ihm in einer bestimmten Streitfrage zur Seite zu springen, hätten ihn jüdische Schriftsteller kritisiert und dabei wohl vergessen, was er in der Vergangenheit für sie getan hatte. Zum Beispiel eine Resolution gegen den Antisemitismus durchgesetzt und zudem die Entlassung jüdischer Schriftsteller aus französischen Internierungslagern erwirkt. Dafür sollten sich die Betreffenden wenigstens erkenntlich zeigen.

    Hätte Hannah Arendt damals gewusst, auf welch schwachen Füßen die erwähnte Hilfsbereitschaft in Wirklichkeit gestanden hatte, wäre ihre Antwort auf den Beschwerdebrief wahrscheinlich noch um einiges bitterer ausgefallen. Einer der betroffenen jüdischen Autoren, der aus Ostgalizien stammende Soma Morgenstern, teilte nach Kriegsende Gershom Sholem mit, dass der wackere PEN-Präsident Jules Romains dem französischen Innenminister, der nach Kriegsausbruch gegenüber der Internierung von Intellektuellen Skrupel verspürte, zugeraten hatte, auch die aus Deutschland und Österreich geflüchteten Schriftsteller einzusperren. Erst die lautstarke Intervention der amerikanischen PEN-Präsidentin Dorothy Thompson brachte ihren französischen Kollegen Romains dazu, seine Meinung zu ändern und sich dann für die Freilassung wenigstens einiger geflüchteter Schriftsteller einzusetzen. Dafür aber sollten nun alle Juden Dankbarkeit bezeugen und Romains mit Kritik verschonen.

    Hannah Arendts Replik aus dem Jahr 1941 liest sich deshalb deprimierend, weil sie zum Vorschein bringt, wie wenig sich an der Schieflage des sogenannten Dialogs zwischen Juden und Nichtjuden geändert hat, trotz Auschwitz und den an das Symbol Auschwitz geknüpften pädagogischen Programmen. In der wiederbelebten Rolle des beleidigten Jules Romains konnte im Jahr 1998 der Schriftsteller Martin Walser auftreten und sich die Kritik verbitten, die Ignatz Bubis, der inzwischen verstorbene Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, an Walsers Paulskirchenrede geäußert hatte. Auch hier berief sich der Gekränkte auf Verdienste, die er in der Vergangenheit glaubte erworben zu haben, und zwar auf die Jahrzehnte zurückliegende Beschäftigung mit dem Mord in Auschwitz: Nun erwartete er von dem Überlebenden Bubis dafür Dankbarkeit - und zwar in Form von Stillschweigen gegenüber Walsers fragwürdiger Meinung. Als "Wohltäter", wie Hannah Arendt es 1941 ausdrückte, wollte da einer gesehen werden, nicht als "Mitkämpfer und Verbündeter". Werden die Juden "leutselig" wahrgenommen und nicht feindselig, dann, trotz Aufklärung, wie in früheren Jahrhunderten als "Schutzjuden", nicht als Gleichberechtigte. Auch vor solch verzerrender, dem Antisemitismus nicht entgegengesetzter, sondern ihn lediglich abmildernder Wahrnehmung sind die Juden nach wie vor offenbar "nur auf dem Monde sicher".

    Die von Marie-Luise Knott zusammengestellten Interventionen Hannah Arendts befassen sich freilich auch mit Gegenständen, die heute nur noch von historischem Interesse sind, wie der unter zionistischen Juden innerhalb und außerhalb Palästinas damals heiß diskutierten Frage der Aufstellung einer an der Seite der Alliierten einzusetzenden jüdischen Armee. Interessant zu lesen sind diese in deutscher Sprache geschriebenen und veröffentlichten Artikel allemal, und zwar deshalb, weil sich in ihnen die allmähliche Genese von Hannah Arendts politischem Denken verfolgen läßt. Die Erfahrung der Staatenlosigkeit und der Abhängigkeit vom nicht einklagbaren Wohlwollen der Aufnahmeländer, die die aus Deutschland ausgebürgerte Autorin hatte durchleben müssen, schärfte in der Philosophin den Sinn für die Bedeutung des Rechts und weckte zugleich ihre Skepsis gegenüber der Feier der Menschenrechte, die staatenlosen Flüchtlingen eben nicht viel helfen, weil keine Instanz sich dafür zuständig fühlt. Auch die Zukunft des damaligen Mandatsgebiets Palästina, das mit verstärkter jüdischer Einwanderung und dem Erwachen des arabischen Nationalismus seinen Charakter zu wandeln begann, beschäftigte unablässig die politische Kommentatorin, die immer stärker auf Distanz zu den offiziellen zionistischen Positionen ging.

    Viele der in Hannah Arendts 1951 in den USA veröffentlichtem Hauptwerk "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" entfalteten Themen und Überlegungen klingen bereits in den "Aufbau"-Artikeln an. Die pointierte Form des Zeitungskommentars bringt jedoch gewisse konzeptionelle Schwächen Hannah Arendts deutlicher als das Buch zum Vorschein, etwa die Missverständlichkeit der für sie wichtigen Kategorie des "Mobs" oder des Vergleichs der Situation der Juden mit der indischer "Parias". In ihrer informativen und sachkundigen Kommentierung weist die Herausgeberin zu Recht auf das Nebeneinander von Hellsichtigkeit und Blindheiten in Hannah Arendts Denken hin. Als Beispiel bedauerlicher Blindheit hebt sie Arendts positive Beurteilung des sowjetischen Umgangs mit den Juden hervor. Doch gerade dieses zeitgebundene Urteil verdient am ehesten Nachsicht: angesichts der Befreiung Minsks und Wilnas durch die vorrückende Rote Armee im Sommer 1944 und angesichts der Tatsache, dass sowjetische Armee-Einheiten von jüdischen Generälen geführt wurden. Dem von Amerika aus die Anerkennung nicht verhehlen zu können, zeugt nicht unbedingt von Blindheit. Spezialistin für die sowjetischen Verhältnisse war Hannah Arendt nicht - so wenig wie für Prophetie. Der Zeitgenossin der bis 1945 noch zusammenhaltenden angelsächsisch-sowjetischen Anti-Hitler-Koalition implizit vorzuhalten, dass sie die Ende der vierziger Jahre bei Stalin durchbrechende antisemitische Paranoia nicht vorausgesehen hatte, verrät nichts als wohlfeile nachgeborene Neunmalklugheit. Von einer substantielleren Diskussion Arendt'scher Denkfiguren hätten die Leser mehr gehabt.

    Lothar Baier besprach "Vor dem Antisemitismus ist man nur auf dem Monde sicher". Die Kolumnen Hannah Arendts aus den Jahren 1941 bis 45 sind im Piper Verlag erschienen, herausgegeben von Marie Luise Knott. Das Buch hat 244 Seiten und kostet 39,80 DM.