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Hannes Heer: Vom Verschwinden der Täter. Der Vernichtungskrieg fand statt, aber es war keiner dabei.

Vom Verschwinden der Täter handelt das erste Buch, das ich Ihnen heute Abend vorstellen möchte. Es beschäftigt sich mit der Geschichte der Wehrmachtsausstellung und der deutschen Suche nach der richtigen Vergangenheit. Dann geht es um die Generation der so genannter Kriegskinder, die gerade als traumatisierte Opfer entdeckt werden. Außerdem befassen wir uns ausführlich mit den sich häufenden Vorwürfen gegen die sog. Globalisierungskritiker. In Büchern, Zeitschriften und Zeitungen schlägt sich immer häufiger die These nieder, sie verstünden nichts von Ökonomie, seien Nationalisten und schlimmer noch: häufig auch Antisemiten.

Von Lothar Baier | 23.02.2004
    Die von Jan Philipp Reemtsmas Hamburger Institut für Sozialforschung 1995 zum ersten Mal präsentierte Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944" ist 1999 trotz landesweit anhaltenden Besucherandrangs überraschend zurückgezogen worden. Der öffentlich benannte Anlass für den Schritt war der von einem polnischen Historiker, Bogdan Musial, vorgelegte und sogleich von allen Medien aufgegriffene und verbreitete Hinweis darauf, dass einige der ausgestellten Fotos mit falschen Legenden versehen waren. Ein Photo etwa zeigte nicht wie angegeben die Leichen von Opfern der SS oder der Wehrmacht, sondern des sowjetischen NKWD.

    Diese Legenden hatten die Ausstellungsmacher vielfach nicht selbst verfasst, sondern von den benutzten Archiven übernommen, ohne sie jedoch, was ohne Frage ein fachliches Versäumnis war, einer eingehenden Nachprüfung zu unterziehen. Statt nun ein Dutzend mit fragwürdigen Zuschreibungen versehene Fotos aus einer 1433 Aufnahmen präsentierenden Ausstellung zu entfernen, verfügte Reemtsma die Schließung der ganzen Veranstaltung und entließ den verantwortlichen Leiter Hannes Heer. Eine völlig neukonzipierte Ausstellung wurde in Aussicht gestellt und 2001 auch eröffnet. Nun meldet sich der geschasste Hannes Heer mit einem Buch zu Wort, dem er den Titel «Vom Verschwinden der Täter» gab. Lothar Baier hat das Buch gelesen:


    Dass Hannes Heer im ersten, der Geschichte der Wehrmachtssausstellung und ihrer öffentlichen Wirkung gewidmeten Teil seiner Arbeit mit seinem einstigen Chef Jan Philipp Reemtsma bitter abrechnet, wird niemanden verwundern. Der sich nun abzeichnende Hahnenkampf zwischen zwei ehemaligen Mitstreitern im Kampf gegen Verschweigen und Verleugnung wird ganz gewiss öffentliche Aufmerksamkeit erregen und entsprechende Sendezeiten okkupieren. Ein "hochbrisantes Medienthema" hat der Aufbau Verlag in seiner Werbung auch schon in Aussicht gestellt. Solche Fanfarentöne werden gewiss Käufer anziehen; ob sie auch viele Leserinnen und Leser ansprechen, die gewohnt sind, sich lesend auf Nuancen einzulassen und sich auf Ton und Sinn sprachlicher Äußerungen zu konzentrieren, muss sich erst zeigen. Auf Sprache kommt es in diesem Fall an: Aussagen von Besuchern der ersten Wehrmachtsausstellung, zum Teil in längeren Interviews vor der Kamera zu Protokoll gegeben, bilden zusammen mit ihrer Auswertung das Hauptstück von Heers Buch.

    Mein furchtbarstes Erlebnis hatte ich etwa August 1942 im litauischen Mariupol: Um 18 Uhr, gerade von 24 Stunden Wache abgelöst, hörte ich, an diesem Tage seien im ehemaligen Kasernengelände am anderen Stadtende 5 - 7000 Juden von SS-Leuten 'liquidiert', das heißt ermordet worden. Konnte solch Verbrechen wahr sein? - Ich ging und stand dann vor den langen Massengräbern mit den grad dürftig zugeschaufelten Leichen. Im Soldatenheim aber grölten und soffen die Massenmörder Bier und Schnaps aus Wassereimern! Ekel und Grauen erfassten mich. Ich konnte nur noch sagen: Wenn dieses Blut über uns kommt, dann gnade uns Gott.

    Längst nicht alle befragten ehemaligen Kriegsteilnehmer, geht aus Heers Zusammenstellung hervor, beantworteten die von der Ausstellung gestellte Herausforderung mit so unzweideutigen Worten, die die enge Tuchfühlung zwischen Soldaten und mordenden Kommandos benennen. Ausflüchte, Verleugnung und Beschönigung - man habe nichts gesehen, nichts gewusst, an nichts Kriegsunüblichem teilgenommen, zudem sei im Osten von beiden Seiten ein rundum brutaler Krieg geführt worden - beherrschen viele Aussagen. Angesichts der ausgestellten Foto- und Textdokumente hatten es eingespielte Umdeutungen des eigenen Erlebens jedoch schwerer als sonst, sich eine überzeugende Form zu bewahren. Aus den Brieftaschen von ihresgleichen, von Soldaten, nicht aus Archiven, stammten in der Regel Aufnahmen von Morden an Zivilisten und ließen sich so nicht einfach als Propaganda beiseiteschieben. Diese Wirkung der ersten Wehrmachtsausstellung fasst Hannes Heer folgendermaßen zusammen:

    Die Erlebnisse des Krieges, so sieht man, arbeiten noch. Sie wurden also nicht verdrängt, und das heißt, dem Unbewussten, dem Vergessen übereignet, sondern sie sind nur eingekapselt und in dieser Form abgelagert worden. Sie wurden verleugnet. Der Schock der Wehrmachtsausstellung hat dieses gut gesicherte Material aufgesprengt und reaktiviert. Alle Strategien des Vergessens verfolgen ein einziges Ziel - das jetzt lebende Ich von früheren negativen Erfahrungen zu entlasten. Die Erinnerungen sind das Medium, in denen dieser Prozess sich vollzieht. Sie versuchen das Geschehen in Einklang zu bringen mit dem Selbstbild von heute. Damit dessen positives Wertekonto stimmt, müssen die Bilanzen von damals rückwirkend 'gefälscht' und angepasst werden.

    Bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind die Aussagen von Ausstellungsbesuchern, die erst in der letzten Kriegsphase von der Schulbank weg zur Wehrmacht eingezogen und an die Ostfront geschickt worden waren. Bei ihnen findet sich kaum Identifikation mit dem Kollektiv Wehrmacht und entsprechend wenig Abwehr gegen die Zerstörung der Legende von der "sauber gebliebenen" Armee, die Traditionsverbände, Politiker und unvermeidlich die Neonazis gegen die erste Ausstellung aufbrachte. Nachgeborene dagegen, so zeigt eine unter dem Titel "Opa war kein Nazi" vor zwei Jahren erschienene sozialwissenschaftliche Untersuchung, neigen stark dazu, auch um des Familienfriedens willen, sich die Mär vom guten Großvater, der nie etwas Böses gedacht oder getan hat, zu eigen zu machen, auch wenn erhaltene Zeugnisse dagegen sprechen. In dieser Hinsicht kommt der ersten Wehrmachtsausstellung bei allen Mängeln das unbestreitbare Verdienst zu, Besucher verschiedener Generationen zum Nachdenken und zum Sprechen gebracht zu haben, ohne dass Familienrücksichten allzu sehr zensierend intervenieren konnten.

    Die 2001 eröffnete neukonzipierte Ausstellung gefällt dem Verantwortlichen der ersten, Hannes Heer, selbstverständlich so wenig wie dem Kritiker Klaus Theweleit, der in der Neukonzeption und Entschärfung den Drang des Institutschefs Reemtsma am Werke sieht, nach den vorausgegangenen heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen endlich als seriös und konsensfähig anerkannt zu werden. Auf die Ranküne des Hinausgeworfenen lassen sich Heers Einwände allerdings nicht reduzieren. Ein Beispiel mag das unterstreichen: Die von 1995 bis 1999 gezeigte Ausstellung ging den Blutspuren jener 6. Armee nach, die seit ihrer späteren Einkesselung und Zerschlagung in Stalingrad bevorzugt als Armee der Opfer gilt. Das darf sie im Spiegel der neuen Ausstellung wieder sein, da ihre Beteiligung an während des Vormarschs nach Osten begangenen Verbrechen nicht mehr verfolgt wird. Heers Titel "Vom Verschwinden der Täter" bezieht sich jedoch nicht allein auf die geänderte Ausstellung. Sein Buch weist auf eine weit darüber hinausgehende Serie von schleichenden Verschiebungen im geistigen Klima in Deutschland hin, die den gespenstischen Eindruck eines Zurück in die frühen fünfziger Jahre erwecken.

    Sich dieser ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Zeit zuwendend, erinnert Heer, neben der Nichtpublikation von Heinrich Bölls erstem Kriegsroman "Kreuz ohne Liebe", an den vergessenen Zensurfall Remarque. Der Autor von "Im Westen nichts Neues" hatte 1954 seinen Roman "Zeit zu leben und Zeit zu sterben" fertiggestellt, der vom Schicksal einer Gruppe deutscher Soldaten an der Ostfront erzählt. Dem Verlag Kiepenheuer & Witsch erschien vieles daran dem deutschen Publikum nicht zumutbar. Dass die Hauptfigur Graebner sich sterbend selbst als "Mörder" bezeichnet, das durfte nicht gedruckt werden; darüber hinaus wurde unter anderem ein kommunistischer Wehrmachtssoldat in einen Sozialdemokraten verwandelt, ein Jude namens Hirschland wurde zu Hirschmann arisiert und ähnlicher Retuschen mehr. Verleger Caspar Witsch sprach in seiner Rechtfertigung davon, dass es sich bei diesen Eingriffen nur darum gehandelt habe, die "Richtigkeit der politischen Valenzen" zu gewährleisten, was auch immer unter "Valenzen" zu verstehen sein mag. Remarque lag mit seinem Buch entschieden neben der Linie des in der Nachkriegszeit äußerst beliebten Autors und Arztes Peter Bamm, der in seinem hunderttausendfach verkauften Bestseller "Die unsichtbare Flagge" die Nazis und die Mörder als die "Anderen" wie Fremdkörper aus dem Leib der Deutschen herausoperiert hatte.

    Einem Bamm unserer Tage widmet Hannes Heer ein eigenes Kapitel, das besonders aufmerksame Lektüre verdient, auch weil es den Titel "Vom Verschwinden der Täter" erst recht sinnfällig macht. Es geht darin um den Autor Jörg Friedrich, der sich in jüngster Zeit als einzigartiges literarisches Chamäleon entpuppte. Ursprünglich hatte Friedrich sich mit einem 1984 erschienenen solide vergangenheitskritischen Buch einen Namen gemacht, "Die kalte Amnestie, NS-Täter in der Bundesrepublik", das die Nichtbestrafung zahlloser Naziverbrecher dokumentiert. Um 1990 herum muss den Berliner Privathistoriker, um mit Bismarck zu sprechen, "der deutsche Hund gebissen haben", mit der Folge, dass er sich danach erst einfühlend auf die im Osten eingesetzten deutschen Armeen warf und danach auf die von den Alliierten bombardierte deutsche Zivilbevölkerung und die im Feuersturm verglühten Zentren deutscher Städte. Das unter dem Titel "Der Brand" veröffentlichte Resultat von Friedrichs deutscher Empathie wurde dann durchweg herzlich begrüßt.

    Denn das alte, in den fünfziger Jahren bereits ausgiebig durchdeklinierte Thema die Deutschen als Opfer - Opfer des alliierten Sieges, der "Siegerjustiz", der Entnazifizierung, der Besatzung - liegt von neuem in der Luft, worauf der spektakuläre Erfolg von Grassens Roman "Im Krebsgang" und der vielbeachtete Essay von W.G. Sebald "Luftkrieg und Literatur" bereits hindeuteten. Jörg Friedrich fügt dem Trend allerdings eine Neuerung hinzu, vor der andere zurückschreckten: die Bombardements und die Leiden der bombardierten Bevölkerung werden bei ihm, was Hannes Heer mit Spürsinn registriert, in einer Sprache benannt, die bisher dem deutschen Vorgehen beim Völkermord an den Juden vorbehalten schien. Es wimmelt nur so von "Vernichtung" und "Massakern" in allen denkbaren Wortzusammensetzungen, die Luftschutzkeller verwandeln sich in "Gaskeller", in denen Unschuldige "vergast" wurden, aus britischen Bomberverbänden werden "Einsatzgruppen". Friedrich lässt die von ihm absichtsvoll benutzte Terminologie eben das bewerkstelligen, was er inhaltlich nicht offen aussprechen mag: nämlich dass die Alliierten mit dem Luftkrieg für seinen Begriff nichts weniger als einen Holocaust an den Deutschen verbrachen. Dass die modifizierte Wehrmachtsausstellung diesen ideologisch schwerbefrachteten Autor zu Begleitveranstaltungen einlud, spricht nicht gerade für ihre nichts als dem Fachlichen verpflichtete Neutralität. Zum breiten Echo auf Friedrichs deutsches Passionsdrama bemerkt Hannes Heer am Ende seines zum Nachdenken anregenden, eine vielleicht noch gar nicht voll entfaltete Zeitströmung kritisch diagnostizierenden Buchs:

    Der Brand ist mit 200.000 verkauften Exemplaren ein Bestseller geworden, nicht weil man der Gleichsetzung von Holocaust und Bombenkrieg zustimmen würde, sondern weil man die naheliegendere, schon in der Verpackung mitgelieferte Botschaft, die Deutschen seien millionenfach zum Opfer geworden, begrüßt. Nach den Zumutungen der Goldhagen-Debatte und der Ungeheuerlichkeit der ersten Wehrmachtsausstellung war das endlich einmal eine gute Nachricht.

    Lothar Baier besprach: Hannes Heer: Vom Verschwinden der Täter, erschienen im Aufbau Verlag. Das Buch hat 393 Seiten und kostet 22.90 Euro.