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Hans Magnus Enzensberger (Hg.): Krieger ohne Waffen. Das internationale Komitee vom roten Kreuz.

Den Mythos vom humanen Krieg - es gab ihn bereits im Ancien Régime des 17. und 18. Jahrhunderts. Die napoleonischen Massenheere ließen ihn kurzfristig in Vergessenheit geraten. Und so wurde diese Idee erst im Juni 1859 scheinbar zufällig wiedergeboren. Der Geburtshelfer hieß Henry Dunant. Er war - je nach ideologischem Standpunkt des Betrachters - ein gleichermaßen honoriger wie philanthropischer Geschäftsmann oder ein gleichermaßen kreativer wie unzuverlässiger Abenteurer. Wahrscheinlich war er ein bisschen von beidem. Seine Eindrücke von der Schlacht bei Solferino jedenfalls erschütterten die damalige Welt von Paris bis St. Petersburg - und waren für Dunant selbst die Motivation, jene Institution ins Leben zu rufen, von deren Geschichte und Wirkung unsere nächste Neuerscheinung berichtet.

Martina Schulte |
    Dort liegt ein völlig entstellter Soldat, dessen Zunge übermäßig lang aus dem zerissenen und zerschmetterten Kiefer heraushängt. Einem anderen Unglücklichen ist durch einen Säbelhieb ein Teil des Gesichts fortgerissen worden. Nase, Lippen und Kinn sind von dem übrigen Teil des Kopfes getrennt. Unfähig zu sprechen und halb blind, macht er Zeichen mit der Hand. Man muss ihre Wunden verbinden, ihre blutigen, verschmutzten und von Ungeziefer bedeckten Körper waschen. Das Gefühl, so außerordentlichen und schwerwiegenden Verhältnissen nahezu hilflos gegenüberzustehen, bedeutet eine unnennbare Qual.

    Henry Dunant, der als Geschäftsmann im weißen Tropenanzug in das blutige Gefecht zwischen Napoleon III. und Kaiser Franz Joseph von Österreich gestolpert war, veröffentlichte 1862 seine "Erinnerung an Solferino". Die kleine Schrift, im Eigenverlag herausgebracht, enthielt das gesamte Gedankengut jener Bewegung, als deren Taufpate er heute in jedem Geschichtsbuch verzeichnet ist. Auf den letzten Seiten forderte er die Schaffung einer überparteilichen, internationalen Hilfsorganisation, die "die Verwundeten in Kriegszeiten durch begeisterte, aufopfernde Freiwillige" pflegt. Bereits ein Jahr nach dem Erscheinen seines Buches wurde dieser Traum Wirklichkeit, mit der Gründung eines fünfköpfigen Clubs, später bekannt als das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, kurz IKRK.

    Ein umfassendes Buch über eben dieses IKRK herauszugeben, das seine Delegierten neben Neutralität auch zu Vertraulichkeit verpflichtet, ist keine leichte Aufgabe - vergleichbar mit dem Vorhaben, ein umfassendes Buch über die Arbeit eines x-beliebigen Geheimdienstes vorzulegen. Denn Verschwiegenheit ist auch im Selbstverständnis dieser humanitären Organisation eine Conditio sine qua non. Obwohl das IKRK Ende der 80er Jahre begann, sich Uneingeweihten zaghaft zu öffnen - der diskrete Umgang mit seinem Wissen um die neuzeitlichen Kriege und seine Opfer ist bis heute die Prämisse seiner humanitären Missionen auf beiden Seiten bewaffneter Konflikte geblieben.

    Trotz oder vielleicht auch gerade wegen dieser Schwierigkeit ist es Hans Magnus Enzensberger mit "Krieger ohne Waffen" gelungen, ein anrührendes wie kritisches, vor allem aber informatives Buch über den weltweit agierenden humanitären Konzern zusammenzustellen. 12 Beiträge führen den Leser durch die wechselvolle Geschichte einer Organisation, deren Logo, das rote Kreuz auf weißem Grund, so schreibt Enzensberger in seinem Vorwort, bekannter ist als das von Coca-Cola.

    Herausragend sind die beiden Essays des kanadisch-britischen Sozialhistorikers Michael Ignatieff. Sie bilden den Überbau für diese Sammlung von Zeitzeugenberichten, Reportagen und Analysen. Seine Geschichte des IKRK ist nicht gerade arm an Paradoxien und zeigt eine Organisation, die immer wieder der Zerreißprobe zwischen Idealismus und Pragmatismus ausgesetzt ist. Die Problematik beginnt dabei bereits mit der Verortung ihrer moralischen Existenzberechtigung, die eng mit der Existenz bewaffneter Konflikte verknüpft ist. Bis heute verstehen sich die meisten Delegierten ausdrücklich nicht als Friedensstifter, sondern akzeptieren den Krieg als ein anthropologisches Ritual:

    Innerhalb des roten Kreuzes selbst ist der Konflikt zwischen Menschenrechten und Kriegsrechten nach wie vor ungelöst. So gibt es die einen, die darauf beharren, die entscheidende Verantwortlichkeit des Roten Kreuzes bestehe in der Bekämpfung von Kriegsursachen, während die anderen glauben, die Organisation sei einzig dazu da, das Ungeheuer zu zähmen. Das IKRK verschafft dem Kriegsrecht Geltung. Es führt keine Kampagnen gegen die Ungerechtigkeit durch. Seine Legitimität beruht auf der Zusammenarbeit mit Kriegern und Kriegsherren. Es kann weder eine Feuerpause noch einen Waffenstillstand erzwingen. Es kann nur versuchen, die verfeindeten Parteien dazu zu bringen, einige Grundregeln zu befolgen

    Die Folgen dieses Paradoxons, die man in allen Dokumentationen und Erfahrungsberichten ausmachen kann, schlagen dabei wie ein Pendel mal zur einen und mal zur anderen Seite aus. Gerade noch hat man noch den Mut eines Delegierten im spanischen Bürgerkrieg, im Libanon oder in Jugoslawien bewundert, der sich, um Menschenleben zu retten, in gefährliche und aussichtslos scheinende Einsätze stürzt. Da wird einem schon die Hilflosigkeit desselben Delegierten gegenüber totalitären Regimes oder wahnsinnigen Kriegsherren bewusst, die die Anwesenheit humanitärer Organisationen lediglich als moralisches Feigenblatt missbrauchen.

    Man liest die erstaunliche Geschichte des IKRK-Delegierten Louis Haeflinger, der in den letzten Tagen des zweiten Weltkriegs entscheidend dazu beitrug, die 60.000 KZ-Häftlinge von Mauthausen vor ihrer Massakrierung durch die Waffen-SS zu retten. Nur um anschließend festzustellen, dass derselbe Mann - vermutlich wegen seiner unkonventionellen und wenig schweizerischen Vorgehensweise - nach dem Krieg von der eigenen Organisation zur persona non grata erklärt wurde.

    Freyermuths Reportage über den Hilfs-Multi führt auch in die bürokratischen Tiefen provinzieller und hoher Genfer Diplomatie. Sie stellt zur Diskussion, ob das Rote Kreuz, das einst als völkerverbindende Utopie begann, nicht längst zu einer gigantischen Hilfsmaschinerie geworden ist, die den Menschenmüll der weltweiten Schlachtfelder zu entsorgen hat. So steht man bei der Lektüre dieses Buches auch immer wieder vor der Frage, inwieweit das Rote Kreuz geeignet ist, die Schrecken des Krieges zu mildern oder ob es letztlich durch seine Anerkennung der Kriegsspielregeln nur dazu beiträgt, neues Leiden zu schaffen. Das Schöne an Enzensbergers Sammlung ist es, dass sie dem Leser die Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen überlässt. Sie weist ihm Rolle eines Historikers zu, der seine eigenen Schlüsse aus dem Material ziehen kann, das vor ihm ausgebreitet wird.

    Neben der Geschichte der humanitären Hilfe, ihren Triumphen und ihren Krisen ist "Krieger ohne Waffen" auch die Geschichte vom Antlitz unserer Kriege. Vom Krieg der Nationalstaaten mit ihren mehr oder weniger disziplinierten Bataillonen. Vom Krieg totalitärer Regime. Vom Bürgerkrieg und vom Befreiungskrieg. Und von der modernen Erscheinung des 'ausgefransten Kriegs', der den humanitären Organisationen großes Kopfzerbrechen bereitet.

    Von den fünfzig bewaffneten Konflikten, die es gegenwärtig gibt, entspricht kaum einer dem klassischen Muster des Krieges zwischen Staaten. In diesen Konflikten steht die Zivilbevölkerung immer in der Schußlinie. Heute gehören auch die Terrorisierung, die Deportation, ja sogar die Ausrottung der Zivilbevölkerung der anderen Seite dazu. In den neunziger Jahren wurden die meisten Kämpfe von Irregulären geführt - den Opfern der zusammengebrochenen Staaten- oder von paramilitärischen Einheiten, die Banditentum mit Soldatentum kombinieren. Da der Krieg aus den Händen des Staates in die Hände der Kriegsherren übergeht, zerfallen auch die Rituale der Rücksichtnahme, die mit dem Kriegshandwerk einhergehen.

    Zum ersten Mal zeigte sich dieser neue Krieg dem Roten Kreuz im ehemaligen Jugoslawien. Paramilitärische Banden erledigten die schmutzige Arbeit, die keiner der Kriegsgegner seiner offiziellen Armee gestattet hätte. Eine auch nur annähernde Einhaltung der Genfer Konvention war damit in weite Ferne gerückt.

    Trotz aller Rückschläge in den Weltkriegen, in Somalia, Tschetschenien, Afghanistan oder im ehemaligen Jugoslawien wird es immer wieder Menschen geben die sich die Binde mit dem roten Kreuz auf weißem Grund über den Arm streifen werden. Die Nachfrage ist ungebrochen. Warum, das hat ein IKRK-Delegierter angesichts von sechs ermordeten Kollegen im Tschetschenien Krieg einmal so erklärt:

    Alle unsere Bemühungen beruhen auf der Überzeugung, dass der Mensch selbst inmitten der schlimmsten Entartungen des Krieges ein fundamentales Mindestmaß an Menschlichkeit bewahrt. Ereignisse wie dieses machen es schwierig, diesen Glauben zu bewahren. Doch ohne ihn müssten wir eingestehen, dass den Menschen nichts vom Tier unterscheidet, und dies werden wir uns nicht eingestehen.

    Krieger ohne Waffen. Das internationale Komitee vom Roten Kreuz. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger in der Reihe "Die andere Bibliothek" im Eichborn Verlag Frankfurt / Main. 347 Seiten in der bei dieser Edition gewohnten bibliophilen Ausstattung zum Preis von 54,- DM.