Montag, 29. April 2024

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Hans Peter Duerr: Die Tatsachen des Lebens

Bereits 1939 erschien Norbert Elias’ zweibändiges Werk 'Über den Prozeß der Zivilisation’ zum ersten Mal in Basel. Der 1897 in Breslau geborene Elias hatte dieses Werk bereits im Exil schreiben müssen. Diese 'soziogenetischen und psychogenetischen Untersuchungen’, wie er die umfangreiche Studie selbst im Untertitel genannt hatte, begann in den 70er Jahren zahlreiche Sozialwissenschaftler stark zu beeinflussen, man spricht geradezu von einer Schulbildung. Elias hat, etwas verkürzt gesagt, in seiner Zivilisationstheorie die These vertreten, in vormodernen Gesellschaften habe eine zügellose Sexualmoral geherrscht, erst im Zuge der Zivilisation, der Herausbildung komplexer Gesellschaften, habe sich bei den Individuen eine wirksame Affektkontrolle herausgebildet. Über Elias’ 'Prozeß der Zivilisation’ entstand Ende der 80er Jahre ein Gelehrtenstreit, der wesentlich angeführt wurde vom Heidelberger Ethnologen Hans Peter Duerr, der Elias Vorstellung von dem unbefangenen und unschuldigen Verhältnis vormoderner Menschen zu ihrem Körper und ihrer Sexualität von Anfang an für falsch hielt. Duerrs ganzes wissenschaftliches Trachten ist auf die Widerlegung der Eliasschen Theorie gerichtet. Die Auseinandersetzung der beiden Wissenschaftler hatte noch zu Elias’ Lebzeiten begonnen. Beide veröffentlichten im selben Verlag, nämlich bei Suhrkamp. An den Verleger Siegfried Unseld schrieb Norbert Elias am 28. Juni 1989, ein Jahr vor seinem Tod:

Hans Martin Lohmann | 14.04.2003
    Ich habe dazu bisher keine Stellung genommen, dass Sie Herrn Duerrs Angriffen auf eines meiner Werke Unterkunft im Suhrkamp Haus angeboten haben und damit auch die Fürsorge für die gegen mich gerichtete Propaganda. Ich möchte mich nicht mit Ihnen über die Berufsethik des Verlegers streiten, die es ihm erlaubt, die Propaganda gegen einen Ihrer eigenen Autoren zu unterstützen und vielleicht sogar leitend in die Hand zu nehmen. In bestimmter Hinsicht verzerrt Herr Duerr immer von neuem die Zivilisationstheorie, die er zu widerlegen sucht ... Ich hoffe sehr, Sie finden Mittel und Wege, einen Ihrer Autoren vor solchen Entstellungen eines anderen zu schützen.

    Diesem Ansinnen von Norbert Elias ist der Verleger bekanntlich nicht nachgekommen. Hans Peter Duerr hat nun im Suhrkamp Verlag gerade den 5. und letzten Band seines 'Mythos vom Zivilisationsprozess’ veröffentlicht. Der Titel: 'Die Tatsachen des Lebens’. Die ersten vier Bände befassten sich mit 'Nacktheit und Scham’, 'Intimität’, Obszönität und Gewalt’ und 'Dem erotischen Leib’. Nun also liegt der vieltausendseitige Gegenentwurf zum Prozeß der Zivilisation vollständig vor.

    15 Jahre, 3.574 Druckseiten und, wenn ich richtig gezählt habe, 6954 wissenschaftliche Anmerkungen hat Hans Peter Duerr verausgabt, um, letzten Endes, eine einzige These zu untermauern: dass nämlich der von Norbert Elias behauptete "Prozeß der Zivilisation" ein wissenschaftlicher Aberglaube, ein Mythos sei. Der mittelalterliche Mensch etwa, von dem Elias annimmt, er sei schamfreier, tabuloser und sexuell unbefangener gewesen als der moderne, angeblich zivilisierte Mensch, ist dies, Duerr zufolge, mitnichten gewesen; vielmehr verbarg sich hinter seiner scheinbar größeren Freizügigkeit gegenüber dem Animalischen und Körperlichen ein strenger Verhaltenskodex, der genau festlegte, was sozial erwünscht oder erlaubt war bzw. was sozial als schamlos galt. Was Elias als zivilisatorischen Prozess, als ein Fortschreiten von vergleichsweise primitiven, rohen und naturtümlichen gesellschaftlichen Zuständen zu immer verfeinerteren und kontrollierteren Sozialverhältnissen beschrieb, entzaubert Duerr als wissenschaftlichen Hokuspokus – man könnte auch sagen als narzisstische Selbstüberhöhung eines Denkens, das sich als Gipfelpunkt der sozialen Evolution verkennt.

    Duerrs ethnologisch geschulter Blick, der dem Soziologen Elias vollständig abging, fand z.B. heraus, dass in der Öffentlichkeit heutzutage verpönte Körpergeräusche wie Schmatzen, Furzen oder allzu lautes Sichräuspern in anderen Gesellschaften nicht unbedingt ein Indiz für herabgesetzte oder fehlende Sozial- und Selbstkontrolle waren, sondern in ihrer vermeintlichen "Natürlichkeit" durch unsichtbare Schranken limitiert waren. Während die europäischen Entdecker, Forscher und Ethnologen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts sich immerzu wunderten, dass in den von ihnen besuchten traditionellen Gesellschaften häufig keine erkennbare Schamgrenze, also die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre, existierte, zeigt Duerr, dass diese Trennung sehr wohl bestand. Freilich musste man, um diese Grenze zu erkennen, auch jenes "Phantomkleid" sozialer Verhaltensvorschriften wahrnehmen, welches die vordergründige Nacktheit verhüllte und dergestalt Privatheit und Öffentlichkeit voneinander schied. Claude Lévi-Strauss’ l’homme nu war eben nur in den Augen zivilisierter Europäer ein schamloser Nackter, nicht aber unbedingt in denen der unzivilisierten "Wilden". Deshalb lautet Duerrs Resümee am Ende des ersten Bandes,

    dass vieles für die Wahrheit des biblischen Mythos spricht, nach dem die Scham vor der Entblößung des Genitalbereiches keine historische Zufälligkeit ist, sondern zum Wesen des Menschen gehört.

    Damals, vor 15 Jahren, rief dieser Befund laute Empörung und heftigen Widerspruch hervor, zumal Duerr den Altmeister der deutschen Soziologie frontal anging und ihm zahlreiche Fehler und Missverständnisse bei der Auswertung der von ihm benutzten Bild- und Schriftquellen nachweisen konnte. Zu kränkend war die Einsicht, dass der Prozess der Zivilisation, an dessen vorläufigem Ende der moderne westliche Mensch steht, bloß eine schöne Schimäre, ein eurozentristisches Selbstmissverständnis sei; dass die "Natürlichkeit" der Primitiven auf einer Täuschung beruhe, deren Ursache im Beobachter selbst liegt; dass das gesamte Konstrukt einer Evolution der Kultur zum Höheren und Sublimeren unter der Beweislast der von Duerr zusammengetragenen "Tatsachen des Lebens" zusammenbrechen müsse. An die Stelle einer unbegrenzten kulturellen und sozialen Modellierbarkeit des Menschen, wie sie seit den siebziger Jahren die höchst einflussreiche Elias-Schule postulierte, setzte sich die eher konservative Überzeugung, dass der Mensch im wesentlichen der ist, der er schon immer war: Die historische Soziologie wurde von der Anthropologie abgelöst. Im Rückblick auf die späten achtziger Jahre scheint es fast, als habe Duerr mit seiner Generalattacke auf Elias vorweggenommen, was bald darauf tatsächlich eintrat – das Ende der progressistischen Illusion, die nicht nur von der Linken geteilt wurde.

    Duerr ist kein Freudianer, und doch könnte über seinem Monumentalwerk als Motto jene Bemerkung Freuds stehen, die sich am Ende von Das Unbehagen in der Kultur findet:

    Ich habe mich bemüht, das enthusiastische Vorurteil von mir abzuhalten, unsere Kultur sei das Kostbarste, was wir besitzen oder erwerben können, und ihr Weg müsse uns notwendigerweise zu Höhen ungeahnter Vollkommenheit führen.

    So wie Freud sich weigerte, die heutige westliche Zivilisation als das Nonplusultra der Kulturentwicklung zu glorifizieren (sondern ganz im Gegenteil die enge seelische Verwandtschaft des modernen Neurotikers mit dem sogenannten Primitiven herausstellte), so zielt Duerrs Unternehmen darauf, den Glauben an die Fortschrittlichkeit der eigenen Kultur und an die Zurückgebliebenheit fremder Kulturen gründlich zu unterminieren. Gründlich darf man hier ganz wörtlich nehmen. Auf Tausenden von Seiten tut der Heidelberger Ethnologe nichts anderes, als anhand eines gigantischen Quellenmaterials immer und immer wieder das eine zu belegen: dass geschlechtliche Scham und Peinlichkeitsgefühle in allen Kulturen anzutreffen sind. Von sexueller Freizügigkeit, gar Enthemmtheit in Stammeskulturen kann keine Rede sein. Eher gewinnt der Leser den Eindruck, den auch schon Freud hatte, dass dort strengste Regeln walten: Überwachung der Blickkontakte zwischen den Geschlechtern, Vermeidung sexueller Anzüglichkeiten und Aufreizungen auch bei knappster Bekleidung, Beachtung von Höflichkeits- und Rücksichtsvorschriften und Betonung der Privatsphäre. So legte man etwa im spätmittelalterlichen Europa höchsten Wert auf häusliche Intimität, was zur Konsequenz hatte, dass das Horchen an Wänden und Türen oder das "Peepen" durch die Fenster ins Hausinnere mit Strafe belegt wurde.

    Eine der zentralen Thesen Duerrs lautet denn auch, dass in den übersichtlichen Face-to-face-Gesellschaften das Maß an sozialer Kontrolle – d.h. der Druck, Scham- und Peinlichkeitsstandarde zu respektieren – sehr viel höher sei als in der anonymen modernen Gesellschaft.

    Interessant ist, dass Duerr im Fortgang seiner Untersuchung sukzessive die Perspektive verschiebt. Ging es ihm zunächst und primär um den Nachweis, dass die Eliassche Zivilisationstheorie auf argumentativen Fundamenten ruht, die einer näheren Überprüfung nicht standhalten, so drängte ihn seine Beweisführung gegen die Stichhaltigkeit der von Elias behaupteten These von der zunehmenden Trieb- und Affektkontrolle in der Moderne (die bei Elias unter dem Titel der "Psychogenese" einen prominenten Platz besetzt) immer mehr in Richtung der Annahme, dass in den westlichen Gesellschaften der Gegenwart die Entwicklung geradezu umgekehrt verlaufe. Um bei dem erwähnten Beispiel zu bleiben. Während in früheren Zeiten das "Peepen" als indiskret und unerlaubt galt, macht die moderne Peepshow das Intimste öffentlich. Duerr nimmt dies und vergleichbare Phänomene als starkes Indiz dafür, dass die Ermäßigung des sozialen Drucks auf die modernen Individuen auch eine Abschwächung der Triebmodellierung zur Folge habe.

    Nun haben Elias und seine Anhänger immer wieder klarzustellen versucht, dass die nicht zu leugnende Lockerung und Enttabuisierung vieler Lebensbereiche, etwa bei den Kleidungsgewohnheiten, wie man sie in den letzten Jahrzehnten beobachten konnte, die Zivilisationstheorie keineswegs widerlegen. Vielmehr verhalte es sich so, dass trotz aller unbestreitbaren Liberalisierungen ein psychisch erworbenes Set von mittelbaren und informellen Formen der Triebkontrolle als Filter funktioniere und so aggressiv-sexuelle Triebdurchbrüche wirkungsvoll eindämme. Dieser optimistischen Informalisierungsthese hält Duerr eindrucksvolle Fakten entgegen, wonach Gewalt und sexuelle Übergriffe in der Gegenwartsgesellschaft eher zu- als abnehmen.

    Spätestens hier hält der Leser inne. Denn ist es nicht vielmehr so, dass man sich eigentlich darüber wundern muss, dass in modernen westlichen Gesellschaften, in denen große Menschenmassen in urbanen Ballungsgebieten auf engstem Raum zusammenleben, Gewalt so verhältnismäßig selten vorkommt? Und dass trotz einer allgegenwärtigen aggressiven sexistischen Werbung, die an die bekannten "niederen Instinkte" appelliert, die Häufigkeit sexueller Übergriffe im Alltag eher gering ausfällt? Es ist nicht ohne Ironie, dass Duerr im Blick auf die moderne Zivilisation die Existenz ebenjenes "Phantomkleides" internalisierter sozialer Normen übersieht, dessen Ignorierung er der Elias-Schule im Blick auf frühere Zeiten und ferne Gesellschaften gerade vorwirft. Hätte Duerr nur ein etwas besser ausgebildetes Sensorium für die Tatsachen des kapitalistischen Lebens, so hätte er erkennen können, dass unbeschadet der aggressiven Dynamik des modernen Kapitalismus und der hässlichen und brutalen Seiten, die er freisetzt, die überwältigende Mehrheit der Menschen an elementaren Regeln des sozialen Miteinanders, d.h. an Standarden wie Scham, Rücksicht und Höflichkeit festhält. Gewisse Formate gewisser privater Fernsehsender darf man nicht mit den Tatsachen des Lebens verwechseln.

    Dieser Einwand soll freilich die große Leistung Duerrs keineswegs verdunkeln. Seit der Mythos vom Zivilisationsprozess abgeschlossen vorliegt, muss sich jede ambitionierte historische Soziologie und Kulturtheorie an diesem Werk messen lassen. Was die Lektüre bei aller wahrhaft erschlagenden Materialfülle gleichwohl vergnüglich macht, ist nicht zuletzt der Witz, mit dem der Ethnologe seinen Kontrahenten zu Leibe rückt, und der Sarkasmus, mit dem er en passant Theorien erledigt. Hans Peter Duerrs Opus magnum dürfte nicht nur ein herausragendes Exempel moderner Gelehrsamkeit sein, sondern auch eines der aufschlussreichsten Kapitel in den Annalen der modernen Wissenschaftsgeschichte.

    'Die Tatsachen des Lebens. Der Mythos vom Zivilisationsprozess’ von Hans Peter Duerr. Der 5. und letzte Band ist jetzt im Suhrkamp Verlag erschienen. Er hat 1018 Seiten und kostet 49.90 Euro.