Dienstag, 30. April 2024

Archiv


Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949. Vierter Band.

Im letzten Jahr hat Hans-Ulrich Wehler den vierten Band seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte vorgelegt. Auf fast 1200 Seiten beschreibt und analysiert der emeritierte Bielefelder Geschichtsprofessor den Zeitraum "Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten", also von 1914 bis 1949. Ursprünglich sollte dieser Band den Abschluss des 1987 begonnenen Editionsprojekts bilden und bis in die Jetztzeit reichen, doch Autor und C. H. Beck Verlag haben sich entschieden, die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR in einem fünften Band zu verselbständigen.

Moderation: Hermann Theißen | 26.01.2004
    Im Vorwort grenzt der Begründer der sozialwissenschaftlichen Schule in der deutschen Historiographie sich ab von konkurrierenden Gesamtdarstellungen deutscher Geschichte.

    Thomas Nipperdeys dreibändiges Werk sei geprägt von einer "erkenntnistheoretischen Resignation", zeichne grau in grau und versuche sich so um jedes Werturteil zu drücken.

    Heinrich August Winkler habe seine Interpretation des deutschen Sonderwegs entlang der Leitidee eines "langen Weges nach Westen" gezimmert, an dessen Ende die "Teleologie der Geschichte" im glorreichen Erfolg der Bundesrepublik münde.

    An Friedrich- Wilhelm Hennings dreibändigem "Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands" bemängelt der streitbare Historiker, es verzichte auf die Synthese von Wirtschafts-, Sozial- und Politikgeschichte.

    Genau darum geht es Hans-Ulrich Wehler in seiner Gesamtdeutung. Entlang der als gleichwertig angenommenen Achsen der Wirtschaft, der Sozialstruktur, der politischen Herrschaft und der Kultur will er den zweihundertjährigen Transformationsprozess von den agrarisch-aristokratischen Herrschaftsverbänden des ausgehenden 18. Jahrhunderts zum demokratischen, hochorganisierten Industriekapitalismus der Gegenwart darstellen und analysieren.

    Band 4 umfasst, wie gesagt, die erste Hälfte des kurzen 20. Jahrhunderts, reicht vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der dem Jahrhundert die Signatur gab, bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten, die den Ost-West Dualismus der neuen Weltordnung spiegelten.
    Die deutschsprachigen Zeitungen haben vornehmlich Großhistoriker mit der Kritik von Wehlers Buch beauftragt. In der Frankfurter Rundschau bemängelt Richard Evans zwar, Wehler habe zu sehr die Kontinuitäten in der deutschen Geschichte betont und überschätze das Ausmaß an Zustimmung, das die deutsche Gesellschaft ihrem Führer entgegengebracht habe. Doch am Ende bescheinigt der britische Nationalsozialismusforscher seinem Bielefelder Kollegen, er habe eine "Meisterleistung deutscher Geschichtsschreibung" vorgelegt.

    Auch der Freiburger Historiker Ulrich Herbert bezeichnet in seinem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung Wehler als "Meister der strukturierten Problemanalyse", dem es wie keinem zweiten Historiker deutscher Sprache gelinge, "komplizierte historische Problemlagen präzise und kühl auf die zugrundeliegenden Kernfragen zurückzuführen". Dennoch bemängelt auch Herbert, Wehlers These von der Übertragung des Bismarck-Kults auf Hitler sei so nicht haltbar, und insgesamt sei die Überzeugungskraft von historischen Gesamtinterpretationen begrenzt.

    Hans Mommsen schließlich führt in der Neuen Zürcher Zeitung die funktionalistische Deutung des Nationalsozialismus gegen Wehlers personalisierende Thesen ins Feld. So ortet beispielsweise Wehler den Übergang zur Massenvernichtung in einem Führerbefehl, den er auf das Frühjahr 1942 datiert, während Mommsen auf seiner These von der "kumulativen Radikalisierung" beharrt, die den Holocaust auch ohne spezifische Anweisung Hitlers ausgelöst habe.

    Jedenfalls hat Wehler mit seiner Deutung wesentliche Impulse zu der von Martin Broszat und anderen geforderten "Historisierung des Nationalsozialismus" geleistet, und die Frage nach diesem forschungs- und geschichtspolitischen Programm war auch der Ausgangspunkt eines Gesprächs, das ich mit Hans-Ulrich Wehler über den vierten Band seiner Gesellschaftsgeschichte und über dessen Rezeption geführt habe.

    Hans-Ulrich Wehler: Worum es mir ging bei diesem Anschluss an das Plädoyer von Broszat und anderen, den Nationalsozialismus zu historisieren, das war Folgendes: Dass man den Nationalsozialismus nicht als den Einbruch des schlechthin Bösen, und dann auch noch verkörpert durch so einen importierten Österreicher, zu verstehen hat, der sich über die im Kern heile deutsche Gesellschaft hergemacht und sie korrumpiert habe, sondern dass man soweit wie möglich erst mal dem Anspruch der Geschichtswissenschaft gerecht wird, eine Konstellation als eine Vorbedingung zu erklären, und da spielen natürlich dann von außen auferlegte Bedingungen wie die Niederlage 1918, Versailles, die Reparationen spielen eine Rolle, aber vor allem geht es um die Bedingungen in der Gesellschaft selber mit ihrer Neigung, nicht auf demokratische Institutionen zu vertrauen, sondern lieber auf eine überragende Persönlichkeit. Der Ruf nach dem zweiten Bismarck. Und dann unbedingt die verletzte Ehre der Nation wieder reinzupolieren und herzustellen und es noch einmal zu versuchen im Ringen der Mächte.

    Das sind alles innenpolitische Entwicklungen, und wenn man dann versucht, den Nationalsozialismus zuerst einmal konsequent aus diesen Bedingungen zu verstehen, dann kommt man nach meinem Eindruck - so habe ich es ja auch beschrieben - doch ziemlich weit damit, ihn von daher auch zu erklären und nicht als ein von außen aufgedrängtes böses Schicksal, das Schlüsselloch, was dann von manchen oft gebraucht wird, das Verstricktsein, man wird verstrickt durch eine anonyme Macht in etwas, was man eigentlich gar nicht wollte. Und insofern, glaube ich, war das Plädoyer von Broszat berechtigt, den Nationalsozialismus nicht als so einen erratischen Block auf dem Weg der deutschen Geschichte, unverständlich und bedrohlich und durch noch so viel politische Pädagogik auch nicht zu erklären, zu verstehen, sondern dass man zunächst einmal ganz nüchtern rangeht und aus den innerdeutschen Bedingungen zu erklären versucht, wie es zu diesem Regime und seiner Akzeptanz und den Konsens, dass Hitler doch eigentlich ein erstaunlich erfolgreicher Politiker war, jedenfalls bis 42, von daher an das Phänomen heranzugehen.

    Hermann Theißen: Hitler ist bei der Erklärung des Nationalsozialismus für Sie die entscheidende Figur, und Sie bezeichnen ja auch die NSDAP zumeist als Hitler-Bewegung und sagen, dass das Charisma Hitlers eine der wesentlichen oder die wesentliche Voraussetzung für den Aufstieg der NSDAP war und auch für die Durchsetzung der nationalsozialistischen Politik. Für uns Nachgeborene ist es schwer nachzuvollziehen, wie dieser kleine, hölzern wirkende Mann mit seiner furchtbaren Rhetorik Charisma haben konnte. Was war die Kraft, die dieses Charisma ausgebildet hat?

    Hans-Ulrich Wehler: Also, erst mal ist der Begriff "Hitlerbewegung" der Eigenname der Partei. Seit 1928 steht auf den Wahlscheinen nicht NSDAP, sondern man wählt "Hitlerbewegung". Und damit erkennt die Partei an, welche Rolle Hitler für sie spielt, und sie lässt sich auch von der Welle der eigenen Propaganda dahin tragen. Ich glaube, dass es immer in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg die Möglichkeit gab, in der politischen Kultur eine autoritäre Partei mit antisemitischen Zügen aufzuziehen, wenn man so will, wie das in Frankreich, in Polen und anderswo auch der Fall ist. Aber das ist etwas anderes als diese Partei, die dann sozusagen die Stärke von mehreren Millionen erreicht und Wahlen seit 1930 in einem atemberaubenden Ausmaß gewinnt.

    Und da ist Hitler, wie ich meine, eine Schlüsselfigur. Und warum? Hitler kommt ja als ein österreichischer Asozialer auf der Flucht vor dem österreichischen Militärdienst nach München, geht aber dann begeistert in den Ersten Weltkrieg und kommt als ein anonymer Gefreiter zurück. Obwohl wegen der riesigen Verluste ständig Lehrgänge für Unteroffiziere und Offiziere liefen, ist keiner auf den Gedanken gekommen, diesen Meldegänger, der im gewöhnlichen Sinne auch durchaus tapfer war an der Front, für so etwas vorzuschlagen. Und nun kommt er da als Spitzel der entstehenden Reichswehr in München in Berührung mit dem, was wir so neue rechtsradikale Kreise nennen, und entdeckt einfach etwas, was seinen Kameraden an der Front auch schon aufgefallen war, er kann reden. Er kann stundenlang reden und hat ein Sensorium auch dafür, was sein Publikum hören will. Zuerst sind es 40, dann 400, dann sind es Tausende in den großen Biersälen, und nach kurzer Zeit sagt einer der bedeutenden Münchener Historiker, das ist ein Wunderkind an rednerischer Begabung, den die Reichswehr da entdeckt hat. Und Hitler weiß das und wuchert mit diesem Pfund, und das führt dann dazu, dass er nach relativ kurzer Zeit - also Hitler ist der erste Fall eines bedeutenden deutschen Politikers, der nicht aus den Machteliten kommt und den Funktionseliten, sondern aus dem untersten Kleinbürgertum in Österreich in einem anderen Land aufsteigt. Und nach einer im Grunde relativ kurzen Zeit ist Hitler imstande, bei den Wahlkämpfen am Tag sechs, sieben Reden von jeweils einer halben Stunde zu halten, indem er als erster mit dem Flugzeug einfliegt und wie ein Halbgott von oben einfliegt und dann aber wirklich große Massen fasziniert und in Bewegung setzt.

    Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Politiker damals, ob Stresemann oder Hugenberg, die stehen alle noch im schwarzen Anzug, meistens mit Zylinder, bei kühlem Wetter im dunklen Mantel und redeten in gesetzten, ruhigen Worten. Und da kommt jemand, der in einer alten Uniformjacke seinen Hass herausschreit in einer Form, wie man das überhaupt in der Politik noch nicht erlebt hat. Viele Leute gehen zu den ersten Hitler-Reden, um dieses Unikum zu beobachten. Das ist ein Talent für die Politik, wie sich herausstellt.

    Das zweite ist, was manche Historiker nicht anerkennen, weil sie zu früh Hitler als politischen Kriminellen und welthistorischen Verbrecher abstempeln, dass Hitler eine ausgeprägte - ich sage das mal etwas abstrakt - sozial-kommunikative Begabung und Kompetenz besessen hat. Er konnte in relativ kurzer Zeit widerstrebende Großindustrielle, selbstbewusste Männer, auf seine Seite ziehen, er konnte immer wieder die hochtrainierten, sehr nüchternen Generäle und Stabsoffiziere des Generalstabs vor dem Einmarsch in das Rheinland, vor dem Einmarsch in Österreich, vor dem Polen-, vor dem Frankreich-Krieg umdrehen. Das heißt, man muss zunächst mal erklären, mit welchen Talenten, wie gräulich sie dann auch missbraucht worden sind, Hitler es geschafft hat - da führt kein Weg dran vorbei - der erfolgreichste deutsche Berufspolitiker zwischen etwa 1930 und 42/43 zu werden. Mit Erfolgen, die Millionen in das Verderben geführt haben, aber gemessen an seinen Zielen, ist das verblüffend, was dieser Mann, der sozusagen aus dem Nichts aufstieg, erreicht.

    Und zu den Wahlerfolgen und zu dem, wie ich ja glaube, weitreichenden Konsens in den Friedensjahren von 33-39, dass dieser Mann ein ganz ungewöhnlicher Politiker, geradezu ein neuer Messias und neuer Bismarck der Deutschen sei, gehört, dass ihm so vieles glückt. Und ich habe ihm eine deutliche Spitze gegen die ältere Vorstellung gegeben, dass das alles nur durch Terror möglich gewesen ist. Es ist ja ganz unleugbar, da wäre ich ja der Letzte, der das leugnen würde, dass Hitler mit brutalem Terror die linken, die republiktreuen, die jüdischen Deutschen verfolgt hat, gnadenlos, dass er Pogrome inszeniert hat, wenn er auch nicht damit identifiziert werden wollte. Das ist ja alles wahr. Aber das sind ja außer den Hunderttausenden, die da diskriminiert und schon vertrieben wurden, da sind ja dann immer noch 30 Mio andere Erwachsene.

    Und meine Vermutung, die ja manchen ärgert, ist ja die, dass Hitler nach dem Anschluss Österreichs, als der Großdeutsche Traum in Erfüllung ging, oder nach dem Frankreichfeldzug bei freien Wahlen eine erdrückende Mehrheit bekommen hätte. Dem muss man sich stellen. Und das ist eben nicht ein Ergebnis von Terror, sondern da wurden sehr tiefsitzende Wünsche der Deutschen, die in ihrem Ressentiment unter der Niederlage und der Zweitklassigkeit nach 1918 litten, die wurden da befriedigt. Und nicht der Antisemitismus oder so, sondern das ist ein klassischer, gekränkter, traumatisierter Nationalismus, der dadurch befriedigt wird.

    Hermann Theißen: Aber Sie betonen die Bedeutung der Person Hitler und seines Charismas derart, dass ich mich beim Lesen gefragt habe: Wenn es Anfang der Dreißiger Jahre ein erfolgreiches Attentat gegen Hitler gegeben hätte, wäre dann der Nationalsozialismus ausgefallen?

    Hans-Ulrich Wehler: Der Nationalsozialismus wäre regregiert, zurückgeschrumpft auf das Format einer rechtskonservativen Partei mit antisemitischen Kadern, aber ohne die Möglichkeit, in Frage zu kommen für die Machtübergabe, so wie das dann die Vertreter der Machteliten in dem Winter 32/33 mit Hilfe Hindenburgs usw. praktiziert haben. Alles läuft darauf hinaus, dass Hitler diese von ihm selber und von der Partei, das ist ja alles geschenkt, dass Goebels getan hat, was er konnte, hochstilisierte Rolle als Messias der Deutschen gespielt hat, und ohne diese Führungsfigur war die Partei ein Sammelsurium von bayrischen Rechtsradikalen und norddeutschen Antikapitalisten, also ein ganz heterogener Verein, der zusammengehalten wurde zunächst einmal im Inneren durch die Führerdiktatur über die Partei, und dann ist es - wenn man es so sehen will - der politische Erfolg Hitlers, dass es ihm gelingt, die Herrschaft über die Partei auszudehnen auf den Staat. Ganz gewiss mit Hilfe von Terror und Gestapo und allen Möglichkeiten, die ihm nun mit der Staatsgewalt zur Verfügung standen, aber auch durch eine für die Deutschen damals ganz ungewöhnliche Serie von innen- und außenpolitischen Erfolgen.

    Also denken Sie mal an die große Legende, die deutsche Arbeiterschaft überwiegend links in den Wahlen, lange Zeit organisiert in der größten Arbeiterpartei der Welt, sei resistent geblieben. Ja, aber diese Männer und Frauen hatten schreckliche Politarisierungserfahrungen im Ersten Weltkrieg, in der Inflation und dann in der mörderischen Weltwirtschaftskrise 1929 hinter sich, und da sind 8,5 Mill. Arbeitslose in Deutschland. In jeder Familie einer, jeder dritte Erwerbstätige ist arbeitslos, ohne eine Arbeitslosenversicherung. Die erfasst fast nur 700.000 Menschen.

    Und da schafft Hitler, indem er die Rüstungswirtschaft anwirft, das haben die aber nicht so genau sehen können, schafft er die Vollbeschäftigung. Und da können Sie in den vertraulichen und geheimen Berichten, die die alten SPD-Genossen an die Führung im Exil schicken, diese sogenannten SoPaDe-Berichte, da können Sie sehen, wie es sich im Betrieb verändert und wie das bröckelt, die Skepsis gegenüber Hitler, und dann auf einmal 35/36 dann heißt es: In unserem Betrieb sind alle der Meinung, dem Führer gelingt alles, und dann kommen die Olympischen Spiele, und dann kommt die Rheinlandbesetzung, und dann kommt Österreich, und dann heißt es, der Führer ist größer als Bismarck. Und wir können nichts mehr dagegen machen, sagen dann die alten Recken. Und da sind auch Verschiebungen in den Wählerschichten und sozialen Klassen, die vorher wirklich eine Distanz gegenüber den Rechtsradikalen hatten. Und das muss man zunächst erklären können, und da führt kein Weg dran vorbei, dass man sich wieder neu Hitler zuwendet und seiner Rolle.

    Hermann Theißen: Sie haben es gerade gesagt: Hitler ist bei Ihnen und Sie sagen auch für die Bevölkerung so was wie die Reinkarnation von Bismarck, lange ersehnt, und das Deutsche Volk habe eine große Sehnsucht nach dem starken Mann gehabt, und genau dazu schreibt beispielsweise ?Richard Evans in seiner Kritik, das sei nichts anderes als ein Rückgriff in ein Klischee, und interessanter finde ich, was Ulrich Herbert schreibt, der Freiburger Historiker, er sagt: Wenn man in eine vergleichende Perspektive geht, Lenin, Stalin in der Sowjetunion, Mussolini in Italien, dann könnte man unter Umständen sehen, dass diese Führersehnsucht mehr eine europäische Gemeinsamkeit war, als eine deutsche Besonderheit.

    Hans-Ulrich Wehler: Also, ich kenne diese Argumente. Das Problem ist, dass es in der Zwischenkriegszeit in Europa sehr wenige Demokratien gibt, die sich unter dem Druck der Umstände als überlebensfähig erweisen. Es sind England, aufs Ganze gesehen Frankreich, trotz Volksfront, und die Skandinavischen Länder. Eine Zeitlang bis 34 noch Österreich und eine Zeitlang auch die Tschechoslowakei. Überall anderswo kollabieren die demokratischen Regime, und da kommen die starken Männer. Pilsudski in Polen, natürlich relativ früh Mussolini in Italien. Also der Ruf nach dem starken Mann, der diese außergewöhnliche Krisensituation meistern soll, denen angeblich die etablierten politischen Institutionen nicht gewachsen sind, der ist sehr stark.

    Aber das ist etwas anderes, in dem Augenblick, wo man es mit einem Mann wie Hitler zu tun hat. Auch Mussolini, der ja lange Hitlers Vorbild ist, nach dem Marsch auf Rom, und gerne liest Hitler in Münchner Zeitungen 22/23, wir haben einen bayrischen Mussolini, und die Partei greift das auch sofort auf. Aber Mussolini ist ja ein Mann, der mit einem Machtkartell regiert und nicht regieren kann ohne Zustimmung des Königs und des Militärs und zumindest auch die stillschweigende Duldung des Vatikans, mit dem er sich in den Lateralverträgen einigt. Und in dem Augenblick, wenn ihm das Vertrauen entzogen wird, wie 43, dann bricht er zusammen und sein Regime.

    Und da ist Hitler eine ganz andere Figur, wie er eine europäische Großmacht umorganisiert nach seinen Vorstellungen und wie er im Stande ist, viele zu entfesseln, gegen Polen, gegen Frankreich und schließlich den mörderischen Krieg gegen die Sowjetunion. Das ist etwas ganz anderes, als wenn ein alter, nach rechts abgedrifteter Sozialdemokrat wie Pilsudski für Polen in der schwierigen Situation nach der Neugründung versucht, das Land einigermaßen etwas zu modernisieren, aber das ist etwas ganz anderes als der Weltkrieg, den Hitler nahezu sechs Jahre lang durchführt.

    Hermann Theißen: Und der Vergleich mit der sowjetischen Führerdiktatur führt auch nicht weiter?

    Hans-Ulrich Wehler: Ja....

    Hermann Theißen: Der Leninkult beispielsweise hat ja zeitweise auch erstaunlich gut funktioniert. Und war durch große Zustimmung geprägt.

    Hans-Ulrich Wehler: Also ich glaube ja nicht, dass Russland zu Europa gehört, aber wenn wir jetzt mal so tun, wegen der Nachbarschaft, dann gibt es ja Historiker, die der Meinung sind, dass Lenin so vom Winter 17/18 bis 22 auch charismatische Züge besessen habe, weil er mit einer auch imponierenden Durchsetzungsfähigkeit in einem Land, in dem zunächst gar nicht sicher war, nachdem die Bauern sich empört hatten, ob die Städte umkippen würden und das ganze System des Zarismus wirklich fallen würde. Dass es ihm da gelingt, das umzubauen in eine Föderation von Sowjetrepubliken, das lasse ich mal dahingestellt, da habe ich auch kein eigenes Urteil, weil ich die Sprache nicht beherrsche und mir das immer nur von außen anlesen muss. Und Stalin ist eine Diktatur, die Alan Bullock, der Verfasser der ersten imponierenden Hitlerbiographie, nach dem Krieg 1952, fast vierzig Jahre später hat er dann eine Doppelbiographie von Hitler und Stalin geschrieben und versucht, dass zu parallelisieren.

    Der Stalinkult versucht auch Stalin diesen Nimbus des Übermenschen zu verleihen, aber Stalins Wirkung beruht nicht auf Rhetorik und beruht nicht auf sozialer Kompetenz, sondern die beruht auf der Kontrolle des Apparates, auf der Kontrolle der Terrorinstrumente und der rücksichtslosen Liquidierung aller, die er zu Recht oder die er zu Unrecht verdächtigt, sie seien Oppositionelle. So dass im Augenblick des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion die Rote Armee gerade mehr als die Hälfte ihrer Offiziere in einer großen Säuberung verloren hatte, weil er in seinen aberwitzigen Vorstellungen geglaubt hatte, da balle sich eine Opposition gegen ihn zusammen. Ein Teil der schlimmen Niederlage im ersten Jahr in Russland hängt damit zusammen. Das ganze Offizierskorps in den Einheiten fehlte. Also, das scheint mir nicht eine charismatische Figur zu sein, sondern ein Diktator wie es sie auch früher gegeben hat. Es gibt natürlich Charismatiker, die sind auch als Menschen und auch von den Leistungen her sehr imponierend. Man müsste das mal vergleichen mit Napoleon und Bismarck.

    Mit Bismarck habe ich das versucht, aber Napoleon würde sich auch eignen. Das sind aber auch Menschen, denen man Sympathien nicht versagen kann für ihre Leistungen, auch wenn man dann ihre Schwächen sieht: Napoleon mit seinen Feldzügen und was Bismarck im Inneren für Unheil angerichtet hat, während Hitler als Mensch absolut abstoßend und uninteressant ist, Aber in seinen politischen Fähigkeiten bis zum Schluss einen Einfluss hat, den die neuere Forschung, die sich nun zu Recht, wie ich finde, auf anfällige Generationen, wie das Ulrich Herbert getan und der Michael Wildt mit der Untersuchung "Das Reichssicherheitshauptamt", geworfen hat, um zu sehen, welche Trägerschichten der Diktatur sind denn überhaupt willens und von vornherein bereit, so zu kooperieren. Aber dann entsteht eine Leerstelle, weil sie sich nicht mehr um den Diktator selber kümmern, auf den das System hingezimmert war. Und ich habe ja eine Anekdote dann auch berichtet: Ganz am Schluss, da beschießen die Russen schon den Bunker, und da ist Göring abgesetzt, und sein Nachfolger, ein Ritter von Grein, der sagt: Man muss das Hitler einfach sagen, dass es vorbei ist. Keiner will das. Und er findet keinen Piloten mehr. Und die Hannah Reitsch, eine gläubige Nationalsozialistin und Kunstfliegerin, die fliegt ihn hin unter dem Artilleriebeschuss, ein abenteuerlicher Flug. Und sie sagt: Ich warte, wenn ich nicht getroffen werde. Und da geht er rein, kommt nach zwei Stunden mit hochrotem Gesicht raus und sagt: Der Führer hat Recht. Die Wunderwaffen kommen, wir müssen nur noch die letzte Zeit durchstehen. Da kann man natürlich sagen, diese Männer sind alle irgendwie beschränkt, aber ich glaube, dass es noch mal ein Ausläufer der Wirkung Hitlers aus den vergangenen Jahren war, die sich da so angehäuft hatte. Auch bei Speer ...

    Hermann Theißen: Das generalisieren Sie auch. Sie sagen: Auch nach Stalingrad wirkte das Charisma von Hitler weiter und war mit dafür verantwortlich, dass es Motivation an der Front gab. Gleichzeitig sagen Sie an einer anderen Stelle: Nach Stalingrad fing so etwas an wie eine Entnazifizierung, eine schleichende Entnazifizierung. Die Leute verabschiedeten sich langsam von Hitler, was dann auch ein Glück für die junge Bundesrepublik war. Aber wie gehen diese beiden Prozesse zusammen?

    Hans-Ulrich Wehler: Ja, die Geschichte ist nicht stromlinienförmig oder hat nur ein Flussbett. Es erodiert sozusagen dieser übermäßige Messiasglaube, nachdem man zur Kenntnis nehmen muss, dass eine Armee von 250.000 Mann, von der wir ja wissen, 5.000 nur überlebt haben, 90.000 in Gefangenschaft, 85.000 sterben in Gefangenschaft noch. Das sickert so allmählich in das Bewusstsein, insofern ist das ein Wendepunkt. Aber das Erstaunliche ist dann: Erst danach, im Sommer 43, sind die deutschen Armeen auf der Krim, am Kaukasus, der ganze Süden Russlands ist erobert mit dem Industriebecken, Rommel steht 6 km vor Alexandria, ehe er zurückgeschlagen wird.

    Die U-Boote sind so gefährlich, dass der amerikanische Generalstabschef, der spätere Außenminister Marshall, sagt: Noch ein paar Wochen, und wir müssen den europäischen Kriegsschauplatz abschreiben, wir sind dem nicht gewachsen. Die schießen uns jeden Monat 800.000 Bruttoregistertonnen ab, und dann müssen wir eben nur gegen Japan kämpfen. Das ist eine ganz diffuse und schwierige Situation, wo äußerlich gesehen die Macht dieser deutschen Militärmaschine noch keineswegs gebrochen ist. Es ist ja überhaupt eines der größten Probleme, warum letztlich eine Mittelmacht im Stande war, fast sechs Jahre gegen die ganze Welt diesen Krieg zu führen. Und das ist nach Stalingrad nicht vorbei. In der Bevölkerung selber wächst aber die Unsicherheit. Man bleibt aber immer noch unruhig, dass man sagt: Na ja, Hitler ist aber der einzige, der uns aus dem Schlamassel überhaupt rausholen kann. Er ist nicht mehr der glänzende Charismatiker, aber der kann es. Und dann gibt es eben bedrückende Belege, als das Attentat scheitert, ergibt die Untersuchung der Feldpostbriefe, dass 75 - 80 Prozent leidenschaftlich gegen die Attentäter optieren und sagen: Der Führer, den uns Gott erhalten hat, ist doch der einzige, der und so. Also das ist eine merkwürdige Wirkung, und in dem Augenblick, wo der Krieg vorbei ist, da konnten sich viele Menschen auch nicht mehr vorstellen, wie sie dieser Wirkung erlegen waren.

    Hermann Theißen: War das alles auch, das deuten Sie zumindest an, die Angst davor, das Gefühl, ich bin mitverantwortlich für das, was wir hier alles anstellen. Die Strafe wird ganz furchtbar sein, und von daher müssen wir so lange an den Führer festhalten und auf ihn vertrauen. War das auch eine verzweifelte Selbstverteidigung?

    Hans-Ulrich Wehler: Ja, das gibt es bestimmt. Also an der berühmten Ostfront, da wussten Hunderttausende, letztlich Millionen von Soldaten, was sie beim Vormarsch und Rückzug angerichtet hatten, an verbrannter Erde, an Liquidierung von zweieinhalb Millionen Gefangenen in ganz kurzer Zeit, an Zerstörung von Städten - und dann auf dem Rückweg ja wirklich buchstäblich noch mal die verbrannte Erde. Und das motiviert dann auch einen Teil ihres Widerstandswillens, der eigentlich ja erstaunlich ist. Bis zuletzt, wenn da die Rache Deutschlands erreicht, dann wird es ganz fürchterlich. Und dann ist ja oft in den Briefen, die ja sozusagen ungekünstelt an Familienangehörige geschrieben werden: "Und dann ist eben doch der Führer der einzige, der uns da noch retten kann." Das ist noch einmal dieser verzweifelte Glaube: Der Mann war doch bisher so oft erfolgreich, auch dieser Glaube an Wunderwaffen, also Jüngeren kommt der kindisch vor. Der ist doch so tief verwurzelt, dass es doch noch mal gelingen könnte, so wie er sich früher aus mancher Schlinge herausgezogen hat, und ich glaube auch, dass sozusagen die Leistungsfähigkeit in der erfolgreichen Zeit der Wehrmacht zum Teil mit diesem fanatischen Führerglauben zusammenhing.

    Denn nichts ist erfolgreicher als immer neue Erfolge, bis die Front vor Moskau zum Stehen kommt. Und dann muss man sich klarmachen, dass das gesamte Offizierskorps umgebaut wird nach Hitlers eigenen Richtlinien, nach den riesigen Verlusten im ersten Jahr in Russland. Am Ende, glaube ich, gibt es 280.000 Offiziere, und davon sind 200.000 nach Richtlinien von Hitler ernannt worden, und nicht mehr Abitur und Kooptation durch das Regiment, sondern sechs Jahre HJ, Frontbewährung, Tapferkeitsauszeichnung und dann hoch. Und dieses Offizierskorps ist bis zum Schluss loyal.

    Hermann Theißen: Ihr Buch setzt ja an 1914 mit dem Ersten Weltkrieg. Sie beschreiben den Ersten Weltkrieg, Sie beschreiben die Erfahrungen, die im Ersten Weltkrieg gemacht wurden, die Brutalisierungen, die dann auch Auswirkungen hatten für all die Jahre danach, Modernisierungsschübe, aber was Sie mehr als andere herausstellen, ist der Ostkrieg. Welche Bedeutung hat dieser Ostkrieg für die weitere Entwicklung gehabt?

    Hans-Ulrich Wehler: Das Erstaunliche an dem Ostkrieg ist: Er entzündet die deutsche Phantasie. Zum Beispiel in der 3. Obersten Heeresleitung, um Hindenburg und Ludendorff, in den starken und großen Interessenverbänden, das sei die Gelegenheit, ein großes Ostimperium aufzubauen, und die deutschen Kriegsziele sind von Anfang an eigentlich aberwitzig im Osten. Annexion eines riesigen Territoriums, davor ein Gürtel von Satellitenstaaten unter deutschen Fürsten, und dann konnte man die slawische Flut gewissermaßen eindämmen.

    Nun kommt die Revolution im Frühjahr 17 und dann die radikalere Zeit im Oktober, und auf einmal scheidet Russland aus. Und dann wird Russland gezwungen, unter den Bolschewiki schon mit Deutschland einen Frieden zu schließen, Brest-Litowsk, der ist ganz ultimativ und verlangt von Russland aberwitzige Gebietsverluste. Es verliert 90 Prozent seines ganzen industriellen Reservoirs. Das haben die Deutschen ganz schnell vergessen, nur noch über Versailles gejammert. Mit großer Zustimmung, selbst die SPD traut sich nicht, dagegen zu stimmen. Im Reichstag wird dieser Frieden geschlossen, und dann entschließt sich Ludendorff, unterstützt von einer breiten Öffentlichkeit, zu einem zweiten Russlandkrieg, der im deutschen historischen Gedächtnis, wie ich finde, nicht mehr da ist. Das heißt, die Faszination, durch einen neuen Ostkrieg ein gewaltiges Imperium mit einem abhängigen Vorland aufzubauen, diese Faszination ist so stark, dass sie sich über ein - also ich würde schon sagen - ganz normales militär-strategisches Kalkül, wir brauchen jetzt alle Kräfte im Westen, hinweg setzt. Denn dass die Russen nicht mehr kämpfen wollten, das hatten Trotzki und Lenin immer wieder klargemacht, das ist auch nicht passiert. Insofern ist dieser Ostkrieg, wie ich meine, in allen Darstellungen unterschätzt worden, denn für die Generation Hitlers - darauf will ich ja hinaus - ist dann der zweite Ostkrieg nicht mehr so etwas phantastisch Neues. Da sind Hunderttausende von Soldaten schon gewesen.

    Hermann Theißen: Sind da auch konkrete Hoffnungen: Das ist Land, das wir besiedeln können. Das ist eine Erwerbsmöglichkeit.

    Hans-Ulrich Wehler: Ja, das wird ja schon im Ersten Weltkrieg in Aussicht gestellt, das soll germanisiert werden. Sozusagen diese Fata Morgana, dass da im Osten ein riesiger Raum warte, unter deutsche Hegemonie gestellt zu werden, und dass, wenn man den habe, das ist dann der Traum nach 1918. Wenn man den habe oder gehabt hätte, dann kann man einen Weltkrieg gewinnen, dann hat man so riesige materielle Ressourcen, Getreidevorräte, Erz, Kohle, alles, was da unten im Donbas in Süd-Russland war, dann kann man gegen die verbleibenden Weltmächte - die Vereinigten Staaten, England und Japan - kann man das durchstehen. Und das schien mir bisher unterschätzt worden zu sein, deshalb habe ich diesen verdrängten Ostkrieg, den es im Frühjahr 1918 noch mal gegeben hat, bis die Bolschewiki sagen: Ja, ja, wir akzeptieren alle Bedingungen, nun mal Schluss mit dem Krieg. Deshalb habe ich das so betont.

    Hermann Theißen: In seiner Kritik zu Ihrem Buch schreibt Hans Mommsen, bezogen auf die Weimarer Republik: Das ist alles zwar ganz interessant, was der Kollege Wehler da schreibt, aber im Großen und Ganzen macht er auch nichts anderes, als die Weimarer Republik zu erklären als Strangulierung durch die beiden totalitären Bewegungen, durch die Kommunisten und die Nationalsozialisten. Fühlen Sie sich da richtig beschrieben?

    Hans-Ulrich Wehler: Am Schluss spielt bei den Wahlkämpfen, als es der KPD gelingt, fast alle Arbeitslosen, vor allem die Dauerarbeitslosen, auf ihre Seite zu ziehen, das packt die SPD nicht mehr, dieses Wählerpotential. Und als es der NSDAP gelingt, der Hitler-Bewegung, tief in die bürgerlichen Städte, in die ländliche Gesellschaft, in den gesamten protestantischen Lebensbereich einzubrechen und vor allem die Jungwähler von 30 bis 32 und die bisherigen Nicht-Wähler zu gewinnen, das sind die großen Becken, aus denen dann die Wählerströme fließen in das neue Lager der Hitlerbewegung, wird das von den Zeitgenossen als ein großes Duell verstanden und von z.B. bürgerlichen, bäuerlichen Wählern auch als ein bedrohliches Duell, weil die KPD zeitweilig relativ noch schneller gewachsen war als die NSDAP. Aber ich finde nicht zutreffend, wenn da behauptet wird, ich reduzierte das auf dieses Duell. Es gibt eine Fülle von restriktiven Bedingungen, von denen sich die Weimarer Republik nicht befreien kann.

    Hermann Theißen: Und in Ihrem Buch scheint mir die kommunistische Gefahr - zumindest am Anfang der Weimarer Republik - viel geringer zu sein als in vielen anderen Darstellungen. Also wenn ich Sie richtig lese, dann hätte es 1918 die Chance gegeben, Eliten zu wechseln und durchgreifende Reformen zu machen. Haben da die Sozialdemokraten schon versagt?

    Hans-Ulrich Wehler: Ja, das ist die berühmte Frage. Sebastian Haffner hat sogar mal gesagt: Haben die Sozialdemokraten die Revolution verraten? Also ich glaube, dass die Sozialdemokraten Kinder des Kaiserreiches waren, eines Landes, in dem sie glaubten, allmählich durch Reformen das Land verändern zu können. Allmählich, wie auch Friedrich Engels ihnen prophezeit hatte, wird der Genosse Trend auf eurer Seite marschieren, würden wir heute sagen, sozusagen das politische System zu verändern. Aber es sind ganz und gar unrevolutionäre Charaktere alle, die damals eine Rolle spielen, und die Ausnahmen kommen von außen, also Rosa Luxemburg, die wirklich ein Revoluzzer-Temperament hatte, die kommt aus dem russisch-polnisch-jüdischen Milieu. Und ihre Freunde sehr oft auch. Während im russischen Reich unter dem Zarismus eine wirklich latent-revolutionäre Situation ist, 1915 explodiert es ja zum ersten Mal, und da wird ein Typus von radikalen Intellektuellen herangezogen, diese berühmten Vertreter der Intelligenzija, wie Lenin, Trotzki, Kamenew, Sinowjew und wie sie alle zu Hunderten heißen, die der Meinung sind, das System ist nicht mehr reformierbar.

    Das muss im Sinne unserer Heilslehre umgebaut werden, ganz gleich, wie hoch die Opfer ausfallen. Und davon finden Sie keinen in der SPD. Wohl aber beobachten die führenden Sozialdemokraten sehr genau, was sich in Russland getan hat, nämlich dass in der ersten - sagen wir mal - noch liberalen Revolution Kerenski an die Spitze tritt, der dann nach ganz kurzer Zeit in einer Art Staatsstreich-Situation von den Bolschewiki gekippt wird. Und vor nichts haben diese wackeren Sozialdemokraten mehr Angst, als dass sie, die unter diesem Kerenski-Schock stehen, darüber reden sie in den Tagebüchern und Briefen immer wieder, dass sie, wenn sie nicht ganz vorsichtig sind, von links gekippt werden, weil sie doch aus der eigenen Partei die Opposition der Unabhängigen, die USPD-Leute, hatten entlassen müssen, und dann war die Räte-Bewegung nur als Bedrohung wahrgenommen worden von links. Das ist das eine.

    Auf der anderen Seite haben sie - wie ich finde - ein relativ realistisches Kalkül, dass man in einem Land nach einem mehr als vierjährigen Weltkrieg gegen die zahlreichen bewaffneten Einwohnerwehren und Freikorps und verbleibenden militärischen Verbände einen wirklichen Bürgerkrieg nicht gewinnen kann. Ich glaube auch, sie hätten ihn verloren. Also ich glaube, dass das leicht überschätzt worden ist, auch in der Diskussion der 60er Jahre, dass es sozusagen keinen dritten Weg gegeben hat. Es hat eh nur den kompromissbeladenen Weg, den man tatsächlich gegangen ist, einen zweiten Weg, sozusagen Bolschewiki und Räteherrschaft, ist ganz utopisch. Das habe ich auch mit aller Schärfe da gesagt, das sind sozusagen Gespenster und Halluzinationen, diese winzigen Kreise der damaligen KP waren überhaupt nicht fähig, sich durchzusetzen. Und dann ist es sozusagen ein edler Wunschtraum, sich zu wünschen: Hätten doch bloß die Sozialdemokraten damals mehr riskiert, Bürokratie-Reform, Großagrarier einer Agrar-Reform unterworfen, die stockkonservative Schwerindustrie in Gemeineigentum überführt, aber dann war man immer genau über die Reizschwelle, die den Widerstand der anderen auslöste, um den standen die bewaffneten Kräfte zur Verfügung. Und das Schlimme ist eben, man muss mit einer gewissen Resignation ...

    Es gibt so komplizierte Situationen wie 18/19, für die ist die im Nachhinein wünschenswerte Lösung damals nicht möglich, da kommt so eine Art fatalistischer Grundzug auch in das Argument, weil die Menschen die Grenzen, die ihnen gesetzt waren, nicht überschreiten können. Ebert sagt mal in einem Gespräch: "Ich hasse die Revolution wie die Pest und wie die Sünde, und wir tun alles, um sie zu vermeiden." Ja, so spricht nicht jemand, der radikalere Formen mit großem Risiko einleiten will, und Ebert ist noch derjenige, der unter den Sozialdemokraten am durchsetzungsfähigsten ist. Also kommt auch viel auf sein Urteil an. Aber da bin ich an sich sehr skeptisch.

    Hermann Theißen: Von der November-Revolution 1918 zum Ende Ihres Buches bzw. zu dem angekündigten 5. Band: Hat der Nationalsozialismus trotz aller Schrecken, die er verbreitet hat, Modernisierungsleistungen erbracht, die für den Erfolg der Bundesrepublik bedeutsam waren?

    Hans- Ulrich Wehler: Ja, das ist ein Dauerbrenner der Debatte gewesen. Ralf Dahrendorf hat frühzeitig argumentiert, der Nationalsozialismus hat eigentlich wider Willen Schranken niedergerissen, die der Modernisierung im Wege standen, und hat mit ungeheuren Opfern erkauft oder es möglich gemacht, dass dann die Bundesrepublik sich unter freieren Bedingungen entfalten konnte. Das ist hier bestritten worden. Hans Mommsen hat gesagt: Der Modernisierungsbegriff, der verfälscht das ganze Unheil des Nationalsozialismus. Gelegentlich bricht die Debatte immer wieder neu auf, weil die jüngeren Historiker sich dann jeweils fragen: Also so eindeutig ganz schwarz in schwarz kann man den Nationalsozialismus trotz Holocaust und Zweitem Weltkrieg nicht malen, denn es gibt ja große Sprünge in der Entwicklung der Chemie-Industrie, der Elektrotechnik, es gibt Veränderungen im Verkehrssystem, es gibt, was viel interessanter ist, im Grunde die Entfesselung einer modernen Leistungsgesellschaft, weil die Nationalsozialisten und vor allem Hitler selber ganz sozial-darwinistisch auf Konkurrenz "jeder gegen jeden" setzen, und der Sieger wurde dann privilegiert.

    Und meine These, die ich auch in dem Buch unterstützt habe, ist die, dass für diese jüngere Generation, die Weimar so eben noch miterleben und da lauter Überreste des Wilhelminischen Kaiserreichs fand, Ständevorurteile, Klassenbarrieren, eine erstarrte Kirche und so, für die war der Nationalsozialismus der Aufbruch der Jungen und eine dynamische Bewegung, und die stürzen sich in diese Arena, wo sie neue Chancen witterten. Und meines Erachtens ist dann die westdeutsche Leistungsgesellschaft nach der Währungsreform im Grunde genommen die entbräunte oder - wenn Sie so wollen - die entnazifizierte Leistungsgesellschaft der jungen Nationalsozialisten. Und es ist nicht die Leistung von Erhard und der Sozialen Marktwirtschaft, sondern die Menschen, die dann diese Konkurrenzwirtschaft und Leistungsgesellschaft seit dem Ende der 40er Jahre, in den 50er und 60er Jahren usw., getragen haben, die sind im Grunde schon mobilisiert worden und sind im Grunde genommen auch schon in mancher Hinsicht verformt worden mit diesem Leistungsfanatismus in den 30er und 40er Jahren. Und insofern ist das eben ein Abwägen.

    Es ist ja Konsens, dass der Nationalsozialismus die halbe Welt ins Unglück gestürzt hat, Millionen Menschen ermordet hat, das braucht man ja jetzt nicht noch mal zu wiederholen. Die Bilanz ist so gesehen ganz düster. Aber er hat auf der anderen Seiten gewalttätig - und das hätte man vermutlich mit friedlichen Methoden über einen längeren Zeitraum ja auch erreicht -, er hat mit seinen gewalttätigen Methoden auch Schranken eingerissen und Menschen mobilisiert und motiviert in einem Sinne, das dann dem neuen Staat im Westen zugute gekommen ist. Und das fällt manchen Lesern und Kritikern schwer anzuerkennen, denn es ist natürlich leichter, den Nationalsozialismus letztlich als Verbrechensregime mit diesen unvorstellbaren Massenmorden an Juden und Slawen so präsentiert zu bekommen. Und auf der anderen Seite dann gewissermaßen zähneknirschend sich einzugestehen, dass manches dann auch deshalb - nicht wegen des Holocaust, aber wegen Veränderung in der Sozialstruktur - für die Bundesrepublik leichter gewesen ist. Und dann gibt es auch indirekte Ergebnisse, z.B. der Nimbus des Militärs ist hin nach der totalen Niederlage, und in der Bundesrepublik spielt das Offizierskorps nicht die verhängnisvolle Rolle wie in Weimar und im Kaiserreich. Es spielen die ostelbischen Großagrarier keine Rolle mehr, die sind jenseits der Elbe, sie werden von den Russen erschossen, liquidiert, in Lager gebracht, den Rest besorgt die SED. Das heißt, lauter Belastungen der Weimarer Republik, die entfallen, und wenn man so will, sind das ja auch nicht beabsichtigte Ergebnisse der Nazi-Zeit.

    Das Urteil, finde ich, muss etwas komplizierter ausfallen. Dass in der Tat an dem Schreckensregime mit seiner ungeheuren Opfer- und Leidensbilanz, da kann gar kein Zweifel sein. Auf der anderen Seite sind da sozusagen Hemmnisse beseitigt worden und immer um einen ungeheuren Preis, aber die Überlebenden haben dadurch die Möglichkeit gehabt - ich will mal zugespitzt sagen -, unter viel freieren und unbelasteten Bedingungen einen neuen Staat aufzubauen, und der wäre nicht so schnell ein erfolgreicher Staat in einem Volk gewesen, in dem Millionen Täter und Mitläufer gewesen waren, wenn sie nicht diese freieren Entwicklungsmöglichkeiten gehabt hätten.

    Soweit das Gespräch mit Hans-Ulrich Wehler. Band 4 von dessen "Deutscher Gesellschaftsgeschichte" trägt den Untertitel "Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914 - 1949. Er ist wie die vorangegangenen Bände erschienen bei C. H. Beck in München, umfasst 1173 Seiten und kostet 44 Euro 90.