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Happy Birthday Grundgesetz

Unsere Verfassung feiert in diesem Jahr ihren 60. Geburtstag. Doch trotz der Vielzahl von Kommentaren, Monographien und historischen Rückblicken: Bisher existierte noch keine auch für den Laien verständliche Darstellung der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes. Seit wenigen Tagen ist nun eben eine solche lange vermisste Gesamtschau in den Buchhandlungen.

Von Gudula Geuther |
    Nähme man den Titel "Das Grundgesetz, eine Biographie" wörtlich, dann hätte Christian Bommarius sein Buch hier beginnen müssen, am 23. Mai 1949, mit der Erklärung Konrad Adenauers, Präsident des Parlamentarischen Rates, in der Turnhalle der Pädagogischen Akademie in Bonn:

    Gemäß Artikel 145 verkündige ich im Namen und im Auftrage des Parlamentarischen Rates unter Mitwirkung der Abgeordneten Groß-Berlins das Grundgesetz. Es tritt mit Ablauf des heutigen Tages in Kraft.

    Der Titel täuscht: Wenn der Leser bei der Geburt des Grundgesetzes angekommen ist, hat er fünf von sechs Kapiteln gelesen. Und damit wahrscheinlich trotzdem mehr über die Verfassung erfahren als durch so manche Beschreibung ihrer bundesrepublikanischen Geschichte. Und er dürfte ein besseres Gespür dafür haben, warum etwa die kleine Anekdote am Rande der Feierstunde so bezeichnend ist für diese Geburt:

    Der Organist des Bonner Münsters spielte auf und präludierte ausgerechnet einige Phrasen aus Haydns Kaiserquartett, das jedermann mit der Liedzeile "Deutschland, Deutschland über alles" in Beziehung setzte. Die "schöne Melodie" hatte seinerzeit auch Kurt Tucholsky als "Hymne des neuen Staates" vorgeschlagen. Seit vier Jahren war sie von den Besatzungsmächten verboten. Carlo Schmid sprang zum Organisten, untersagte ihm Haydn und ordnete Händel an.

    Besatzung und drohender dritter Weltkrieg, Flüchtlingselend und täglicher Überlebenskampf - das ist nicht nur die Kulisse für die Arbeit des parlamentarischen Rates. Es ist auch die emotionale Basis derer, für die das Werk und der neue Staat entsteht. Und vor allem bilden diese Basis die jeweils eigenen, höchstpersönlichen Erfahrungen im Nationalsozialismus, so Christian Bommarius.

    "Wenn man die wirtschaftliche Lage der Deutschen bedenkt, dann wird klar, dass sie sich für alles Mögliche interessiert haben, vor allem für Futter, aber nicht für die Beratungen des parlamentarischen Rates. Das hätte übrigens auch verlangt, sich mit der eigenen Schuld auseinanderzusetzen. Sie können nicht über Menschenwürde diskutieren und nicht über die eigene Schuld sprechen. Also: Der parlamentarische Rat stieß auf wenig Interesse, die Reaktion der Deutschen auf das Grundgesetz war Teilnahmslosigkeit. Und das versteht man in der Tat: Sie können nicht im Keller sitzen und über die Schuld und Schande diskutieren. "

    Dem parlamentarischen Rat wurde damals vorgeworfen, er sei nicht repräsentativ für die deutsche Bevölkerung. Zum Glück, sagt der Autor. Fast alle Mitglieder waren Opfer der Nationalsozialisten. Als Emigranten, als KZ-Häftlinge, als Geächtete. Sie alle haben die Verfassung geprägt. Tatsächlich in Verbindung mit ihr bringt man heute nur noch einige: Carlo Schmid, Konrad Adenauer, Theodor Heuss, vielleicht noch Elisabeth Selbert.

    "Das sind alles Schicksale, denen wir da begegnen in dem parlamentarischen Rat, die wir uns überhaupt nicht klarmachen. Das sind nicht einfach Skeptiker, die da antreten, das sind Leute, die das Furchtbarste mitgemacht haben. Und dazu gehört eben auch die Wahrnehmung der eigenen Schwäche. Also einige haben widerstanden, im Konzentrationslager, haben auch körperlich widerstanden, andere haben das nicht so getan, konnten es nicht so. Und sie merkten einfach, wie sogar ihre Nächsten sie noch verraten haben. Und dieser Verrat zum Beispiel spielt eine ganz wesentliche Rolle in der deutschen Biographie bis 45. Übrigens in Ostdeutschland bis 1989. All das fließt hier mit ein in den parlamentarischen Rat und fließt eben auch ein in die Grundrechteberatungen. Und daraus resultiert, wenn man so will, zwanglos der Schutz der Menschenwürde."

    Die Zeitgeschichte und die Personen dienen Bommarius dazu, die Debatten um die wesentlichen Weichenstellungen der Verfassung deutlich zu machen. Zum Teil greift er dabei weit vor den parlamentarischen Rat und auch den Konvent von Herrenchiemsee zurück, auf die Überlegungen des Kreisauer Kreises zur Menschenwürde etwa. Der Jurist und Germanist Bommarius, langjähriger DPA-Korrespondent am Sitz des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe und heute politischer Korrespondent der Berliner Zeitung, schildert, wie aus dem Bestehen auf dem Provisorium schleichend der Wille zur Voll-Verfassung wurde und damit das Ergeben ins Unvermeidliche der deutschen Teilung. Und er beschreibt das wohl zäheste und erbittertste Ringen, das um Zentral- oder Bundesstaat, um Senatsmodell oder Bundesrat. Das ist kein trockenes Staatsrecht, das ist ein packendes Machtspiel mit vielen Akteuren, nicht etwa nur den Besatzungsmächten.

    Am 26. Oktober 1948 trafen sich im Bonner Hotel "Königshof" der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard, CSU, und der sozialdemokratische Verfassungsexperte Walter Menzel zu einem vertraulichen Nachtmahl. Als sich die kleine Runde nach zwei Stunden trennte, hatte Ehard große Teile der Unionsfraktion im parlamentarischen Rat - vor allem Konrad Adenauer - hintergangen, Menzel die Mehrheit der SPD-Fraktion - vor allem Fraktionschef Carlo Schmid -, und die künftige Bundesrepublik hatte einen Bundesrat.

    Und Bayern - dessen Landtag nicht zustimmte - genügte das trotzdem nicht. Die spannend geschriebene Geschichte schafft Verständnis für die damalige Sicht und die Emotionen wie in der flehenden Anklage Thomas Dehler noch am 8. Mai 1949 im Parlamentarischen Rat:

    Wir haben den Bundesrat zugestanden, wir haben den Bundesrat mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet, die gesamte Verwaltung liegt bei den Ländern. Es ist kein Grund, Klagen zu erheben!

    Aber über die Historie hinaus entsteht vor allem ein Bild vom Ergebnis, dem Grundgesetz selbst. Wer weiß, dass die Mitglieder des parlamentarischen Rates die Debatte über die Abschaffung der Todesstrafe nicht im luftleeren Raum führten - das Messer für die Guillotine in Rheinland-Pfalz war bestellt - bekommt ein neues Verständnis dafür, was mit der Menschenwürde gemeint ist. Ersetzte man heute das Wort Todesstrafe durch das der Folter, wären die Argumente pro und contra heute noch aktuell. Und wer die damaligen Bedingungen kennt, versteht den Wert des Asylrechts und das Menschenbild der Väter und Mütter des Grundgesetzes, sagt Christian Bommarius:

    "Man sagt gerne, dass die Väter und Mütter es einfacher hatten, unter dem Eindruck stehend ihrer Emigration. Man kann aber auch das Gegenteil sagen und sagen: Damals war die Situation sehr viel schwieriger und in dieser Situation auch schwieriger zu begründen, warum Flüchtlinge aufgenommen werden sollten. Einfach aus dem Grunde, weil Deutschland, vor allem Schleswig-Holstein, überfüllt war mit Flüchtlingen. Die Haushalte der Länder waren völlig leer. Die Leute hungerten noch 48 zum Teil. In Schleswig-Holstein bildeten die Flüchtlinge fast 50 Prozent der Einwohner. Und dann sagt der CDU-Abgeordnete von Mangoldt - aus Holstein kommend, früherer Innenminister 46/47: Flüchtlinge müssen unbegrenzt aufgenommen werden können. Das war eine für damalige Verhältnisse unvorstellbare Forderung - die aber unwidersprochen blieb."

    Und daran schließt der Autor den Nachsatz an, der wohl - weit über das Asylrecht hinaus - der eigentliche Grund für das Buch war:

    "Erst spätere - nämlich wir - fanden dann, dass eine ungleich niedrigere Zahl von Flüchtlingen uns unzumutbar sei und das Boot zum Überlaufen brächte."

    Was in den ersten Kapiteln eine einordnende Nacherzählung ist, das wird am Schluss zum Plädoyer für die Freiheitsrechte, für die Menschenwürde und das Erbe der Verfassungs-Autoren. Scharf wendet sich der Autor gegen die Aussage, das Grundgesetz werde heutigen Bedrohungen nicht mehr gerecht.

    Insofern ist das Buch nicht einfach eine Geschichte des Grundgesetzes, es ist ein Aufruf, es ernst zu nehmen. In seinem sechzigsten Jahr werden jedem Leser des Feuilletons, jedem Radiohörer und Besucher von Festveranstaltungen derer viele unterkommen. Mit Fensterreden allerdings hat dieses Buch wenig zu tun.

    Gudula Geuther über Christian Bommarius: Das Grundgesetz - Eine Biographie. Veröffentlicht im Rowohlt Berlin Verlag, 288 Seiten für 19 Euro und 90 Cent.