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Harmlose Kindersprache

Eine werbewirksame Banderole ziert Claudia Ruschs autobiografischen

Von Christel Wester |
    Erzählband Meine freie deutsche Jugend . "Ich bitte Dich", ist darauf zu lesen, "schreib mehr von diesen Geschichten, schreib sie kiloweise, oder so lange, bis Dir die Luft ausgeht." Der Autor dieser euphorischen Zeilen ist kein Geringerer als der Büchner-Preisträger Wolfgang Hilbig - eine Autorität, nicht nur in politisch-moralischer Hinsicht, Hilbig hat literarische Maßstäbe gesetzt in seinen Darstellungen des DDR-Alltags mit seinem Beziehungen zersetzenden Überwachungssystem.

    Das Lob für Claudia Ruschs Kindheitserinnerungen aus der DDR kommt also von allerhöchster Instanz. Und die kann nicht irren. Diesen Eindruck jedenfalls gewinnt man beim Blick in die Feuilletons der vergangenen Wochen. Kaum war das Buch erschienen, wurde es landauf, landab gepriesen und gegen den grassierenden DDR-Kult in Stellung gebracht.

    Claudia Rusch stammt aus Dissidentenkreisen. Wer in so einem sozialen und politischen Umfeld aufwuchs, der steht anscheinend nicht unter Verdacht, sich der wohligen Wärme der Ostalgie-Welle hinzugeben, die nun auch im deutschen Fernsehen ihre fröhlichen Urstände feiert. "Ich weiß genau, in welchem Land ich aufgewachsen bin", versichert die 1971 geborene Autorin denn auch in ihrem Buch.

    Jedoch nicht ohne einschränkend zuzugeben, dass sie als Kind nicht ständig vom Baum der Erkenntnis aß: "Ich habe die Entscheidung meiner Eltern, in der Opposition zu leben, nicht mitgetroffen", schreibt sie. "Ich war ihr ausgeliefert. Heute bin ich ihnen dankbar. Sie haben mich damit priviligiert." Claudia Rusch erzählt Episoden aus dem Leben eines Dissidentenkindes, das sich in der DDR-Gesellschaft als Außenseiter empfand.

    "Nostalgiefrei" und "ohne peinliches Generationengeschnatter" lauten deshalb unisono die lobenden Attribute der Kritiker, die sich damit allerdings ebenso einmütig zur Schelte einer anderen Autorin zusammen finden: Jana Hensel, die sich mit "Zonenkinder" seit Herbst letzten Jahres hartnäckig auf der Spiegel-Bestsellerliste behauptet. Tatsächlich mutet Meine freie deutsche Jugend wie eine Art Gegenbiografie zu Zonenkinder an. Allerdings nur auf den ersten Blick.

    Denn Claudia Rusch war beim Fall der Mauer 18, alt genug also, um die politischen Vorgänge einordnen zu können. Jana Hensel hingegen war damals erst 13 Jahre alt und beschreibt, wie mit dem Fall der Mauer ihre gewohnte Welt zerbrach. Dabei nahm sie zunächst einmal - wie wahrscheinlich die meisten ihrer Altersgenossen - die rasanten äußerlichen Veränderungen wahr.

    Durchaus melancholisch konstatiert Hensel den plötzlichen Verlust der vertrauten Dinge, Gerüche, Geschmäcker und auch Wörter des DDR-Alltags, wobei sie sehr wohl kritisch die Relevanz derartiger Faktoren für die jugendliche Identitätsbildung hinterfragt.

    Insofern ist Zonenkinder kein "Generationengeschnatter", sondern der ernsthafte Versuch, die Auswirkungen eines gesellschaftlichen Zusammenbruchs auf das unmittelbare Erleben von Heranwachsenden zu erfassen. Dass sie dabei die Erfahrungen einer Durchschnittsfamilie zugrunde legt - die sie im Übrigen keineswegs idealisiert - wird ihr nun als Nachteil ausgelegt.

    Dagegen profitiert Claudia Rusch vom Prominentenfaktor. Ihre Mutter war eng befreundet mit dem Wissenschaftler und Dissidenten Havemann und dessen Frau, Robert und Katja, wie Rusch sie vertraulich nennt. Die Havemanns standen nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 jahrelang unter Hausarrest und so bekamen die Freunde auch ein paar Beschatter ab. So lapidar liest sich das leider in einer der 25 Geschichten, die der Band Meine freie deutsche Jugend versammelt: In naivem Kleinmädchenton plaudert Rusch da über ihre Erfahrungen mit dem Überwachungsstaat.

    Kakerlaken nannte man bei Havemanns die Stasiposten vor dem Haus. Und weil das so war, wusste Klein-Claudia nicht, dass Kakerlaken in Wirklichkeit Küchenschaben sind. "Irgendwie war das komplett an mir vorbeigegangen", schreibt sie, um dann von dem Schock zu erzählen, der sie später im immerhin schon etwas reiferen Alter von 16 ereilte, als sie einen Freund im Studentenwohnheim besuchte: Der beklagte sich über Kakerlaken hinter der Küchenspüle und sie erlitt einen - allerdings kurzen - Anfall von Verfolgungswahn.

    Diese auf lustig getrimmte Anekdote mit ihrer banalen Pointe ist symptomatisch für das ganze Buch: Heitere Geschichtchen von fünf, sechs Seiten Länge sind das allesamt, die sich getrost dem Motto "Erzähle einen Schwank aus deinem Leben" unterordnen lassen. Wobei sich die Autorin kokett um Ironie und tiefere Bedeutung bemüht. Aber Rusch spottet nicht, sie spöttelt nur, indem sie sich einer ebenso harmlosen, wie unerträglichen Kindersprache bedient. Denn die Autorin will die DDR keineswegs als absurd-schräges Kabarett darstellen, sie legt durchaus Ernsthaftigkeit an den Tag.

    Beispielsweise in einer Geschichte über Verdacht und Verrat: Mutter und Tochter verdächtigen die Großmutter, sie jahrelang als "IM Buche" bespitzelt zu haben. Am Ende stellt sich heraus, dass eine enge Freundin der Mutter die Spionin war. Die Tragik, die in dieser Situation steckt, begräbt Claudia Rusch allerdings unter Phrasen: Zehn Minuten lang darf die Mutter auf einer Parkbank schluchzen, ein paar Zeilen später findet man sich im großmütterlichen Wohnzimmer ein und alles löst sich auf in süßlicher Harmonie. Seufzend hebt Oma das Glas und sagt: "Darauf, dass dieser Kelch an uns vorübergegangen ist."

    So spinnt Claudia Rusch selbst die bittersten Erfahrungen ein in den weichen Kokon ihrer ach so heilen Dissidentenwelt, in der sie ihre "freie deutsche Jugend" erleben durfte: Natürlich gibt es ein paar Irritationen zwischendurch, aber am Ende kommt das aufmüpfige Ost-Kind ganz ohne Blessuren in der Realität des Westens an.

    Denn die Entwicklungsgeschichte, die Claudia Rusch in ihren 25 Anekdoten erzählt, verläuft etwa so: Die Fünfjährige sitzt an der Ostsee, beobachtet die Schwedenfähre und träumt von der großen, weiten Welt; die Siebenjährige versetzt ihre Mutter in Aufregung, weil sie einem Polizisten in der S-Bahn Honecker-Witze erzählt; die 14-Jährige geht im auffälligen Westkleid zur Jugendweihe und schwört mit gekreuzten Fingern auf den Staat; und die 31-Jährige findet sich schließlich ganz ohne Stadtplan in Paris zurecht, zu DDR-Zeit der Ort ihrer Sehnsucht und natürlich, wie sie heute weiß, eine reine Projektion.