Und ein Bereich der Sozialpolitik ist von der Angleichung innerhalb der Europäischen Union sogar ausdrücklich ausgenommen: Die Gesundheitssysteme.
Gesundheitssysteme und Europa haben nichts mit einander zu tun - so klar und so einfach steht es in den einschlägigen Vertragswerken. Dennoch gibt es innerhalb des deutschen Gesundheitswesens Menschen, die große Hoffnungen auf die Europäische Union setzen.
Ich denke, dass ist in erster Linie ein Erfolg für die Ärzteschaft, aber auch für die Patienten, die in Zukunft hoffentlich nicht mehr von übermüdeten Ärzten operiert und behandelt werden.
Der Mann, der hier jubelt, heißt Norbert Jäger. Er ist Krankenhausarzt in Kiel. Und er hat vor dem Europäischen Gerichtshof erstritten, wofür er in Deutschland kein Gehör fand: Er wehrt sich gegen überlange Arbeitszeiten von regelmäßig mehr als 30 Stunden am Stück. Diese Praxis ist zwar in Deutschland bislang legal gewesen - Aber nach europäischem Recht ist sie verboten, so urteilten die Europarichter Anfang September und zettelten damit eine kleine Revolution im deutschen Krankenhaussektor an. Doch Klinikärzte sind nicht die einzigen im deutschen Gesundheitswesen, die froh sind, dass es die Europäische Union gibt:
Wir glauben, dass der Versandhandel nachdem sich die Märkte entwickelt haben, das dauert bestimmt fünf bis zehn Jahre, einen Anteil zwischen fünf und acht Prozent haben wird, das macht dann etwa 2,5 bis 3 Milliarden Euro Versandhandelsmarkt aus. Wir haben das Ziel innerhalb dieses Marktes Marktführer zu sein und gehen davon aus, innerhalb dieses Marktes eine Quote von 30 bis 40 Prozent zu erreichen. Wir gehen also davon aus, dass DocMorris ein Unternehmen mit Milliardenumsatz sein wird.
Der Mann, der sein Unternehmen in wenigen Jahren zur Milliardenfirma machen will, heißt Ralf Däinghaus. Er ist Vorstandschef einer Firma namens DocMorris. Dahinter verbirgt sich die mit Abstand erfolgreichste Versandapotheke, die in Deutschland aktiv ist - wenn auch von einem Firmensitz im Ausland, knapp hinter der niederländischen Grenze. In den vergangenen vier Jahren hat sich das Unternehmen von einer Million Euro Umsatz auf 45 Millionen emporgearbeitet.
Nicht nur hunderttausende deutsche Patienten bestellen bei DocMorris, auch der Landesverband der bayerischen Betriebskrankenkassen hat einen Vertrag mit der Versandapotheke. Dieser Vertrag ist allerdings nach Ansicht der Aufsichtsbehörden illegal, denn bislang ist es in Deutschland verboten, Arzneien zu verschicken. Nach Ansicht vieler Europajuristen widerspricht das allerdings dem europäischen Prinzip des freien Warenverkehrs, zumindest wenn ein Versandhändler - wie DocMorris - im Ausland sitzt. Die Bundesregierung hat dieses Problem gelöst, indem sie mit der Gesundheitsreform zum Beginn des nächsten Jahres den Arzneiversand erlaubt. Die Versandapotheke DocMorris hat dadurch enormen Rückenwind, sie bleibt aber weiterhin in den Niederlanden, denn andere deutsche Hürden bleiben bestehen:
Däinghaus:
Wir dürften mit unserer Apotheke nicht nach Deutschland kommen. Es gibt das so genannte Fremdbesitzverbot, das heißt es dürfen nur Apotheker Apotheken besitzen. Da wir aber die Rechtsform einer Aktiengesellschaft haben und nicht einem einzigen Apotheker gehören, sondern einem ganzen Konsortium von Menschen gehören, dürften wir in Deutschland nicht arbeiten, und das finde ich sehr schade.
Der Vorstandschef Ralf Däinghaus ist allerdings zuversichtlich, dass das, was eine Apotheke in den Niederlanden darf, bald auch in Deutschland möglich sein wird. Es laufen bereits entsprechende Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof.
Wir glauben, dass wir in Deutschland benachteiligt werden. Wir gehen davon aus, dass der Europäische Gerichtshof in unserer Sache entscheidet und dafür sorgen wird, dass der Arzneimittelmarkt, genauso wie viele, viele andere Märkte auch europäisiert wird, was sich vielleicht erst einmal merkwürdig anhört. Aber es gibt halt verschiedene Vorteile durch das europäische Recht, auch Handelsvorteile.
Europäische Regeln für das deutsche Gesundheitswesen gibt es also nicht. Doch der europäische Einfluss auf das deutsche Gesundheitswesen wird immer größer. Sei es über den Umweg des Arbeitsrechts; Über den Umweg des freien Warenverkehrs; Oder, als weiteres Beispiel, über den Umweg der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Auch für die Gleichstellung der Geschlechter fühlt sich die Europäische Union zuständig. Und deswegen stört man sich in Brüssel daran, dass es bei den Privaten Krankenversicherern unterschiedliche Prämien für Männer und Frauen gibt.
Bei der Allianz Privaten Krankenversicherung beispielsweise zahlt eine 32jährige Frau im so genannten Komfortschutz-Tarif rund 320 Euro im Monat - das sind 150 Euro mehr oder fast doppelt so viel wie ein Mann zahlt, der die gleiche Absicherung haben will. Doch der Aufschlag für Frauen sei versicherungsmathematisch korrekt berechnet, erklärt Lothar Landgraf, der Sprecher der Allianz:
Es sind in keinem Fall Strafprämien. Da ist es so, dass Frauen aufgrund verschiedener Umstände - da wären sicherlich zu nennen zunächst mal das Geburtsrisiko, die unterschiedliche Inanspruchnahme von Leistungen und der Umstand, dass Frauen älter werden, dass aufgrund dieser Gründe die Beiträge für Frauen höher kalkuliert werden, weil wir eben risikogerecht kalkulieren.
Was Versicherungsmathematiker für logisch halten - höhere Prämien für Frauen, weil sie länger leben - ist in den Augen der EU-Kommission mindestens problematisch. Professor Bernd Schulte vom Münchener Max-Planck-Institut für Europäisches Sozialrecht kennt die Argumentation aus Brüssel:
Die bisherige EG-Rechtslage und auch die Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes, die ist sehr stark geprägt von Gleichbehandlung von Männern und Frauen, und im Bereich der sozialen Sicherheit in Richtung dahin, dass man sagt, wir dürfen keine negativen Konsequenzen aus dem Umstand ziehen, dass erfreulicherweise Frauen länger leben als Männer.
Wenn die EU-Kommission deshalb zu dem Ergebnis kommt, dass höhere Tarife für Frauen in der Privaten Krankenversicherung gegen die Gleichbehandlung verstoßen, müssten so genannte Unisex-Tarife eingeführt werden, die sich nur nach dem Alter und den Vorerkrankungen richten. Die Folgen wären absehbar, meint Lothar Landgraf von der Allianz Privaten Krankenversicherung:
Landgraf:
Die Männer müssten dann, wenn das unterschiedliche Gesundheitsrisiko zwischen Männern und Frauen egalisiert werden soll, müssten schlichtweg mehr bezahlen.
Was wiederum die Privaten Krankenversicherer sehr ärgerlich fänden. Denn sie haben vor allem männliche Kunden als Zielgruppe - weil Männer in der Regel besser verdienen als Frauen und weil sich unter den Selbständigen mehr Männer als Frauen finden. Wenn im Zuge der Gleichberechtigung bei der Prämienkalkulation die Tarife für Männer ansteigen, könnten die sich überlegen, ob sie nicht lieber in der gesetzlichen Krankenversicherung bleiben, statt z.B. zu DKV, Debeka, Allianz und Co. zu wechseln.
Die Lage ist also durchaus paradox: Es gibt keine europäische Gesundheitspolitik - es darf sie auch nicht geben, heißt es in den einschlägigen Verträgen. Doch es gibt eine ganze Reihe von europäischen Einflüssen auf das deutsche Gesundheitswesen - Tendenz steigend. Franz Terwey, der die deutsche Sozialversicherung in Brüssel vertritt, findet diese auf den ersten Blick paradoxe Entwicklung allerdings im Grunde auch wieder logisch:
Der Motor in dieser Entwicklung ist der Europäische Gerichtshof, nämlich dann wenn Patienten Leistungen und Versicherte über die Grenzen hinweg Leistungen der Gesundheitsfürsorge nachfragen und diese aufgrund von gesetzlichen Regelungen nicht bekommen können und sie dann aber erstreiten vor dem Gerichtshof.
Es sind also weniger die Politiker, die dafür sorgen, dass die verschiedenen Gesundheitssysteme in Europa zusammenwachsen, sondern es sind die Juristen. Den Anfang machten die so genannten Kohll/Decker-Urteile des Europäischen Gerichtshofes. Vor fünf Jahren verfügten die Europarichter, dass EU-Bürger auch jenseits der Grenzen ihres Heimatlandes medizinische Behandlungen in Anspruch nehmen dürfen, wenn sie bestimmte Regeln einhalten. Professor Bernd Schulte vom Max-Planck-Institut für europäisches Sozialrecht sieht darin einen Wendepunkt:
Alle Mitgliedsstaaten sind, ohne Ausnahme, bis zum Erlass der Kohll/Decker-Urteile davon ausgegangen, dass das Gesundheitswesen ein besonderer Wirtschaftsbereich sei. Ein Wirtschaftsbereich, der sozusagen durch Territorialität gekennzeichnet sei. Und was wir heute erleben, ist eine Ent-Territorialisierung des Gesundheitswesens. Auch unser deutsches System der gesetzlichen Krankenversicherung basiert ja darauf, dass man, wenn man Leistungen in Anspruch nehmen will, als deutscher Versicherter das gefälligst nur zuhause tun kann. Diese Europäisierung im Bereich der Leistungserbringung, die findet zurzeit statt. Eine Europäisierung auf Seite der Leistungsträger, nämlich europäische Krankenversicherungen und so weiter, die sind zur Zeit noch nicht absehbar, und wird es auch auf absehbare Frist nicht geben.
Die Patienten in der europäischen Union könnten sich in vielen Fällen also frei über die Grenzen hinweg bewegen, wenn sie nur wollten. Bislang gibt es allerdings noch keine großen Patientenwanderungen. Marie-Luise Dierks von der Universität Hannover glaubt, dass es auch ein langsamer Prozess sein wird, bis es einen internationalen Austausch zwischen Kliniken und Arztpraxen geben wird. Eingehende Befragungen bei Patienten, die sie dazu durchgeführt hat, kommen zu einem klaren Ergebnis:
Wenn Sie mitten in Deutschland leben und die Grenzen weit weg sind, dann bedeutet das für den einzelnen natürlich einen enormen Aufwand, diese Einrichtungen zu finden. Aber die Bereitschaft, das zu tolerieren und das im Notfall auch für sich in Anspruch zu nehmen ist sehr hoch.
Heute gibt es also noch keine großen internationalen Patientenströme, doch es gibt ein gewisses Potenzial. Davon ist auch Karl-Heinz Ebeling überzeugt. Er ist Geschäftsführer bei der Firma German Health. Sein Unternehmen ist darauf spezialisiert, für ausländische Patienten deutsche Krankenhäuser zu suchen, und anschließend die Reise und den Aufenthalt zu organisieren. Ein wichtiger Schwerpunkt sind wohlhabende Patienten aus dem arabischen Raum. Immer wichtiger wird aber auch das Geschäft mit Patienten aus Europa:
Wir haben Kunden aus allen osteuropäischen Nationen, aus den nordeuropäischen Nationen, weniger aus dem westeuropäischen Bereich. Die Engländer zum Beispiel wollen nicht so gerne nach Deutschland kommen, die wollen lieber deutsche Ärzte zu ihnen holen. Der holländische Markt, der Markt mit holländischen Patienten ist in Westdeutschland interessant. Größere Kontingente niederländischer Patienten sind bereits in westdeutschen Kliniken, in Aachen, in Kleve, der Markt entwickelt sich stärker.
Bei German Health will man sich aber nicht mehr nur darauf konzentrieren, ausländische Patienten nach Deutschland zu holen. Karl-Heinz Ebeling hofft auch auf Geschäfte mit deutschen Patienten, die zur Behandlung ins Ausland reisen - zum Beispiel um dort Kosten für Zahnersatz zu sparen:
Auch das werden weitere Standbeine sein, attraktive Angebote für deutsche Krankenversicherte und deren Versicherer zu entwickeln, um diese Urteile des EuGH richtig dann lebbar zu machen. Das könnte heißen, den deutschen Patienten zur Zahnbehandlung nach Mallorca zu bringen, und während eines Urlaubs Zahnbehandlung in Mallorca zu machen.
Zahnbehandlung auf Kassenkosten in Mallorca - das dürfte also ein weiteres Ergebnis der Europäisierung im Gesundheitswesen sein, das sich auch deutsche Patienten zu Nutze machen können.
Umwälzungen sind aber auch im Kliniksektor zu erwarten. Die Zeiten, in denen Krankenhäuser von einem Landkreis, einer Universität - oder vielleicht als Privatklinik von einer ausschließlich deutschen Firma - betrieben wurden, seien vorbei, meint Axel Paeger, Geschäftsführer der Schweizer Klinik-Kette Ameos, die auch in Deutschland aktiv ist.
Deutschland ist auf der einen Seite ein interessanter Markt, weil großer Markt verglichen mit unseren kleineren Nachbarländern Österreich, Schweiz, Benelux. Auf der anderen Seite ist Deutschland zwar kein völlig planwirtschaftlicher Markt für ausländische Trägergesellschaften in dem Sinne, dass es ihnen nicht möglich ist, hier tätig zu werden. Aber es ist doch so stark durch Reglementierungen betroffen, dass es für einen Ausländer sehr schwer ist, die Bedingungen hier nachzuvollziehen, zu verstehen.
Mittelfristig erwartet der Chef der Ameos AG eine Verdoppelung des Marktanteils der Privatkliniken in Deutschland auf 20 Prozent - und langfristig sogar ein Anwachsen auf 50 Prozent. Welchen Anteil internationale Ketten daran haben werden, lasse sich schwer sagen - doch es werde ein beachtlicher Teil sein.
Internationale Kettenbildung im Krankenhausbereich erwartet auch Per Batelson. Er ist Vorstands-Chef der schwedischen Klinik-Kette Capio. Mit Krankenhäusern in Schweden, Finnland, Norwegen, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, der Schweiz und Polen ist Capio der mit Abstand größte Anbieter in diesem Bereich in Europa. Bei einem Umsatz von über einer Milliarde Euro hat Capio zuletzt rund 55 Millionen Euro Vorsteuer-Gewinn erwirtschaftet. Auch in Deutschland will Capio Fuß fassen - mit dem Landesbetrieb Krankenhäuser in Hamburg gibt es Gespräche. Die Patienten brauchten aber keine Angst um die Qualität der Versorgung haben, versichert der Chef von Capio - im Gegenteil:
Die Seele und der innere Wert von Capio besteht wirklich darin, der Öffentlichkeit zu dienen: Den öffentlichen Geldgebern und den Patienten. So sind wir in Skandinavien groß geworden. Und wir sind auch sehr streng, wenn es darum geht, wem sich unsere Beschäftigten verpflichtet fühlen. Sie müssen sich stets in erster Linie dem Patienten verpflichtet fühlen und nur in zweiter Linie dem Unternehmen. Es gibt keinen Kompromiss bei dieser Grundregel.
Pures Gewinnstreben auf Kosten der medizinischen Qualität - das könnten sich ausländische Krankenhausketten nicht erlauben, glaubt auch Axel Paeger von der Ameos AG. Betriebswirtschaftliche Überlegenheit könnten die internationalen Ketten alleine schon aufgrund ihrer Größe erzielen - beispielsweise durch kostengünstigen Einkauf. Ansonsten erwartet Paeger nicht, dass es deutschen Patienten negativ auffällt, wenn eine Klinik von einem ausländischen Betreiber übernommen wird:
Das ist nicht mehr so eine Frage, ob es eine ausländische Gesellschaft ist oder eine inländische, denn Sie werden die Unterschiede nicht so sehen können. Sie fragen heute ja auch nicht, ist Löwenbräu eine belgische Gesellschaft oder eine bayerische Gesellschaft, sondern Löwenbräu, das ist ein gutes Beispiel für eine sehr stark kommunizierte und akzeptierte Marke - weil die als solche Marke besteht, wird der eigentliche Eigentümer nicht mehr hinterfragt, und das wird auch im Krankenhausbereich so sein.
Eher leise und langsam wachsen die Europäischen Gesundheitssysteme also zusammen, im Bereich der Krankenhäuser - aber auch im Bereich einiger Arztpraxen, im Bereich der Arzneimittel und eventuell bei den Geschäftsbedingungen Privater Krankenversicherer.
Abseits dieser Entwicklung bleibt bislang der wichtigste Teil des deutschen Gesundheitswesens: Die gesetzlichen Krankenkassen. Doch auch dort verfolgt man die Entwicklung aufmerksam. Weil immer mehr Marktwirtschaft ins Gesundheitswesen einkehren soll, werden die Stimmen lauter, die verlangen, dass das Wettbewerbsrecht auch für gesetzliche Krankenkassen gelten soll, weiß Franz Terwey, der die deutsche Sozialversicherung in Brüssel vertritt:
Die Frage ist im Raum, ob das Agieren von Krankenversicherungen, gesetzlichen Krankenversicherungen etwa, in den Märkten der gesundheitlichen Versorgung, etwa im Krankenhausbereich, bei der pharmazeutischen Industrie ob diese Aktivitäten von Krankenkassen wettbewerbsrechtlich relevant sind. Bis heute gibt es keine Urteile oder sonstige Verlautbarungen auf europäischer Ebene, dass das so sei. Aber die Frage wird sich immer wieder neu stellen, und sie kommt immer wieder neu zur Entscheidung. Wir müssen als Krankenkassen uns darauf vorzubereiten, hier auch Gegenstrategien entwickeln, um die Steuerungskompetenz, die wir im national ja haben, auch auf europäischer Ebene zu bewahren, und die Instrumente, die wir national nutzen können, auch europäisch nutzen können.
Die Pharmaindustrie beispielsweise wehrt sich derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof gegen das Verfahren, in dem deutsche Krankenkassen die Preisbildung auf dem hiesigen Medikamentenmarkt steuern. Die gesetzlichen Kassen würden ein Kartell bilden und ihren Marktanteil von 90 Prozent wettbewerbswidrig missbrauchen, argumentiert die Pharmaindustrie. Doris Pfeiffer, die Vorstands-Chefin des Verbands der Angestellten-Krankenkassen, sieht einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes aber gelassen entgegen:
Bisher hat der EuGH ja ziemlich deutlich gemacht bei verschiedenen Urteilen, dass durch die soziale Funktion die die Krankenversicherung eben hat, wir nicht als Unternehmen anzusehen sind. Wenn man davon ausgeht, dass zumindest in einigen Ländern Systeme existieren, die ähnlich funktionieren wie bei uns, die Umverteilungsfunktion haben, eine Sozialstaatsfunktion haben, werden sicher auch diese Länder mit Deutschland gemeinsam ein Interesse daran haben, dass es bei diesen Funktionen bleibt, und daraus auch entsprechende Steuerungsmöglichkeiten resultieren.
Eine kurzfristige Unterwerfung der deutschen Krankenkassen unter das europäische Kartellrecht oder ein internationaler Wettbewerb der Kassen sei deshalb nicht zu erwarten, meint die Chefin des Verbands der Angestellten-Krankenkassen. Ähnlich sieht das auch der Europa-Gesandte der Sozialkassen, Franz Terwey. Dennoch glaubt er, dass auch die Krankenkassen über die Jahre hinweg europäischer werden dürften:
Aufgrund eines Vergleiches der Systeme, aufgrund von Ergebnismessungen, über die Qualität in der Versorgung, ihres Preises etwa auch, wo die Versicherten mehr und mehr erkennen, dieses oder jenes System ist teurer oder besser oder weniger gut. Und deshalb entsteht eine neue Debatte über die Gesamtheit der europäischen Gesundheitsversorgung und möglicherweise über ein Leitbild über die Zukunft der Gesundheitsversorgung in Europa. Sodass wir zu einem gewissen Zusammenwachsen der Systeme kommen werden, aber das wird ein sehr langfristiger Prozess sein.
Ob das ein Prozess mit überwiegend positiven oder negativen Effekten sein wird, lasse sich nicht sagen, meint Franz Terwey - Das sei zum Teil wohl auch eine Glaubensfrage oder Geschmackssache.
Die Patienten und Versicherten in Europa haben sich jedenfalls schon eine Meinung gebildet, was sie von den zusammenwachsenden Gesundheitssystemen zu erwarten haben. Marie-Luise Dierks von der Uni Hannover hat bei ihren Befragungen ein eindeutiges Ergebnis zutage gefördert:
Die Patienten sind alle eher pessimistisch. Und das macht einen doch nachdenklich. Weil wenn man sieht, wie sich Systeme verändern, dann gibt es ja nicht so furchtbar viele Möglichkeiten. Also, man kann mehr in Richtung Marktwirtschaft gehen, was man ja in Deutschland schon versucht gerade, man kann auch mehr in Richtung Staat gehen, was auch Modelle sind, die realisiert sind. Man kann noch mehr in Richtung Sozialversicherung gehen. Und trotzdem sieht man, dass dieses generell Problem, das wir in allen Systemen haben, dass das Geld nicht reicht.
Ob sich für das internationale Problem der leeren Kassen internationale Lösungen finden lassen, darauf hat die Forscherin von der Uni Hannover keine Antwort. Die meisten Bürger der EU haben in dieser Frage jedenfalls ihre Zweifel.
Gesundheitssysteme und Europa haben nichts mit einander zu tun - so klar und so einfach steht es in den einschlägigen Vertragswerken. Dennoch gibt es innerhalb des deutschen Gesundheitswesens Menschen, die große Hoffnungen auf die Europäische Union setzen.
Ich denke, dass ist in erster Linie ein Erfolg für die Ärzteschaft, aber auch für die Patienten, die in Zukunft hoffentlich nicht mehr von übermüdeten Ärzten operiert und behandelt werden.
Der Mann, der hier jubelt, heißt Norbert Jäger. Er ist Krankenhausarzt in Kiel. Und er hat vor dem Europäischen Gerichtshof erstritten, wofür er in Deutschland kein Gehör fand: Er wehrt sich gegen überlange Arbeitszeiten von regelmäßig mehr als 30 Stunden am Stück. Diese Praxis ist zwar in Deutschland bislang legal gewesen - Aber nach europäischem Recht ist sie verboten, so urteilten die Europarichter Anfang September und zettelten damit eine kleine Revolution im deutschen Krankenhaussektor an. Doch Klinikärzte sind nicht die einzigen im deutschen Gesundheitswesen, die froh sind, dass es die Europäische Union gibt:
Wir glauben, dass der Versandhandel nachdem sich die Märkte entwickelt haben, das dauert bestimmt fünf bis zehn Jahre, einen Anteil zwischen fünf und acht Prozent haben wird, das macht dann etwa 2,5 bis 3 Milliarden Euro Versandhandelsmarkt aus. Wir haben das Ziel innerhalb dieses Marktes Marktführer zu sein und gehen davon aus, innerhalb dieses Marktes eine Quote von 30 bis 40 Prozent zu erreichen. Wir gehen also davon aus, dass DocMorris ein Unternehmen mit Milliardenumsatz sein wird.
Der Mann, der sein Unternehmen in wenigen Jahren zur Milliardenfirma machen will, heißt Ralf Däinghaus. Er ist Vorstandschef einer Firma namens DocMorris. Dahinter verbirgt sich die mit Abstand erfolgreichste Versandapotheke, die in Deutschland aktiv ist - wenn auch von einem Firmensitz im Ausland, knapp hinter der niederländischen Grenze. In den vergangenen vier Jahren hat sich das Unternehmen von einer Million Euro Umsatz auf 45 Millionen emporgearbeitet.
Nicht nur hunderttausende deutsche Patienten bestellen bei DocMorris, auch der Landesverband der bayerischen Betriebskrankenkassen hat einen Vertrag mit der Versandapotheke. Dieser Vertrag ist allerdings nach Ansicht der Aufsichtsbehörden illegal, denn bislang ist es in Deutschland verboten, Arzneien zu verschicken. Nach Ansicht vieler Europajuristen widerspricht das allerdings dem europäischen Prinzip des freien Warenverkehrs, zumindest wenn ein Versandhändler - wie DocMorris - im Ausland sitzt. Die Bundesregierung hat dieses Problem gelöst, indem sie mit der Gesundheitsreform zum Beginn des nächsten Jahres den Arzneiversand erlaubt. Die Versandapotheke DocMorris hat dadurch enormen Rückenwind, sie bleibt aber weiterhin in den Niederlanden, denn andere deutsche Hürden bleiben bestehen:
Däinghaus:
Wir dürften mit unserer Apotheke nicht nach Deutschland kommen. Es gibt das so genannte Fremdbesitzverbot, das heißt es dürfen nur Apotheker Apotheken besitzen. Da wir aber die Rechtsform einer Aktiengesellschaft haben und nicht einem einzigen Apotheker gehören, sondern einem ganzen Konsortium von Menschen gehören, dürften wir in Deutschland nicht arbeiten, und das finde ich sehr schade.
Der Vorstandschef Ralf Däinghaus ist allerdings zuversichtlich, dass das, was eine Apotheke in den Niederlanden darf, bald auch in Deutschland möglich sein wird. Es laufen bereits entsprechende Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof.
Wir glauben, dass wir in Deutschland benachteiligt werden. Wir gehen davon aus, dass der Europäische Gerichtshof in unserer Sache entscheidet und dafür sorgen wird, dass der Arzneimittelmarkt, genauso wie viele, viele andere Märkte auch europäisiert wird, was sich vielleicht erst einmal merkwürdig anhört. Aber es gibt halt verschiedene Vorteile durch das europäische Recht, auch Handelsvorteile.
Europäische Regeln für das deutsche Gesundheitswesen gibt es also nicht. Doch der europäische Einfluss auf das deutsche Gesundheitswesen wird immer größer. Sei es über den Umweg des Arbeitsrechts; Über den Umweg des freien Warenverkehrs; Oder, als weiteres Beispiel, über den Umweg der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Auch für die Gleichstellung der Geschlechter fühlt sich die Europäische Union zuständig. Und deswegen stört man sich in Brüssel daran, dass es bei den Privaten Krankenversicherern unterschiedliche Prämien für Männer und Frauen gibt.
Bei der Allianz Privaten Krankenversicherung beispielsweise zahlt eine 32jährige Frau im so genannten Komfortschutz-Tarif rund 320 Euro im Monat - das sind 150 Euro mehr oder fast doppelt so viel wie ein Mann zahlt, der die gleiche Absicherung haben will. Doch der Aufschlag für Frauen sei versicherungsmathematisch korrekt berechnet, erklärt Lothar Landgraf, der Sprecher der Allianz:
Es sind in keinem Fall Strafprämien. Da ist es so, dass Frauen aufgrund verschiedener Umstände - da wären sicherlich zu nennen zunächst mal das Geburtsrisiko, die unterschiedliche Inanspruchnahme von Leistungen und der Umstand, dass Frauen älter werden, dass aufgrund dieser Gründe die Beiträge für Frauen höher kalkuliert werden, weil wir eben risikogerecht kalkulieren.
Was Versicherungsmathematiker für logisch halten - höhere Prämien für Frauen, weil sie länger leben - ist in den Augen der EU-Kommission mindestens problematisch. Professor Bernd Schulte vom Münchener Max-Planck-Institut für Europäisches Sozialrecht kennt die Argumentation aus Brüssel:
Die bisherige EG-Rechtslage und auch die Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes, die ist sehr stark geprägt von Gleichbehandlung von Männern und Frauen, und im Bereich der sozialen Sicherheit in Richtung dahin, dass man sagt, wir dürfen keine negativen Konsequenzen aus dem Umstand ziehen, dass erfreulicherweise Frauen länger leben als Männer.
Wenn die EU-Kommission deshalb zu dem Ergebnis kommt, dass höhere Tarife für Frauen in der Privaten Krankenversicherung gegen die Gleichbehandlung verstoßen, müssten so genannte Unisex-Tarife eingeführt werden, die sich nur nach dem Alter und den Vorerkrankungen richten. Die Folgen wären absehbar, meint Lothar Landgraf von der Allianz Privaten Krankenversicherung:
Landgraf:
Die Männer müssten dann, wenn das unterschiedliche Gesundheitsrisiko zwischen Männern und Frauen egalisiert werden soll, müssten schlichtweg mehr bezahlen.
Was wiederum die Privaten Krankenversicherer sehr ärgerlich fänden. Denn sie haben vor allem männliche Kunden als Zielgruppe - weil Männer in der Regel besser verdienen als Frauen und weil sich unter den Selbständigen mehr Männer als Frauen finden. Wenn im Zuge der Gleichberechtigung bei der Prämienkalkulation die Tarife für Männer ansteigen, könnten die sich überlegen, ob sie nicht lieber in der gesetzlichen Krankenversicherung bleiben, statt z.B. zu DKV, Debeka, Allianz und Co. zu wechseln.
Die Lage ist also durchaus paradox: Es gibt keine europäische Gesundheitspolitik - es darf sie auch nicht geben, heißt es in den einschlägigen Verträgen. Doch es gibt eine ganze Reihe von europäischen Einflüssen auf das deutsche Gesundheitswesen - Tendenz steigend. Franz Terwey, der die deutsche Sozialversicherung in Brüssel vertritt, findet diese auf den ersten Blick paradoxe Entwicklung allerdings im Grunde auch wieder logisch:
Der Motor in dieser Entwicklung ist der Europäische Gerichtshof, nämlich dann wenn Patienten Leistungen und Versicherte über die Grenzen hinweg Leistungen der Gesundheitsfürsorge nachfragen und diese aufgrund von gesetzlichen Regelungen nicht bekommen können und sie dann aber erstreiten vor dem Gerichtshof.
Es sind also weniger die Politiker, die dafür sorgen, dass die verschiedenen Gesundheitssysteme in Europa zusammenwachsen, sondern es sind die Juristen. Den Anfang machten die so genannten Kohll/Decker-Urteile des Europäischen Gerichtshofes. Vor fünf Jahren verfügten die Europarichter, dass EU-Bürger auch jenseits der Grenzen ihres Heimatlandes medizinische Behandlungen in Anspruch nehmen dürfen, wenn sie bestimmte Regeln einhalten. Professor Bernd Schulte vom Max-Planck-Institut für europäisches Sozialrecht sieht darin einen Wendepunkt:
Alle Mitgliedsstaaten sind, ohne Ausnahme, bis zum Erlass der Kohll/Decker-Urteile davon ausgegangen, dass das Gesundheitswesen ein besonderer Wirtschaftsbereich sei. Ein Wirtschaftsbereich, der sozusagen durch Territorialität gekennzeichnet sei. Und was wir heute erleben, ist eine Ent-Territorialisierung des Gesundheitswesens. Auch unser deutsches System der gesetzlichen Krankenversicherung basiert ja darauf, dass man, wenn man Leistungen in Anspruch nehmen will, als deutscher Versicherter das gefälligst nur zuhause tun kann. Diese Europäisierung im Bereich der Leistungserbringung, die findet zurzeit statt. Eine Europäisierung auf Seite der Leistungsträger, nämlich europäische Krankenversicherungen und so weiter, die sind zur Zeit noch nicht absehbar, und wird es auch auf absehbare Frist nicht geben.
Die Patienten in der europäischen Union könnten sich in vielen Fällen also frei über die Grenzen hinweg bewegen, wenn sie nur wollten. Bislang gibt es allerdings noch keine großen Patientenwanderungen. Marie-Luise Dierks von der Universität Hannover glaubt, dass es auch ein langsamer Prozess sein wird, bis es einen internationalen Austausch zwischen Kliniken und Arztpraxen geben wird. Eingehende Befragungen bei Patienten, die sie dazu durchgeführt hat, kommen zu einem klaren Ergebnis:
Wenn Sie mitten in Deutschland leben und die Grenzen weit weg sind, dann bedeutet das für den einzelnen natürlich einen enormen Aufwand, diese Einrichtungen zu finden. Aber die Bereitschaft, das zu tolerieren und das im Notfall auch für sich in Anspruch zu nehmen ist sehr hoch.
Heute gibt es also noch keine großen internationalen Patientenströme, doch es gibt ein gewisses Potenzial. Davon ist auch Karl-Heinz Ebeling überzeugt. Er ist Geschäftsführer bei der Firma German Health. Sein Unternehmen ist darauf spezialisiert, für ausländische Patienten deutsche Krankenhäuser zu suchen, und anschließend die Reise und den Aufenthalt zu organisieren. Ein wichtiger Schwerpunkt sind wohlhabende Patienten aus dem arabischen Raum. Immer wichtiger wird aber auch das Geschäft mit Patienten aus Europa:
Wir haben Kunden aus allen osteuropäischen Nationen, aus den nordeuropäischen Nationen, weniger aus dem westeuropäischen Bereich. Die Engländer zum Beispiel wollen nicht so gerne nach Deutschland kommen, die wollen lieber deutsche Ärzte zu ihnen holen. Der holländische Markt, der Markt mit holländischen Patienten ist in Westdeutschland interessant. Größere Kontingente niederländischer Patienten sind bereits in westdeutschen Kliniken, in Aachen, in Kleve, der Markt entwickelt sich stärker.
Bei German Health will man sich aber nicht mehr nur darauf konzentrieren, ausländische Patienten nach Deutschland zu holen. Karl-Heinz Ebeling hofft auch auf Geschäfte mit deutschen Patienten, die zur Behandlung ins Ausland reisen - zum Beispiel um dort Kosten für Zahnersatz zu sparen:
Auch das werden weitere Standbeine sein, attraktive Angebote für deutsche Krankenversicherte und deren Versicherer zu entwickeln, um diese Urteile des EuGH richtig dann lebbar zu machen. Das könnte heißen, den deutschen Patienten zur Zahnbehandlung nach Mallorca zu bringen, und während eines Urlaubs Zahnbehandlung in Mallorca zu machen.
Zahnbehandlung auf Kassenkosten in Mallorca - das dürfte also ein weiteres Ergebnis der Europäisierung im Gesundheitswesen sein, das sich auch deutsche Patienten zu Nutze machen können.
Umwälzungen sind aber auch im Kliniksektor zu erwarten. Die Zeiten, in denen Krankenhäuser von einem Landkreis, einer Universität - oder vielleicht als Privatklinik von einer ausschließlich deutschen Firma - betrieben wurden, seien vorbei, meint Axel Paeger, Geschäftsführer der Schweizer Klinik-Kette Ameos, die auch in Deutschland aktiv ist.
Deutschland ist auf der einen Seite ein interessanter Markt, weil großer Markt verglichen mit unseren kleineren Nachbarländern Österreich, Schweiz, Benelux. Auf der anderen Seite ist Deutschland zwar kein völlig planwirtschaftlicher Markt für ausländische Trägergesellschaften in dem Sinne, dass es ihnen nicht möglich ist, hier tätig zu werden. Aber es ist doch so stark durch Reglementierungen betroffen, dass es für einen Ausländer sehr schwer ist, die Bedingungen hier nachzuvollziehen, zu verstehen.
Mittelfristig erwartet der Chef der Ameos AG eine Verdoppelung des Marktanteils der Privatkliniken in Deutschland auf 20 Prozent - und langfristig sogar ein Anwachsen auf 50 Prozent. Welchen Anteil internationale Ketten daran haben werden, lasse sich schwer sagen - doch es werde ein beachtlicher Teil sein.
Internationale Kettenbildung im Krankenhausbereich erwartet auch Per Batelson. Er ist Vorstands-Chef der schwedischen Klinik-Kette Capio. Mit Krankenhäusern in Schweden, Finnland, Norwegen, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, der Schweiz und Polen ist Capio der mit Abstand größte Anbieter in diesem Bereich in Europa. Bei einem Umsatz von über einer Milliarde Euro hat Capio zuletzt rund 55 Millionen Euro Vorsteuer-Gewinn erwirtschaftet. Auch in Deutschland will Capio Fuß fassen - mit dem Landesbetrieb Krankenhäuser in Hamburg gibt es Gespräche. Die Patienten brauchten aber keine Angst um die Qualität der Versorgung haben, versichert der Chef von Capio - im Gegenteil:
Die Seele und der innere Wert von Capio besteht wirklich darin, der Öffentlichkeit zu dienen: Den öffentlichen Geldgebern und den Patienten. So sind wir in Skandinavien groß geworden. Und wir sind auch sehr streng, wenn es darum geht, wem sich unsere Beschäftigten verpflichtet fühlen. Sie müssen sich stets in erster Linie dem Patienten verpflichtet fühlen und nur in zweiter Linie dem Unternehmen. Es gibt keinen Kompromiss bei dieser Grundregel.
Pures Gewinnstreben auf Kosten der medizinischen Qualität - das könnten sich ausländische Krankenhausketten nicht erlauben, glaubt auch Axel Paeger von der Ameos AG. Betriebswirtschaftliche Überlegenheit könnten die internationalen Ketten alleine schon aufgrund ihrer Größe erzielen - beispielsweise durch kostengünstigen Einkauf. Ansonsten erwartet Paeger nicht, dass es deutschen Patienten negativ auffällt, wenn eine Klinik von einem ausländischen Betreiber übernommen wird:
Das ist nicht mehr so eine Frage, ob es eine ausländische Gesellschaft ist oder eine inländische, denn Sie werden die Unterschiede nicht so sehen können. Sie fragen heute ja auch nicht, ist Löwenbräu eine belgische Gesellschaft oder eine bayerische Gesellschaft, sondern Löwenbräu, das ist ein gutes Beispiel für eine sehr stark kommunizierte und akzeptierte Marke - weil die als solche Marke besteht, wird der eigentliche Eigentümer nicht mehr hinterfragt, und das wird auch im Krankenhausbereich so sein.
Eher leise und langsam wachsen die Europäischen Gesundheitssysteme also zusammen, im Bereich der Krankenhäuser - aber auch im Bereich einiger Arztpraxen, im Bereich der Arzneimittel und eventuell bei den Geschäftsbedingungen Privater Krankenversicherer.
Abseits dieser Entwicklung bleibt bislang der wichtigste Teil des deutschen Gesundheitswesens: Die gesetzlichen Krankenkassen. Doch auch dort verfolgt man die Entwicklung aufmerksam. Weil immer mehr Marktwirtschaft ins Gesundheitswesen einkehren soll, werden die Stimmen lauter, die verlangen, dass das Wettbewerbsrecht auch für gesetzliche Krankenkassen gelten soll, weiß Franz Terwey, der die deutsche Sozialversicherung in Brüssel vertritt:
Die Frage ist im Raum, ob das Agieren von Krankenversicherungen, gesetzlichen Krankenversicherungen etwa, in den Märkten der gesundheitlichen Versorgung, etwa im Krankenhausbereich, bei der pharmazeutischen Industrie ob diese Aktivitäten von Krankenkassen wettbewerbsrechtlich relevant sind. Bis heute gibt es keine Urteile oder sonstige Verlautbarungen auf europäischer Ebene, dass das so sei. Aber die Frage wird sich immer wieder neu stellen, und sie kommt immer wieder neu zur Entscheidung. Wir müssen als Krankenkassen uns darauf vorzubereiten, hier auch Gegenstrategien entwickeln, um die Steuerungskompetenz, die wir im national ja haben, auch auf europäischer Ebene zu bewahren, und die Instrumente, die wir national nutzen können, auch europäisch nutzen können.
Die Pharmaindustrie beispielsweise wehrt sich derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof gegen das Verfahren, in dem deutsche Krankenkassen die Preisbildung auf dem hiesigen Medikamentenmarkt steuern. Die gesetzlichen Kassen würden ein Kartell bilden und ihren Marktanteil von 90 Prozent wettbewerbswidrig missbrauchen, argumentiert die Pharmaindustrie. Doris Pfeiffer, die Vorstands-Chefin des Verbands der Angestellten-Krankenkassen, sieht einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes aber gelassen entgegen:
Bisher hat der EuGH ja ziemlich deutlich gemacht bei verschiedenen Urteilen, dass durch die soziale Funktion die die Krankenversicherung eben hat, wir nicht als Unternehmen anzusehen sind. Wenn man davon ausgeht, dass zumindest in einigen Ländern Systeme existieren, die ähnlich funktionieren wie bei uns, die Umverteilungsfunktion haben, eine Sozialstaatsfunktion haben, werden sicher auch diese Länder mit Deutschland gemeinsam ein Interesse daran haben, dass es bei diesen Funktionen bleibt, und daraus auch entsprechende Steuerungsmöglichkeiten resultieren.
Eine kurzfristige Unterwerfung der deutschen Krankenkassen unter das europäische Kartellrecht oder ein internationaler Wettbewerb der Kassen sei deshalb nicht zu erwarten, meint die Chefin des Verbands der Angestellten-Krankenkassen. Ähnlich sieht das auch der Europa-Gesandte der Sozialkassen, Franz Terwey. Dennoch glaubt er, dass auch die Krankenkassen über die Jahre hinweg europäischer werden dürften:
Aufgrund eines Vergleiches der Systeme, aufgrund von Ergebnismessungen, über die Qualität in der Versorgung, ihres Preises etwa auch, wo die Versicherten mehr und mehr erkennen, dieses oder jenes System ist teurer oder besser oder weniger gut. Und deshalb entsteht eine neue Debatte über die Gesamtheit der europäischen Gesundheitsversorgung und möglicherweise über ein Leitbild über die Zukunft der Gesundheitsversorgung in Europa. Sodass wir zu einem gewissen Zusammenwachsen der Systeme kommen werden, aber das wird ein sehr langfristiger Prozess sein.
Ob das ein Prozess mit überwiegend positiven oder negativen Effekten sein wird, lasse sich nicht sagen, meint Franz Terwey - Das sei zum Teil wohl auch eine Glaubensfrage oder Geschmackssache.
Die Patienten und Versicherten in Europa haben sich jedenfalls schon eine Meinung gebildet, was sie von den zusammenwachsenden Gesundheitssystemen zu erwarten haben. Marie-Luise Dierks von der Uni Hannover hat bei ihren Befragungen ein eindeutiges Ergebnis zutage gefördert:
Die Patienten sind alle eher pessimistisch. Und das macht einen doch nachdenklich. Weil wenn man sieht, wie sich Systeme verändern, dann gibt es ja nicht so furchtbar viele Möglichkeiten. Also, man kann mehr in Richtung Marktwirtschaft gehen, was man ja in Deutschland schon versucht gerade, man kann auch mehr in Richtung Staat gehen, was auch Modelle sind, die realisiert sind. Man kann noch mehr in Richtung Sozialversicherung gehen. Und trotzdem sieht man, dass dieses generell Problem, das wir in allen Systemen haben, dass das Geld nicht reicht.
Ob sich für das internationale Problem der leeren Kassen internationale Lösungen finden lassen, darauf hat die Forscherin von der Uni Hannover keine Antwort. Die meisten Bürger der EU haben in dieser Frage jedenfalls ihre Zweifel.