Ich habe die Schnauze voll davon, dass wir vor unseren Mitgliedern und Wählern täglich den Kopf hinhalten müssen für dieses Professorengeschwätz. Ich erwarte, dass Professoren wie Herr Rürup uns nicht länger mit ihrer Ejaculatio praecox - ihrem vorzeitigen Samenerguss - beglücken.
Nicht nur verbale Ausfälle, die Koalitionsparteien streiten auch über den tatsächlichen Reformbedarf. Während die Grünen auch bei der Rente eine zweite tiefgreifende Reform vor allem zu Lasten der Rentner anpeilen, sehen führende Sozialdemokraten eine solche Notwendigkeit nicht.
Noch bevor die Kommission also getagt, geschweige denn Ergebnisse vorgelegt hat, geht es drunter und drüber in der Koalition. Im SPD-Präsidium sah sich Parteichef und Kanzler Gerhard Schröder zu einem ungewöhnlich derben Machtwort gezwungen:
Am Anfang hatte ich klarzustellen, dass diese Art von Kakophonie, die man gelegentlich auch aus den eigenen Reihen - und das betrifft die SPD genau so wie die Koalition - zur Kenntnis zu nehmen hat, der gemeinsamen Politik absolut unzuträglich ist.
Worum geht es bei der Rürup-Kommission? Sie hat nur bedingt die Inhalte und damit den Leistungsumfang der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zu diskutieren. Das Gremium soll vielmehr überprüfen, wie sich die demografische Entwicklung langfristig auf die Finanzen der Sozialsysteme auswirkt und wie man kommende Generationen vor unzumutbar steigenden Sozialabgaben bewahren kann. Bundessozialministerin Ulla Schmidt erläutert:
Unsere Systeme der sozialen Sicherung stehen mittelfristig und langfristig vor schwierigen Herausforderungen. Die Kommission hat den Auftrag, die sozialen Sicherungssysteme hauptsächlich unter dem Blickwinkel der nachhaltigen Finanzierung unter die Lupe zu nehmen.
Auf diesen Auftrag hatten die Grünen gedrängt. Sie halten die junge Generation angesichts aktuell steigender Beiträge in der Renten- und Krankenversicherung schon jetzt für überfordert. Die Zustimmung zum neuen Rentenbeitragssatz von 19,5 Prozent gaben die Grünen nur unter der Voraussetzung, dass die Rürup-Kommission als wichtigstes Ziel die Senkung der Lohnnebenkosten ins Auge fasst. Unterstützt werden sie dabei natürlich von den Arbeitgebern, aber auch vom Chef der Arbeitsverwaltung, Florian Gerster. Die Kommission sei "lebensnotwendig für den Arbeitsmarkt". Das sieht auch Bert Rürup so:
Wir können Hartz machen so viel wir wollen. Wenn es nicht gelingt, die Lohnnebenkosten spürbar zu senken oder im Griff zu behalten, werden wir unser Beschäftigungsproblem nicht nachhaltig lösen. Ein Beitragspunkt weniger Sozialversicherungsbeiträge sind 100.000 Arbeitsplätze mehr.
Umgekehrt sind ein Beitragssatzpunkt mehr 100.000 Arbeitsplätze weniger. Und genau das passiert derzeit. Statt der einst von rot-grün versprochenen 40 Prozent klettern die Sozialbeiträge im nächsten Jahr auf fast 42 Prozent - Folge der schwachen Konjunktur und der hohen Arbeitslosigkeit.
Dabei hat die ungünstige demografische Entwicklung noch gar nicht eingesetzt, sieht man einmal von der - glücklicherweise - stetig steigenden Lebenserwartung ab. Die Demografie verstärkt künftig den Trend zu steigenden Lohnnebenkosten. Diesen Trend sollen Rürup und seinen Mitstreiter bremsen.
Da die Kommission so groß ist, wird sie in drei Arbeitsgruppen tagen. Prominente Mitglieder sind unter anderen der Unternehmensberater Roland Berger, DGB-Vize Ursula Engelen-Kefer und IG BAU-Chef Klaus Wiesehügel, Daimler-Vorstand Günther Fleig, Arbeitgeber-Sozialexperte Jürgen Husmann, Edda Müller, Vorsitzende der Verbraucherzentralen, Franz Ruland, Geschäftsführer des Verbandes der Rentenversicherungsträger, die niedersächsische Sozialministerin Gitta Trauernicht, Bayerns AOK-Chef Helmut Platzer sowie zahlreiche Wissenschaftler, darunter Ulla Schmidts Chefberater Karl Lauterbach.
Man sucht also den gesellschaftspolitischen Konsens. Aber anders als bei Hartz verspricht die Bundesregierung zwar eine schnelle Umsetzung der Kommissionsarbeit, will sich dieses Mal allerdings nicht darauf festlegen lassen, genau das zu tun, was im Endbericht stehen wird. Ulla Schmidt macht klar:
Hartz ist Hartz und Schmidt ist Schmidt. Und ich würde an dieser Stelle überhaupt nie sagen von eins zu eins Umsetzung.
Der konsensuale Ansatz dürfte allerdings ziemlich illusorisch sein. Denn die bekannten Positionen vieler Kommissionsmitglieder liegen meilenweit auseinander. IG BAU-Chef Wiesehügel meinte deshalb dieser Tage, es werde keinen gemeinsamen Bericht geben. Eher dürfte die Kommission verschiedene Modelle zur Diskussion stellen. Und Rürup selber, der seine Ideen in zahlreichen Interviews streut, will die Hand für einen einstimmigen Abschlussbericht auch nicht ins Feuer legen:
Es wird natürlich auch Konflikte geben. Ich werde selbstverständlich versuchen, ein möglichst konsensuales Ergebnis hin zu bringen. Allerdings man muss natürlich sehen: Ein Konflikt ist nichts Schlimmes.
Auch Ulla Schmidt weiß, dass sie eine Kommission voller Gegensätze eingesetzt hat:
Ich glaub nicht, dass diese Mischung explosiv ist, aber ich gehe davon aus, dass sie kreativ ist und das ist ja das Entscheidende in dieser Frage.
Beginnen wir mit der Rente. Hier sehen die Grünen trotz Riesterrente und Rentenreform 2001 einen grundlegenden Reformbedarf. Das bestreiten nicht nur führende Sozialdemokraten. Tatsache ist, dass seit Norbert Blüm die Einschnitte sich auf weit über 30 Prozent bei der Rente belaufen. Statt eines Beitragssatzes von etwa 36 Prozent auf dem Höhepunkt der demografischen Entwicklung nach dem Jahr 2030 rechnete Ex-Arbeitsminister Riester deshalb jetzt nur noch mit 22 Prozent.
Allerdings sind die Annahmen der Bundesregierung - vor allem über Konjunktur und Arbeitsmarktentwicklung sowie über die Zuwanderung nach Deutschland - ganz offensichtlich zu optimistisch. Bereits im nächsten Jahr liegt der Beitragssatz gut einen halben Prozentpunkt über dem vor nicht einmal zwei Jahren prognostizierten Wert. Bert Rürup, dessen berufliche Karriere im Kanzleramt unter dem SPD-Kanzler Helmut Schmidt begann und der selbst Sozialdemokrat ist, sieht die Hauptaufgabe nicht bei der Rente. Die wichtigste Reform sei mit der staatlich geförderten Privatvorsorge eingeleitet, schreibt er den Grünen ins Stammbuch, die tiefe Einschnitte auch bei den Renten anmahnen:
So geht es eigentlich nicht darum, eine neue Rentenreform auf den Weg zu bringen. Die Hauptarbeit ist gemacht. Man wird im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung nachjustieren müssen. Das ist eigentlich nichts Neues. Man wird möglicherweise an der Kapitaldeckung mittel- und langfristig noch etwas machen müssen. Aber da sind eigentlich die Hausarbeiten gemacht. Da werden wir noch nacharbeiten müssen.
Nimmt man die eigenen Vorschläge von Rürup, dann wird heftig nachgebessert. Denn er will ab dem Jahr 2011 das Renteneintrittsalter stufenweise jedes Jahr um einen Monat heraufsetzen bis es bei 67 Jahren angelangt ist. Da es für einen früheren Ruhestand kräftige Rentenabschläge von 3,6 Prozent pro Jahr zuzüglich geringerer Anwartschaften von über zwei Prozent gibt, wäre das für Frührentner ein teurer Spaß. Das gilt erst Recht, wenn sich die Arbeitgeber mit ihrer Forderung durchsetzen sollten, die Rentenabschläge bei vorzeitiger Verrentung weiter anzuheben. Dabei sind sich alle einig: Die Deutschen gehen zu früh in Rente. DGB-Vize Ursula Engelen-Kefer erläutert:
Nur noch jedes zweite Unternehmen beschäftigt inzwischen Menschen über 50 Jahre. Und dadurch wird das durchschnittliche tatsächliche Renteneintrittsalter massiv gesenkt, nämlich auf 60,2 Jahre. Das Ziel muss sein, das tatsächliche Renteneintrittsalter der gesetzlichen Grenze überhaupt erst wieder anzunähern.
Und dafür hätten die Unternehmen durch eine andere Personalpolitik zu sorgen. Denn wer heute mit 60 Jahren in Rente gehe, habe Rentenabschläge von 30 Prozent. Mehr sei nicht zu verantworten. Rürup und eine Reihe anderer Wissenschaftler aus der Kommission glauben allerdings, dass man das tatsächliche Renteneintrittsalter nur heben kann, wenn auch die gesetzliche Grenze von derzeit 65 Jahren steigt. Dann gehen automatisch die Abschläge bei Frühverrentung in die Höhe - und jeder wird sich dreimal überlegen, ob er nicht lieber doch länger arbeitet.
Insofern handele es sich um einen künstlichen Streit, meint Rürup. Und natürlich müsse man die zahlreichen Anreize zur Frühverrentung streichen - etwa die Altersteilzeit.
Die Anhebung des Renteneintrittsalters stößt allerdings auf breiten Widerstand bei SPD und Union. Sowohl Ulla Schmidt als auch der CDU/CSU-Sozialexperte Horst Seehofer halten die damit verbundenen höheren Abschläge bei früherem Renteneintritt für nicht zumutbar. Angesichts von über vier Millionen Arbeitlosen kann das sowieso nur ein Thema für die nächsten Jahrzehnte sein. Denn längere Lebensarbeitszeit würde heute Arbeitsplätze für Jüngere blockieren und so die Arbeitslosigkeit weiter verschärfen. Erst mit dem Rückgang der Erwerbstätigen und damit hoffentlich auch der Arbeitslosen nach dem Jahr 2015 könnte das aktuell werden.
Derzeit ist das Schweizer Rentenmodell in aller Munde. Mit diesem Modell soll angeblich auch Rürup sympathisieren. Und Finanzminister Hans Eichel preist es offen als die Lösung an. Das Schweizer Rentenmodell hat drei Säulen: eine Pflichtversicherung, in die jeder Schweizer 10,1 Prozent seines Einkommens einzahlt - egal wie viel er verdient. Wie bei der Rente trägt der Arbeitgeber die Hälfte. Obwohl Einkommensmillionäre also 100.000 Euro oder mehr im Jahr einzahlen, liegt die Höchstrente bei 1.430 Euro, die Mindestrente ist halb so hoch. Daneben gibt es eine verpflichtende Betriebsrente, in die ebenfalls Arbeitgeber und Arbeitnehmer einzahlen. Und schließlich wird Privatvorsorge mit weitgehender Steuerfreiheit gefördert.
Abgesehen davon, dass es im Nachbarland trotzdem mehr Altersarmut als in Deutschland gibt, ist das hiesige Rentensystem nicht einfach zu ersetzen. Denn zig Millionen Bürger haben Rentenansprüche erworben, die verfassungsrechtlich garantiert sind und deshalb in den nächsten Jahrzehnten ausgezahlt werden müssen. So lange müssten - wenn auch sinkende - Rentenbeiträge erhoben werden. Parallel aber müsste das neue System finanziert werden - eine doppelte Belastung für jetzige und künftige Arbeitnehmer. Das gilt auch für die steuerfinanzierte Grundrente, wie sie der Bonner Wissenschaftler Meinhard Miegel nach skandinavischem Vorbild schon lange fordert. Arbeitgeber und Gewerkschaften winken deshalb ab.
Selbst Rürup plant offenbar nicht den großen Systemwechsel, mit dem die Grünen durchaus liebäugeln:
Die Deutschen haben immer die Sehnsucht nach einem Big Bang. Den wird es in der Sozialpolitik nicht geben.
Neben längerer Lebensarbeitszeit und späterem Renteneintritt will Rürup die ab 2011 geltende Rentenanpassungsformel überprüfen. Die nämlich reiche nicht aus, um die demografischen Lasten auszugleichen: den Rückgang der Erwerbsbevölkerung, die Zunahme der Rentner und die in jeder Generation um vier Jahre steigende Lebenserwartung. Im Klartext heißt das: Das Rentenniveau muss ab 2015 stärker als bisher geplant sinken. Die Renten werden niedriger - und die Privatvorsorge müsste steigen. Auch deshalb wohl will Rürup die von ihm selbst mitgestaltete Riesterrente noch einmal unter die Lupe nehmen.
Viel diskutiert wird darüber, ob man solche Grausamkeiten nicht vermeiden kann durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Dazu gibt es vier Wege: Die Einbeziehung von Selbständigen und Beamten in die Rentenversicherung, die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze, wie derzeit gerade beschlossen, die Einbeziehung von Miet- und Zinseinkünften in die Beitragspflicht und die Umgestaltung des Arbeitgeberbeitrags nach dem Ertrag - also eine Wertschöpfungsabgabe.
Das alles ist aber mehr als problematisch. Denn höhere und zusätzliche Beiträge bringen zwar aktuell mehr Geld in die Rentenkasse. Sie führen allerdings langfristig zu höheren Renten - und das ausgerechnet in der demografisch schwierigsten Zeit nach 2015. Das ist also kontraproduktiv. Dasselbe gilt, wenn man Beamte und Selbständige pflichtversichert, wie es zum Beispiel Ulla Schmidt vorschwebt - ganz abgesehen davon, dass es bei Beamten verfassungsrechtliche Probleme geben dürfte. Trotzdem muss etwas geschehen, denn die Belastung mit Sozialabgaben ist ungerecht verteilt, klagt Ursula Engelen-Kefer:
Wir haben die Verteilung, dass eben diese Kosten für die Finanzierung der solidarischen Sicherungssysteme vorrangig liegen auf den unteren und mittleren Einkommen und auf den kleineren und mittleren Betrieben, die personalintensiv sind. Ein Großbetrieb mit 20 bis 30 Prozent gesamten Arbeitskosten, den juckt das überhaupt nicht. Deshalb denke ich ist das Wichtigste, was die Rürup-Kommission machen müsste, da Vorschläge zu entwickeln, wie man hier zu einer gerechteren Verteilung der Finanzierung kommen kann.
Am besten wäre, wenn dabei auch noch mehr Geld eingesammelt werden könnte, ohne dass dies später die Renten unbezahlbar macht. Wie das funktionieren könnte, ist bisher völlig unklar. Viel einfacher wäre eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage in der Krankenversicherung. Denn dadurch erzielte Mehreinnahmen würden keine zusätzlichen Ansprüche oder Leistungen auslösen. Das Geld stünde für Beitragssenkungen oder zumindest zur Stabilisierung der Beitragssätze zur Verfügung. Hier könnte man also problemlos die Besserverdienenden über die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze zur Kasse bitten sowie Miet- und Zinseinkünfte beitragspflichtig machen. Doch dagegen sprechen einschlägige Verfassungsgerichtsurteile zur Belastung mit staatlichen Abgaben, auf die die DGB-Vize hinweist:
Da wird es sicherlich Grenzen geben. Die müssen ausgelotet werden. Und das erhoffe ich mir von der Kommission.
Obwohl sich die öffentliche Debatte vorwiegend darum dreht, ob die Kommission eine weitere Rentenreform anstoßen wird, sieht der Vorsitzende selber die Hauptaufgabe in der Krankenversicherung. Und da hat er offenbar denselben Ansatz wie der DGB. Rürup stellte jüngst öffentlich die Fragen:
Kann es bei der gegenwärtigen ausschließlich lohnbezogenen Finanzierung bleiben? Macht es Sinn in einer sich ändernden Gesellschaft Gesundheit nur über den Faktor Arbeit zu finanzieren und das auch nur zur Beitragsbemessungsgrenze. Das ist eine Zukunftsfrage. Die werden wir diskutieren.
Wenn Professoren solche Fragen stellen, haben sie meist auch Antworten parat. Rürup plädiert dafür, Teile der Krankenversicherung auszugliedern und der privaten Vorsorge zu überlassen - etwa Zahnersatz, Unfallversicherung oder Schwangerschaftsabbrüche. Daneben soll der hälftige Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung eingefroren und auf die Löhne aufgeschlagen werden. Künftige Beitragssatzsteigerungen - ohne Reform drohen die Krankenkassenbeiträge langfristig weit über 20 Prozent anzusteigen - müssten dann die Versicherten alleine bezahlen. Ansonsten ist Rürup mit der rot-grünen Gesundheitspolitik und ihren Reformvorstellungen durchaus einverstanden:
Das ist völlig konzeptionell in Ordnung. Da decken sich auch die Vorschläge der Ministerin weitestgehend mit dem, was wir im Sachverständigenrat vorgeschlagen haben hinsichtlich der ausgabenseitigen Maßnahmen.
Rürup wird sich allerdings selbst untreu, wenn er gleichzeitig vorschlägt, die Kassenärztlichen Vereinigungen abzuschaffen und nur noch direkte Verhandlungen von Krankenkassen mit Ärzten, Zahnärzten Kliniken und Therapeuten zu erlauben. Daneben will er Versicherte zwingen, stets zuerst zum Hausarzt zu gehen. Dann könnten jeweils zehn Euro Praxisgebühr fällig werden. Sein Kommissionskollege Bernd Raffelhüschen verlangt sogar einen Selbstbehalt von 900 Euro für jeden Kassenpatienten - ein Vorschlag, den Ulla Schmidt strikt ablehnt. Sie will die Gesundheitsreform sowieso schon unter Dach und Fach haben, wenn die Rürup-Kommission noch kräftig diskutieren wird.
Näher am Auftrag ist da schon Rürups Vorschlag, einen Beitragssatz von rund 200 Euro für jeden erwachsenen Versicherten einzuführen und dann auch Beamte und Selbständige zu versichern. Damit wären zudem erstmals Hausfrauen beitragspflichtig. Das würde alle Einkommen über 1.400 Euro entlasten, Geringverdiener aber zusätzlich belasten. Um Härten zu vermeiden, sollen alle Haushalte, die mehr als 15 Prozent für die Krankenkasse ausgeben, staatliche Zuschüsse erhalten - eine neue Milliardensubvention, für die Finanzminister Hans Eichel bestenfalls ein müdes Lächeln übrig hätte. Schon die deutlich billigere und überfällige Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen der Krankenkassen - etwa zugunsten von Familien - ist derzeit chancenlos, wie Ulla Schmidt deutlich macht:
Ich glaube, dass ich hier für meinen Kollegen Hans Eichel sprechen kann, dass wir das nicht so besonders schön finden.
Bei der Pflegeversicherung ist der Kommissionsauftrag klar: Es soll geprüft werden, wie die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung mit ergänzenden Formen der Vorsorge kombiniert werden kann. Das Riester-Modell kommt also auch in der Pflege, der sonst wegen der Bevölkerungsentwicklung trotz milliardenschwerer Rücklagen kräftige Beitragssatzsteigerungen drohen. Geklärt werden muss auch, wie das Verfassungsgerichtsurteil umgesetzt wird, die Beitragslast von Familien mit Kindern in der Pflegeversicherung zu senken.
Schließlich soll die Kommission prüfen, ob die Organisationsstrukturen der Sozialversicherungen noch zeitgemäß und kostengünstig sind. Dabei dürfte es vor allem um die Frage gehen, ob es in Deutschland wirklich 355 Kranken- und Pflegekassen geben muss sowie verschiedene Träger der Rentenversicherung. Der Landesgruppenchef der sächsischen SPD-Bundestagsabgeordneten, Gunter Weißgerber, hat bereits die Einheitskasse gefordert. Und Ulla Schmidt meint, 50 Krankenkassen wären genug.
Die breite Debatte beweist: Nach zahllosen Gutachten und Reformdiskussionen liegen fast alle Vorschläge längst auf dem Tisch. Dass die Rürup-Kommission - wie Hartz - Überraschendes präsentieren wird, ist eher unwahrscheinlich.
Nicht nur verbale Ausfälle, die Koalitionsparteien streiten auch über den tatsächlichen Reformbedarf. Während die Grünen auch bei der Rente eine zweite tiefgreifende Reform vor allem zu Lasten der Rentner anpeilen, sehen führende Sozialdemokraten eine solche Notwendigkeit nicht.
Noch bevor die Kommission also getagt, geschweige denn Ergebnisse vorgelegt hat, geht es drunter und drüber in der Koalition. Im SPD-Präsidium sah sich Parteichef und Kanzler Gerhard Schröder zu einem ungewöhnlich derben Machtwort gezwungen:
Am Anfang hatte ich klarzustellen, dass diese Art von Kakophonie, die man gelegentlich auch aus den eigenen Reihen - und das betrifft die SPD genau so wie die Koalition - zur Kenntnis zu nehmen hat, der gemeinsamen Politik absolut unzuträglich ist.
Worum geht es bei der Rürup-Kommission? Sie hat nur bedingt die Inhalte und damit den Leistungsumfang der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zu diskutieren. Das Gremium soll vielmehr überprüfen, wie sich die demografische Entwicklung langfristig auf die Finanzen der Sozialsysteme auswirkt und wie man kommende Generationen vor unzumutbar steigenden Sozialabgaben bewahren kann. Bundessozialministerin Ulla Schmidt erläutert:
Unsere Systeme der sozialen Sicherung stehen mittelfristig und langfristig vor schwierigen Herausforderungen. Die Kommission hat den Auftrag, die sozialen Sicherungssysteme hauptsächlich unter dem Blickwinkel der nachhaltigen Finanzierung unter die Lupe zu nehmen.
Auf diesen Auftrag hatten die Grünen gedrängt. Sie halten die junge Generation angesichts aktuell steigender Beiträge in der Renten- und Krankenversicherung schon jetzt für überfordert. Die Zustimmung zum neuen Rentenbeitragssatz von 19,5 Prozent gaben die Grünen nur unter der Voraussetzung, dass die Rürup-Kommission als wichtigstes Ziel die Senkung der Lohnnebenkosten ins Auge fasst. Unterstützt werden sie dabei natürlich von den Arbeitgebern, aber auch vom Chef der Arbeitsverwaltung, Florian Gerster. Die Kommission sei "lebensnotwendig für den Arbeitsmarkt". Das sieht auch Bert Rürup so:
Wir können Hartz machen so viel wir wollen. Wenn es nicht gelingt, die Lohnnebenkosten spürbar zu senken oder im Griff zu behalten, werden wir unser Beschäftigungsproblem nicht nachhaltig lösen. Ein Beitragspunkt weniger Sozialversicherungsbeiträge sind 100.000 Arbeitsplätze mehr.
Umgekehrt sind ein Beitragssatzpunkt mehr 100.000 Arbeitsplätze weniger. Und genau das passiert derzeit. Statt der einst von rot-grün versprochenen 40 Prozent klettern die Sozialbeiträge im nächsten Jahr auf fast 42 Prozent - Folge der schwachen Konjunktur und der hohen Arbeitslosigkeit.
Dabei hat die ungünstige demografische Entwicklung noch gar nicht eingesetzt, sieht man einmal von der - glücklicherweise - stetig steigenden Lebenserwartung ab. Die Demografie verstärkt künftig den Trend zu steigenden Lohnnebenkosten. Diesen Trend sollen Rürup und seinen Mitstreiter bremsen.
Da die Kommission so groß ist, wird sie in drei Arbeitsgruppen tagen. Prominente Mitglieder sind unter anderen der Unternehmensberater Roland Berger, DGB-Vize Ursula Engelen-Kefer und IG BAU-Chef Klaus Wiesehügel, Daimler-Vorstand Günther Fleig, Arbeitgeber-Sozialexperte Jürgen Husmann, Edda Müller, Vorsitzende der Verbraucherzentralen, Franz Ruland, Geschäftsführer des Verbandes der Rentenversicherungsträger, die niedersächsische Sozialministerin Gitta Trauernicht, Bayerns AOK-Chef Helmut Platzer sowie zahlreiche Wissenschaftler, darunter Ulla Schmidts Chefberater Karl Lauterbach.
Man sucht also den gesellschaftspolitischen Konsens. Aber anders als bei Hartz verspricht die Bundesregierung zwar eine schnelle Umsetzung der Kommissionsarbeit, will sich dieses Mal allerdings nicht darauf festlegen lassen, genau das zu tun, was im Endbericht stehen wird. Ulla Schmidt macht klar:
Hartz ist Hartz und Schmidt ist Schmidt. Und ich würde an dieser Stelle überhaupt nie sagen von eins zu eins Umsetzung.
Der konsensuale Ansatz dürfte allerdings ziemlich illusorisch sein. Denn die bekannten Positionen vieler Kommissionsmitglieder liegen meilenweit auseinander. IG BAU-Chef Wiesehügel meinte deshalb dieser Tage, es werde keinen gemeinsamen Bericht geben. Eher dürfte die Kommission verschiedene Modelle zur Diskussion stellen. Und Rürup selber, der seine Ideen in zahlreichen Interviews streut, will die Hand für einen einstimmigen Abschlussbericht auch nicht ins Feuer legen:
Es wird natürlich auch Konflikte geben. Ich werde selbstverständlich versuchen, ein möglichst konsensuales Ergebnis hin zu bringen. Allerdings man muss natürlich sehen: Ein Konflikt ist nichts Schlimmes.
Auch Ulla Schmidt weiß, dass sie eine Kommission voller Gegensätze eingesetzt hat:
Ich glaub nicht, dass diese Mischung explosiv ist, aber ich gehe davon aus, dass sie kreativ ist und das ist ja das Entscheidende in dieser Frage.
Beginnen wir mit der Rente. Hier sehen die Grünen trotz Riesterrente und Rentenreform 2001 einen grundlegenden Reformbedarf. Das bestreiten nicht nur führende Sozialdemokraten. Tatsache ist, dass seit Norbert Blüm die Einschnitte sich auf weit über 30 Prozent bei der Rente belaufen. Statt eines Beitragssatzes von etwa 36 Prozent auf dem Höhepunkt der demografischen Entwicklung nach dem Jahr 2030 rechnete Ex-Arbeitsminister Riester deshalb jetzt nur noch mit 22 Prozent.
Allerdings sind die Annahmen der Bundesregierung - vor allem über Konjunktur und Arbeitsmarktentwicklung sowie über die Zuwanderung nach Deutschland - ganz offensichtlich zu optimistisch. Bereits im nächsten Jahr liegt der Beitragssatz gut einen halben Prozentpunkt über dem vor nicht einmal zwei Jahren prognostizierten Wert. Bert Rürup, dessen berufliche Karriere im Kanzleramt unter dem SPD-Kanzler Helmut Schmidt begann und der selbst Sozialdemokrat ist, sieht die Hauptaufgabe nicht bei der Rente. Die wichtigste Reform sei mit der staatlich geförderten Privatvorsorge eingeleitet, schreibt er den Grünen ins Stammbuch, die tiefe Einschnitte auch bei den Renten anmahnen:
So geht es eigentlich nicht darum, eine neue Rentenreform auf den Weg zu bringen. Die Hauptarbeit ist gemacht. Man wird im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung nachjustieren müssen. Das ist eigentlich nichts Neues. Man wird möglicherweise an der Kapitaldeckung mittel- und langfristig noch etwas machen müssen. Aber da sind eigentlich die Hausarbeiten gemacht. Da werden wir noch nacharbeiten müssen.
Nimmt man die eigenen Vorschläge von Rürup, dann wird heftig nachgebessert. Denn er will ab dem Jahr 2011 das Renteneintrittsalter stufenweise jedes Jahr um einen Monat heraufsetzen bis es bei 67 Jahren angelangt ist. Da es für einen früheren Ruhestand kräftige Rentenabschläge von 3,6 Prozent pro Jahr zuzüglich geringerer Anwartschaften von über zwei Prozent gibt, wäre das für Frührentner ein teurer Spaß. Das gilt erst Recht, wenn sich die Arbeitgeber mit ihrer Forderung durchsetzen sollten, die Rentenabschläge bei vorzeitiger Verrentung weiter anzuheben. Dabei sind sich alle einig: Die Deutschen gehen zu früh in Rente. DGB-Vize Ursula Engelen-Kefer erläutert:
Nur noch jedes zweite Unternehmen beschäftigt inzwischen Menschen über 50 Jahre. Und dadurch wird das durchschnittliche tatsächliche Renteneintrittsalter massiv gesenkt, nämlich auf 60,2 Jahre. Das Ziel muss sein, das tatsächliche Renteneintrittsalter der gesetzlichen Grenze überhaupt erst wieder anzunähern.
Und dafür hätten die Unternehmen durch eine andere Personalpolitik zu sorgen. Denn wer heute mit 60 Jahren in Rente gehe, habe Rentenabschläge von 30 Prozent. Mehr sei nicht zu verantworten. Rürup und eine Reihe anderer Wissenschaftler aus der Kommission glauben allerdings, dass man das tatsächliche Renteneintrittsalter nur heben kann, wenn auch die gesetzliche Grenze von derzeit 65 Jahren steigt. Dann gehen automatisch die Abschläge bei Frühverrentung in die Höhe - und jeder wird sich dreimal überlegen, ob er nicht lieber doch länger arbeitet.
Insofern handele es sich um einen künstlichen Streit, meint Rürup. Und natürlich müsse man die zahlreichen Anreize zur Frühverrentung streichen - etwa die Altersteilzeit.
Die Anhebung des Renteneintrittsalters stößt allerdings auf breiten Widerstand bei SPD und Union. Sowohl Ulla Schmidt als auch der CDU/CSU-Sozialexperte Horst Seehofer halten die damit verbundenen höheren Abschläge bei früherem Renteneintritt für nicht zumutbar. Angesichts von über vier Millionen Arbeitlosen kann das sowieso nur ein Thema für die nächsten Jahrzehnte sein. Denn längere Lebensarbeitszeit würde heute Arbeitsplätze für Jüngere blockieren und so die Arbeitslosigkeit weiter verschärfen. Erst mit dem Rückgang der Erwerbstätigen und damit hoffentlich auch der Arbeitslosen nach dem Jahr 2015 könnte das aktuell werden.
Derzeit ist das Schweizer Rentenmodell in aller Munde. Mit diesem Modell soll angeblich auch Rürup sympathisieren. Und Finanzminister Hans Eichel preist es offen als die Lösung an. Das Schweizer Rentenmodell hat drei Säulen: eine Pflichtversicherung, in die jeder Schweizer 10,1 Prozent seines Einkommens einzahlt - egal wie viel er verdient. Wie bei der Rente trägt der Arbeitgeber die Hälfte. Obwohl Einkommensmillionäre also 100.000 Euro oder mehr im Jahr einzahlen, liegt die Höchstrente bei 1.430 Euro, die Mindestrente ist halb so hoch. Daneben gibt es eine verpflichtende Betriebsrente, in die ebenfalls Arbeitgeber und Arbeitnehmer einzahlen. Und schließlich wird Privatvorsorge mit weitgehender Steuerfreiheit gefördert.
Abgesehen davon, dass es im Nachbarland trotzdem mehr Altersarmut als in Deutschland gibt, ist das hiesige Rentensystem nicht einfach zu ersetzen. Denn zig Millionen Bürger haben Rentenansprüche erworben, die verfassungsrechtlich garantiert sind und deshalb in den nächsten Jahrzehnten ausgezahlt werden müssen. So lange müssten - wenn auch sinkende - Rentenbeiträge erhoben werden. Parallel aber müsste das neue System finanziert werden - eine doppelte Belastung für jetzige und künftige Arbeitnehmer. Das gilt auch für die steuerfinanzierte Grundrente, wie sie der Bonner Wissenschaftler Meinhard Miegel nach skandinavischem Vorbild schon lange fordert. Arbeitgeber und Gewerkschaften winken deshalb ab.
Selbst Rürup plant offenbar nicht den großen Systemwechsel, mit dem die Grünen durchaus liebäugeln:
Die Deutschen haben immer die Sehnsucht nach einem Big Bang. Den wird es in der Sozialpolitik nicht geben.
Neben längerer Lebensarbeitszeit und späterem Renteneintritt will Rürup die ab 2011 geltende Rentenanpassungsformel überprüfen. Die nämlich reiche nicht aus, um die demografischen Lasten auszugleichen: den Rückgang der Erwerbsbevölkerung, die Zunahme der Rentner und die in jeder Generation um vier Jahre steigende Lebenserwartung. Im Klartext heißt das: Das Rentenniveau muss ab 2015 stärker als bisher geplant sinken. Die Renten werden niedriger - und die Privatvorsorge müsste steigen. Auch deshalb wohl will Rürup die von ihm selbst mitgestaltete Riesterrente noch einmal unter die Lupe nehmen.
Viel diskutiert wird darüber, ob man solche Grausamkeiten nicht vermeiden kann durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Dazu gibt es vier Wege: Die Einbeziehung von Selbständigen und Beamten in die Rentenversicherung, die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze, wie derzeit gerade beschlossen, die Einbeziehung von Miet- und Zinseinkünften in die Beitragspflicht und die Umgestaltung des Arbeitgeberbeitrags nach dem Ertrag - also eine Wertschöpfungsabgabe.
Das alles ist aber mehr als problematisch. Denn höhere und zusätzliche Beiträge bringen zwar aktuell mehr Geld in die Rentenkasse. Sie führen allerdings langfristig zu höheren Renten - und das ausgerechnet in der demografisch schwierigsten Zeit nach 2015. Das ist also kontraproduktiv. Dasselbe gilt, wenn man Beamte und Selbständige pflichtversichert, wie es zum Beispiel Ulla Schmidt vorschwebt - ganz abgesehen davon, dass es bei Beamten verfassungsrechtliche Probleme geben dürfte. Trotzdem muss etwas geschehen, denn die Belastung mit Sozialabgaben ist ungerecht verteilt, klagt Ursula Engelen-Kefer:
Wir haben die Verteilung, dass eben diese Kosten für die Finanzierung der solidarischen Sicherungssysteme vorrangig liegen auf den unteren und mittleren Einkommen und auf den kleineren und mittleren Betrieben, die personalintensiv sind. Ein Großbetrieb mit 20 bis 30 Prozent gesamten Arbeitskosten, den juckt das überhaupt nicht. Deshalb denke ich ist das Wichtigste, was die Rürup-Kommission machen müsste, da Vorschläge zu entwickeln, wie man hier zu einer gerechteren Verteilung der Finanzierung kommen kann.
Am besten wäre, wenn dabei auch noch mehr Geld eingesammelt werden könnte, ohne dass dies später die Renten unbezahlbar macht. Wie das funktionieren könnte, ist bisher völlig unklar. Viel einfacher wäre eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage in der Krankenversicherung. Denn dadurch erzielte Mehreinnahmen würden keine zusätzlichen Ansprüche oder Leistungen auslösen. Das Geld stünde für Beitragssenkungen oder zumindest zur Stabilisierung der Beitragssätze zur Verfügung. Hier könnte man also problemlos die Besserverdienenden über die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze zur Kasse bitten sowie Miet- und Zinseinkünfte beitragspflichtig machen. Doch dagegen sprechen einschlägige Verfassungsgerichtsurteile zur Belastung mit staatlichen Abgaben, auf die die DGB-Vize hinweist:
Da wird es sicherlich Grenzen geben. Die müssen ausgelotet werden. Und das erhoffe ich mir von der Kommission.
Obwohl sich die öffentliche Debatte vorwiegend darum dreht, ob die Kommission eine weitere Rentenreform anstoßen wird, sieht der Vorsitzende selber die Hauptaufgabe in der Krankenversicherung. Und da hat er offenbar denselben Ansatz wie der DGB. Rürup stellte jüngst öffentlich die Fragen:
Kann es bei der gegenwärtigen ausschließlich lohnbezogenen Finanzierung bleiben? Macht es Sinn in einer sich ändernden Gesellschaft Gesundheit nur über den Faktor Arbeit zu finanzieren und das auch nur zur Beitragsbemessungsgrenze. Das ist eine Zukunftsfrage. Die werden wir diskutieren.
Wenn Professoren solche Fragen stellen, haben sie meist auch Antworten parat. Rürup plädiert dafür, Teile der Krankenversicherung auszugliedern und der privaten Vorsorge zu überlassen - etwa Zahnersatz, Unfallversicherung oder Schwangerschaftsabbrüche. Daneben soll der hälftige Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung eingefroren und auf die Löhne aufgeschlagen werden. Künftige Beitragssatzsteigerungen - ohne Reform drohen die Krankenkassenbeiträge langfristig weit über 20 Prozent anzusteigen - müssten dann die Versicherten alleine bezahlen. Ansonsten ist Rürup mit der rot-grünen Gesundheitspolitik und ihren Reformvorstellungen durchaus einverstanden:
Das ist völlig konzeptionell in Ordnung. Da decken sich auch die Vorschläge der Ministerin weitestgehend mit dem, was wir im Sachverständigenrat vorgeschlagen haben hinsichtlich der ausgabenseitigen Maßnahmen.
Rürup wird sich allerdings selbst untreu, wenn er gleichzeitig vorschlägt, die Kassenärztlichen Vereinigungen abzuschaffen und nur noch direkte Verhandlungen von Krankenkassen mit Ärzten, Zahnärzten Kliniken und Therapeuten zu erlauben. Daneben will er Versicherte zwingen, stets zuerst zum Hausarzt zu gehen. Dann könnten jeweils zehn Euro Praxisgebühr fällig werden. Sein Kommissionskollege Bernd Raffelhüschen verlangt sogar einen Selbstbehalt von 900 Euro für jeden Kassenpatienten - ein Vorschlag, den Ulla Schmidt strikt ablehnt. Sie will die Gesundheitsreform sowieso schon unter Dach und Fach haben, wenn die Rürup-Kommission noch kräftig diskutieren wird.
Näher am Auftrag ist da schon Rürups Vorschlag, einen Beitragssatz von rund 200 Euro für jeden erwachsenen Versicherten einzuführen und dann auch Beamte und Selbständige zu versichern. Damit wären zudem erstmals Hausfrauen beitragspflichtig. Das würde alle Einkommen über 1.400 Euro entlasten, Geringverdiener aber zusätzlich belasten. Um Härten zu vermeiden, sollen alle Haushalte, die mehr als 15 Prozent für die Krankenkasse ausgeben, staatliche Zuschüsse erhalten - eine neue Milliardensubvention, für die Finanzminister Hans Eichel bestenfalls ein müdes Lächeln übrig hätte. Schon die deutlich billigere und überfällige Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen der Krankenkassen - etwa zugunsten von Familien - ist derzeit chancenlos, wie Ulla Schmidt deutlich macht:
Ich glaube, dass ich hier für meinen Kollegen Hans Eichel sprechen kann, dass wir das nicht so besonders schön finden.
Bei der Pflegeversicherung ist der Kommissionsauftrag klar: Es soll geprüft werden, wie die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung mit ergänzenden Formen der Vorsorge kombiniert werden kann. Das Riester-Modell kommt also auch in der Pflege, der sonst wegen der Bevölkerungsentwicklung trotz milliardenschwerer Rücklagen kräftige Beitragssatzsteigerungen drohen. Geklärt werden muss auch, wie das Verfassungsgerichtsurteil umgesetzt wird, die Beitragslast von Familien mit Kindern in der Pflegeversicherung zu senken.
Schließlich soll die Kommission prüfen, ob die Organisationsstrukturen der Sozialversicherungen noch zeitgemäß und kostengünstig sind. Dabei dürfte es vor allem um die Frage gehen, ob es in Deutschland wirklich 355 Kranken- und Pflegekassen geben muss sowie verschiedene Träger der Rentenversicherung. Der Landesgruppenchef der sächsischen SPD-Bundestagsabgeordneten, Gunter Weißgerber, hat bereits die Einheitskasse gefordert. Und Ulla Schmidt meint, 50 Krankenkassen wären genug.
Die breite Debatte beweist: Nach zahllosen Gutachten und Reformdiskussionen liegen fast alle Vorschläge längst auf dem Tisch. Dass die Rürup-Kommission - wie Hartz - Überraschendes präsentieren wird, ist eher unwahrscheinlich.