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Hasifal auf dem Bilderfriedhof

Am Anfang des Bühnenweihfestspiels steht eine Ermahnung. "Schlafhüter mitsammen" schimpft der Gralsritter Gurnemanz seine müden Knappen. Im neuen Bayreuther "Parsifal" ist Gurnemanz ein Eremit oder Steinzeit-Waldschrat mit Zottelbart und Sandalen, die Knappen aber sind Schwarze, irgendwie Eingeborene, und man sieht zwar die Umrisse einer Art von Gralsburg, die Gralsleute leben jedoch in Hütten und Zelten. Drumherum ein Zaun mit Stacheldraht; ein bisschen sieht es aus wie ein Flüchtlingslager. Da finden nun die merkwürdigsten religiösen und pseudoreligiösen Kulthandlungen statt, rätselhafte Zeichen, jede Menge Schriften am Boden, zum Beispiel HIER KNIEN, unverständliches Hantieren an allerlei heiligem Gerät, aber auch an Hasen. Eine dicke halbnackte Frau, eine Art Venus von Willendorf legt sich wie Mutter Erde selbst in einen magischen Kreis, ein maskierter Priester tötet ein Tier, mit dem Opferblut an den Händen stempeln dann die Vertreter aller denkbaren Religionen und Kulte dem reinen Toren Parsifal das weiße Hemdkleid rot, eine gespenstische Zeremonie

Von Holger Noltze |
    Zum letzten Liebesmahle, singt der Chor, aber dann wird das Festspielhaus zum Kino und wir werden Zeuge einer Voodoo-Beschwörung; im allgemeinen Getümmel ist kurz auch ein wahnbefallener Franz Liszt zu sehen. So wie am Ende der letzte Weg zur Gralsburg mit den heiligen Requisiten und Reliquien der bildenden Kunst gesäumt ist: von Mona Lisa bis Warhol-Dose.
    Eine Bilderflut lässt Christoph Schlingensief über die Bühne schwappen, wie sie das Haus noch nicht gesehen hat. Hinter den Projektionen sind manchmal szenenlang durchaus übliche Opernaktionen zu erkennen, drüber und drunter und daneben aber explodieren die Bilder: karge Landschaften, vielleicht Afrika; vielleicht Lehrfilme aus dem Biologieunterricht, Filmsequenzen, Archivschnipsel, Wunden. Und Hasen. Siehe Beuys, siehe Fruchtbarkeit, Wiedergeburt. Kaum ist es möglich, alles zu sehen. Unmöglich, alles zu entschlüsseln.

    Festspielbesucher schauen auf fremde Rituale, eben wie Parsifal beim ersten Gralsbesuch: nix verstehen. Und was ist der Gral? Letztlich, man ahnt es schon, ein Hase. Und während die Musik von Erlösung singt, sieht man, im Zeitraffer, wie der Hase verwest. Erlösung geht, sagt Schlingensief, - über Leichen. Nach Tod und Verwesung aber kommt das Licht, und dann endet der Abend doch noch wie Opern oft enden, mit so einem schönen Transzendenz-Gang ins Licht. So wurde das Festspielpublikum doch nicht um die kleine, die Opern-Erlösung gebracht, wohl aber um den Skandal. Die Buhs, die Schlingensief und sein Team schließlich irgendwie gerührt entgegennahmen, fielen nach der Medien-Hysterie der letzten Wochen fast ein wenig pflichtschuldig aus.

    Der mit Mitte 40 immer noch so genannte "junge Wilde" verweigerte ganz einfach die "Provokation". Und auch wenn viele Turbanträger am Gralhasen standen, war das keine banale Aktualisierung. Schlingensief nahm den Parsifal ernst und persönlich, das heißt existenziell, und hatte in den unzähligen Interviews, die in seinem Fall zum Werk zu zählen sind, so oft und ausführlich über die eigene Nahtoderfahrung und den letzten großen Zeitrafferfilm im Kopf gesprochen, über Nachbilder und Vorbelichtungen, dass es im Saal bald dämmerte, womöglich einleuchtete, Wagners Endspiel als unaufhörlichen, mehrfachbelichteten Bilderstrom zu zeigen. Und auch wenn es technisch noch klapperte und die Bilder ruckelten und man von Personenregie wenig sah: Schlingensief hat Bayreuth mit diesem Parsifal durchgelüftet. Als wäre da, nach allzulangen Jahren, wieder mal ein Fenster geöffnet worden.

    Dass er die neuen, anderen Parsifal-Bilder gegen entschiedene Widerstände der Festspielleitung durchsetzen konnte, ist ein Erfolg seiner Sturheit, zweitens wohl auch der Tatsache zu verdanken dass man sich nach der Absage von Lars von Trier für den nächsten ‚Ring’ noch einen Abgang kaum leisten konnte. Drittens hatte Schlingensief mit dem großen alten Pierre Boulez einen starken Fürsprecher. 1966 war es, dass er in Bayreuth Parsifal dirigiert hatte, danach 1976 den "Jahrhundertring" mit Patrice Chéreau, die letzte echte Erneuerungstat am Grünen Hügel. Wie Boulez nun nach fast vierzig Jahren noch einmal durch die Partitur reist, ist für sich schon ein Ereignis, ein Zauber an Durchsichtigkeit , zügige, aber traumwandlerisch richtige Tempi, ein magisches Pianissimo, vollkommene Phrasierung. Wann hat man das in Bayreuth zuletzt so gehört.

    Dazu ein Ensemble ohne Ausfälle: Robert Holls Gurnemanz hat gegenüber seinem etwas langweiligen Sachs an Präsenz gewonnen; Michelle de Young gab als ewig verwandelte Kundry einen vielversprechenden Bayreuth-Einstand. Mächtig John Wegner als schwarzer Zauberer Klingsor, der Amfortas von Alexander Marco-Buhrmester singt vom Leiden, ohne zu jammern. Und "Parsifal" Endrik Wottrich, der die Inszenierung zwar vorab als "Gräuel" bezeichnet hatte, gab der Partie als blonder Jesus neben einiger Tenorkraftmeierei doch ein paar innige Töne mit.
    Parsifal tauft die inzwischen auch dunkelhäutige Kundry, da sinkt sie entseelt zu Boden, durchaus früher als bei Wagner vorgesehen. So gerät der anschließende "Karfreitagszauber" zu einer bewegenden Totenklage.

    Am Ende überlebt auch Parsifal seine Erlösung nicht. Bloß Gurnemanz bleibt am Leben. Die Schlafhüter von Bayreuth rieben sich die Augen: Boulez und Schlingensief hatten der Gralsburg eine Tür geöffnet, und es war so etwas wie frische Luft durch den Raum gegangen.