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"Hass ist das Böse"

Islamische Traditionalisten streiten sich mit Modernisierern um die korrekte Auslegung des Koran - ein tägliches Gegen- statt Miteinander. Und doch gibt es ihn, den weltoffenen Islam – wie unser Rezensent Rupert Neudeck anhand zweier Bücher belegt, die im Herder-Verlag erschienen sind.

Von Rupert Neudeck |
    Jedes der beiden Bücher kommt aus einer anderen Ecke des Weltislam, aber sie treffen sich in der Vorstellung, den Islam offener, moderner und aufgeklärter zu machen. Das erste Buch ist eine Art Biografie, verfasst von einer Frau, die in der Schweiz lebt, aber im Jemen als Tochter einer aufgeklärten Diplomatenfamilie geboren und aufgewachsen ist: Elham Manea schreibt aus aktuellem Anlass über den "Islam, den Westen und die Menschenrechte". Das Titelbild zeigt sie unverschleiert, man weiß also, dass sie jemand ist, die sich dem Reformislam zugehörig fühlt. Die Autorin nennt ihn gerne den "humanistischen Islam". Seit 1995 lebt sie zusammen mit ihrem Schweizer Ehemann in Bern. Auf die Frage, woher sie komme, antwortete sie immer: "aus dem Jemen". Da wussten viele gar nicht, wo das liegt. Andere schwärmten von der landschaftlichen Schönheit und der einzigartigen Architektur dieses nahöstlichen Staates. "Alle nannten sie Jemenitin". Dann aber geschah es:

    Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hat sich das geändert. Ich bin nicht mehr diese Frau. Von einem Tag auf den anderen wurde ich zu einer Muslimin. Dass der Jemen ein fest umrissenes Territorium hat, ist plötzlich irrelevant. Was zählt, ist eine sehr schwammige Vorstellung von dem, was ein "Muslim" oder eine "Muslimin" ist".

    Das kam für die Autorin sehr überraschend. Fortan wurde sie gefragt: "Können sie uns als Muslimin ihre Meinung sagen zum Islam, zu der Frage, wie die Frauen im Islam behandelt werden bis hin zu dem Problem, wie man mit den bei uns in Europa lebenden Muslimen umgehen soll?!" Damit öffnete sich eine Weltfront im Bewusstsein von Menschen, die sich bisher nicht ausschließlich als Muslime verstanden hatten. Elham Manea mahnt Differenzierung an – in der Wahrnehmung des Islam. Aber auch in der Selbstwahrnehmung der Muslime. Sie unterscheidet zwischen islamischer Tradition und der Haltung des humanistischen Islam. Der Koran, so schreibt sie, sei ein Text, der sich zu seiner Zeit vornehmlich an Männer wandte – er entstand nun einmal in einer männlich dominierten Umgebung:

    Der Koranvers spiegelt den gesellschaftlichen Kontext der Zeit wider, in der Mohammed lebte. Einen Kontext, der als männlich stammesorientiert und patriarchalisch bezeichnet werden kann. Die Rationalität, auf der ein humanistischer Islam basiert, wird betonen, dass das Verständnis für den historischen Kontext ein Schritt in diese richtige Richtung ist. In einem weiteren Schritt sollte man klar und deutlich sagen, dass dieser Vers nicht mehr richtig für die Gegenwart ist. Richtet man sich nach diesem Vers, so stellt dies eine Verletzung der Menschenrechte der Frau dar. Denn heute wird davon ausgegangen, dass Mann und Frau gleichwertige Partner sind, wenn sie beschließen, eine Familie zu gründen. Und heute nennen wir es häusliche Gewalt, wenn ein Lebensgefährte seine Partnerin oder Ehefrau schlägt. Es wird als Delikt verstanden.

    Ganz neu ist dieser Gedankengang nicht – und doch birgt er bis heute Risiken: In den Augen des orthodoxen Islam ist der Koran nämlich kein Dokument seiner Zeit, das mit heutigem Blick gelesen werden könnte. Im Koran offenbart sich nicht Gottes Wort – er ist Gottes Wort und damit über jede Interpretation erhaben. Die Autorin muss sich bewusst sein, dass religiöse Eiferer ihr Apostasie vorwerfen könnten. Dabei bemüht sich die Autorin um Klarstellung. Sie unterscheidet zwischen einer spirituellen und einer legalistischen Sicht auf die Vorschriften des Koran. Die legalistische Sicht sei eben auch die Sicht der Sharia, die ernsthaft überprüft und infrage gestellt werden müsse. Sie ist bis heute die gängige Grundlage der Koranlektüre – und basiert auf den immer gleichen Denkmustern und Schablonen. Ähnlich wie die anderen großen monotheistischen Religionen stößt auch der Islam immer wieder auf Denkverbote. Und Denkverbote müssen in unserer Zeit aufgehoben werden, so fordert die Autorin. Hier nun kommt uns das andere Buch zu Hilfe, das eine in Deutschland lebende Iranerin herausgebracht und übersetzt hat, Katajun Amirpur. Sie hat Texte von vier iranischen Theologen in dem Band "Unterwegs zu einem anderen Islam" zusammengestellt, die uns allen das Herz erwärmen oder die Schuhe ausziehen. Würde diese Debatte, wie diese vier Theologen sie führen, auch in Deutschland geführt - es würde nicht mehr zu solch heftigen Kämpfen um den Bau von Moscheen in Köln, in München oder wo auch immer kommen. Da ist Hasan Yusefi Eshkevari. Er nahm an einer geschichtsträchtigen Konferenz teil, die die Heinrich-Böll-Stiftung im April 2000 in Berlin veranstaltete. Die Stiftung der Grünen hatte 17 Vertreter der iranischen Zivilgesellschaft nach Berlin zu einem Dialog mit iranischen Reformkräften eingeladen, darunter auch Marxisten, linke Exiliraner, Maoisten, Trotzkisten, aber auch islamische Theologen – zum Beispiel Hasan Yusefi Eshkevari. Alle Teilnehmer dieser Konferenz wurden nach ihrer Rückkehr vor ein Revolutionsgericht geladen. Auch Eshkevari wurde nach seiner Rückkehr in den Iran sofort festgenommen und vor einen Sondergerichtshof gestellt. Die Anklage lautete auf "Propaganda gegen die Islamische Republik" und "Beleidigung religiöser Werte". Darunter wurde auch die Kritik an der "Herrschaft des obersten Rechtsgelehrten" verstanden. Seine Äußerungen zur Kleiderordnung im Iran wurden ihm als Apostasie angerechnet. Eshekevari hatte gesagt, man müsse akzeptieren, dass die Art der Kleidung eine private Angelegenheit sei.

    Die Propheten haben den Anspruch vertreten, im Besitz der Wahrheit zu sein. Aber sie haben niemals erklärt: Wir mischen uns in alle Angelegenheiten ein, sind die absolute Wahrheit. Das Volk muss über seine Angelegenheiten bestimmen. Die Reformer lehnen damit alle anderen Formen der Herrschaft ab – sowie die Existenz einer staatlichen Religion. Sie fordern die vollständige, uneingeschränkte Freiheit jeder Religion und die absolute Freiheit der Meinung.

    Mohsen Kadivar, der jüngste unter den Dreien, musste in die USA fliehen und lehrt heute dort. In seinem eigenen Land Iran wird er verfolgt. Er hat am ehesten die Grundlagen der Demokratie mit seinen Vorstellungen vom Islam in Übereinstimmung gebracht. Der Reformislam sieht natürlich vor, dass Frauen gleichermaßen in der Gesellschaft ihre Rolle spielen. Ausgegrenzt, mundtot gemacht, kaltgestellt: Dieses Schicksal ereilte auch Kadivars Lehrer, Großayatollah Montazeri. Er fiel in Ungnade, weil er 1999 öffentlich erklärt hatte, dass der schiitische Glaube Mordanschläge grundsätzlich verurteile. Dafür wurde der Mitkämpfer von Ayatollah Khomeini verurteilt und aus dem Verkehr gezogen. Das Thema Mord als Mittel zur Durchsetzung politisch-ideologischer Ziele ist jedoch noch immer nicht vom Tisch. Es prägt bis heute das Bild vom gewaltbereiten Islam sprengstoffbewehrter Selbstmordattentäter. Daran werden leider auch die klaren und fast schon lapidaren Worte der jemenitischen Autorin Elham Manea nichts ändern, die feststellt:

    Wenn jemand zu mir kommt und mir sagt, dass meine Religion mir befiehlt, andere zu hassen, dann werde ich ihm sagen: "Hass ist das Böse" und "Gott predigt den Hass nicht!" Wenn derselbe Mensch mir sagt, ich soll im Namen meiner Religion töten, dann werde ich zum Telefon greifen und die Polizei verständigen.

    Amirpur, Katajun (Hrsg.): Unterwegs zu einem anderen Islam. Texte iranischer Denker.
    Herder Verlag, 184 Seiten, 16,95 Euro. ISBN: 978-3-451-30309-8

    Elham Manea: Ich will nicht mehr schweigen. Der Islam, der Westen und die Menschenrechte.
    Herder Verlag, 200 Seiten, 17,95 Euro. ISBN: 978-3-451-29756-4