Donnerstag, 28. März 2024

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Hat NRW die Inklusion verschlafen?

Auf einen Rechtsanspruch auf Inklusion sind Lehrer und Schulen in Nordrhein-Westfalen nicht vorbereitet, er sollte aufgeschoben werden, fordert die CDU-Landtagsfraktion. Darüber diskutieren Petra Vogt, Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion, und Eva-Maria Thoms vom Verein "Mittendrin ev. – eine Schule für alle".

03.08.2012
    Manfred Götzke: Vor dreieinhalb Jahren hat Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung unterzeichnet. Das zentrale Anliegen darin: Behinderte Kinder sollen die Möglichkeit haben, eine ganz normale Schule zu besuchen. Passiert ist seitdem allerdings nicht besonders viel. Das könnte sich zumindest in Nordrhein-Westfalen bald ändern, denn ab Mitte 2013 sollen Kinder mit Behinderung einen rechtlichen Anspruch auf gemeinsamen Unterricht haben. So hat es der Landtag im Juli beschlossen. Die CDU in NRW, die sagt jetzt allerdings, das geht uns zu schnell. Die Schulen sind baulich und die Lehrer pädagogisch nicht darauf vorbereitet. Ich möchte darüber heute diskutieren mit Petra Vogt, Schulpolitische Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion, und Eva-Maria Thoms. Die Mutter einer 12-jährigen Tochter mit Downsyndrom hat sich durch die Instanzen geklagt, um einen Platz an einer Regelschule für ihre Tochter zu bekommen. Guten Tag zusammen!

    Eva-Maria Thoms: Guten Tag!

    Petra Vogt: Hallo!

    Götzke: Frau Vogt, was haben die Schulen verschlafen, um gemeinsamen Unterricht schon heute oder in einem Jahr anzubieten?

    Vogt: Also die Schulen haben gar nichts verschlafen, und es ist auch nicht der Ansatz der CDU, zu sagen, uns geht das alles zu schnell. Im Gegenteil, wir sind sehr für Inklusion, und wir möchten sie auch sehr gern an unseren Schulen durchgesetzt haben. Wir glauben aber einfach, die Landesregierung ist nicht aktiv geworden. Das heißt, sie hat die vorbereitenden Arbeiten nicht gemacht. Also beispielsweise Fortbildung der Lehrerkollegen, aber auch klargestellt, dass es dann in inklusiven Klassen auch einen Sozialpädagogen gibt, der entsprechend zur Seite stehen kann, dass die Sonderpädagogen weiter ausgebildet werden und den Schulen zur Verfügung stehen. Also, all das ganze Bündel, das im Grunde genommen erforderlich ist, um diese komplexe Aufgabe qualitativ gut zu bewältigen, ist unserer Meinung nach nicht geleistet worden.

    Götzke: Was müsste denn jetzt noch passieren, damit das noch möglichst schnell passieren kann?

    Vogt: Ja, also wir haben diese Dinge bei uns, in dem Antrag, den wir im Juli noch eingebracht haben in den Landtag, auch entsprechend formuliert. Da haben wir gesagt, es muss die Garantie geben für die Lehrer an den allgemeinbildenden Schulen, dass sie fortgebildet werden. Denn man kann sich ja vorstellen, das sind ganz andere Aufgabenfelder, die die Kolleginnen und Kollegen dort dann betreffen, und da brauchen wir eine Fortbildung. Und man muss ihnen eben auch die Garantie geben, dass sie einen Sonderpädagogen an ihrer Seite haben, denn ansonsten können sie diese Aufgabe nicht bewältigen. Und wenn man das nicht macht, dann hat man hinterher die Situation, dass eigentlich keiner Seite gedient ist. Die Lehrer, die motiviert an die Arbeit gehen, fühlen sich allein gelassen und wissen nicht, wie sie damit klarkommen sollen, und die behinderten Kinder sind dann auch nicht am richtigen Ort, denn sie werden nicht entsprechend gefördert.

    Götzke: Frau Thoms, Sie sind ja dagegen, dass der Rechtsanspruch mit Verspätung in Kraft tritt, aber was haben Sie von einem Rechtsanspruch, wenn die Schulen noch nicht so weit sind?

    Thoms: Ich würde mal bezweifeln, dass, wenn man das Ganze noch ein Jahr aufschiebt, dass die Schulen dann auch nur einen Schritt weiter sind. Also man – Frau Vogt, Sie sind ja selber Oberstudienrätin, also Lehrerin, Sie wissen ja, wie das läuft. Sie haben jetzt vorgeschlagen, 30 Millionen Euro in die Fortbildung und ansonsten auch in die bessere Ausstattung des gemeinsamen Unterrichts zu investieren. Das finde ich großartig, dass Sie das fordern, wir sind sehr, sehr froh, dass die CDU sich, was die Qualität der inklusiven Bildung betrifft, an unsere Seite stellt, aber da jetzt mit einem Vorschlag zu kommen und zu sagen, dann schieben wir das Ganze doch noch mal ein Jahr, muss ich sagen, weiß ich nicht, was Sie damit erreichen wollen. Sie könnten 60 Millionen Euro in die Fortbildung stecken, in den Etat stecken, und trotzdem würden die Lehrer und würden auch die Schulen die Fortbildungen nur dann nutzen, wenn sie da sozusagen konkret mit der Aussicht konfrontiert sind, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf auch in ihre Schule kommen. Und das ist eben erst so weit, wenn es den Rechtsanspruch gibt. Abgesehen davon, mal ganz ehrlich. Also seit 30 Jahren kämpfen Eltern darum, dass ihre Kinder auf Regelschulen gehen können, und seit 2009 geben die Vereinten Nationen für Deutschland rechtsgültig diesen Kindern einen Rechtsanspruch. Das ist nun über drei Jahre her. Wie lange wollen Sie denn noch warten. Sie können ja, müssen ja langsam damit rechnen, dass die Kinder, die 2009 schon einen Anspruch gehabt hätten, bald nicht mehr in der Schule sind. Also wer jetzt mit so einem Vorschlag kommt, setzt sich wirklich dem Verdacht aus, es nicht ernst zu meinen mit der Inklusion.

    Götzke: Frau Vogt, nehmen Sie Inklusion nicht ernst?

    Vogt: Oh doch. Wir nehmen die sehr ernst. Und deswegen sagen wir ja auch nicht, dass die Schuld aufseiten der Schulen liegt oder schon gar nicht bei den Eltern dieser Kinder liegt, sondern es ist einfach ein Versäumnis der Politik, dass man …

    Götzke: Gut, das hätte ja auch die Vorgängerregierung mal einstielen können, also die Inklusionskonvention gibt es ja seit 2008, 2009, und das war absehbar.

    Vogt: Ja. Aber ich meine, jetzt darf ich sagen, dass ich weder dem Landtag angehörte beziehungsweise dass meine Fraktion auch in den vergangenen zwei Jahren dort nicht die Mehrheit gestellt hat. Aber ich glaube, das ist jetzt auch nicht der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt ist einfach der, dass man dieses Thema nicht einfach so abhandeln kann, wie das in der Vergangenheit in Schule häufig passiert ist, dass man gesagt hat, okay, wir machen es jetzt einfach mal irgendwie, es ist zwar keiner so richtig darauf vorbereitet, aber irgendwie werden die Lehrerinnen und Lehrer es schon hinbekommen. Und ich weiß das sehr gut, gerade auch aus meiner eigenen Tätigkeit: Das wird nicht funktionieren. Und da haben wir einfach große Sorge um die behinderten Kinder, aber auch um die nichtbehinderten Kinder, dass sich da dann, wenn es nicht vernünftig gemacht wird, wirklich mehr Frust aufbaut, als dass es beiden Seiten zugutekommt. Also wir wollen das – das ist wirklich falsch verstanden, wir wollen das nicht verschieben, weil wir es nicht ernst nehmen oder weil wir es nicht haben wollen, sondern wir wollen, dass genau der umgekehrte Schritt gegangen wird, dass man jetzt ganz dringend anfängt, die vorbereitenden Maßnahmen zu treffen. Wir haben noch ein Schuljahr, und wenn wir dieses Schuljahr nutzen, dann kann es auch vernünftig umgesetzt werden. Aber so diese Mentalität, na ja, wir machen es mal irgendwie, und die Lehrer, die werden es schon richten, das funktioniert bei einer so anspruchsvollen Aufgabe nicht.

    Götzke: Frau Thoms, teilen Sie diese Sorge?

    Thoms: Ich hätte eigentlich mal einen Vorschlag. Also, wenn die CDU sich jetzt hinstellen würde und sagen würde, wir sind auch für den Rechtsanspruch, und zwar so schnell wie möglich, und zwar 2013/2014, und wenn die CDU dann mit ihren Vorstellungen, was die Qualität betrifft, konstruktiv in die Verhandlungen mit der Regierung eingeht und sozusagen dafür sorgt, dass dieses Gesetz, dass die Schulgesetzänderung auch zügig durch den Landtag kommt, und wenn sie dann beim Thema Ressourcen, Stichwort 30 Millionen, das wirklich vorschlägt und nicht immer gleich im gleichen Atemzug die Schuldenbremse erwähnt, dann würde man da mit Sicherheit schnell zu einer Lösung kommen, weil, so wie ich die jetzige Landesregierung kennengelernt habe, ist es nicht so, als wenn die kein Geld in die inklusive Bildung stecken wollten. Das Problem sind die Haushaltsauseinandersetzungen, die da im Landtag ständig stattfinden. Und ich kann da nur als Außenstehende sagen, das ist wirklich nicht mehr so wirklich verständlich, und wir wären Ihnen sehr, sehr dankbar, wenn Sie die beiden Themen dann endlich mal trennen würden.

    Götzke: Frau Thoms, Schleswig-Holstein und Bremen praktizieren schon länger gemeinsamen Unterricht, inklusiven Unterricht. Was kann NRW von dort lernen?

    Thoms: Am meisten kann NRW im Moment an diesem Punkt von Hamburg lernen, nämlich den Rechtsanspruch auf inklusive Bildung endlich einzuführen.

    Götzke: Frau Vogt, was sagen Sie dazu?

    Vogt: Ja. Ich habe ja nichts gegen einen Rechtsanspruch, aber ich finde, es gehört zur Ehrlichkeit zur Politik, zu sagen, und das kann die Landesregierung ja auch tun, ich kann aufgrund finanzieller Beschränkungen oder ich will, weil ich andere Prioritäten setze, mich des Themas nicht so ernsthaft annehmen. Aber ich finde, es gehört zur Fairness, das dann auch zu sagen, das man es im Grunde genommen macht, ohne es wirklich vernünftig vorbereitet zu haben. Und da ist einfach unsere große Sorge, dass das so passieren wird. Und Sie können mir glauben, diese Sorge wird an sehr vielen Schulen geteilt, die etwas auf sich zu kommen sehen, von dem sie auch nicht wissen, wie sie neben den anderen Problemen, die es ja im Schulalltag gibt, noch damit umgehen sollen. Und das halten wir für verantwortungslos, einfach mal zu sagen, wir schauen, wie es werden wird. Und Sie haben uns immer auf Ihrer Seite, und wir stehen da auch für, dass wir sagen, wir kümmern uns ernsthaft darum und wir wollen diese Ressourcen einsetzen. Und wir wollen das Thema dann auch wirklich gut in Nordrhein-Westfalen schultern können und freuen uns einfach auch, wenn wir dann hinterher die Möglichkeit haben, das qualitativ hochwertig durchzusetzen.

    Götzke: In Nordrhein-Westfalen gilt in einem Jahr ein Rechtsanspruch auf inklusiven Unterricht. Zu früh, sagt Petra Vogt, Schulpolitische Sprecherin der CDU im Landtag. Eva-Maria Thoms vom Verein "Mittendrin e.V. Eine Schule für alle" sieht das anders. Vielen Dank!

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