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Hat Scharping die Seriosität der Politik verraten?

    Gerner: Rudolf Scharping hat den ersten Tag vor dem Verteidigungsausschuss ohne Rücktritt überstanden. Heute wird der Ausschuss die Sitzung fortsetzen. Die Opposition will den Minister mittels eines Videos Geheimnisverrat vorwerfen. Zugleich beginnen die Beratungen über den Haushalt mit der Aussprache über den Kanzleretat morgen. Dann wird es auch zur Generalabrechnung Gerhard Schröders mit den CDU-Spitzen Merz und Merkel kommen und man darf gespannt sein, wie der Kanzler und seine Partei dort durchkommen. Am Telefon ist Hermann Scheer, Bundestagsabgeordneter der SPD. Ich grüße Sie!

    Scheer: Guten Morgen.

    Gerner: Herr Scheer, eine Zeitung titelt heute "Scharping drei Schritte vom Abgrund". Schaut Rudolf Scharping noch hinein in diesen Abgrund?

    Scheer: Ich sitze nicht in dem Verteidigungsausschuss, wo die Fluglisten und die jeweiligen Begründungen dafür durchgegangen werden. Ich hätte auch keine Lust, so etwas zu tun. Das Problem ist doch eher ein anderes, dass er - inzwischen von ihm auch selbst zugegeben - eine in bestimmten Veröffentlichungen versehene Stillosigkeit begangen hat und manches nicht maßstabgerecht war. Unabhängig von dieser ganzen Fluglistensache wird er das persönlich austragen müssen. Er wird auch noch eine Weile daran schleppen. Ob das jetzt gewissermaßen der Grund für einen großen Rücktrittsauftritt wäre, das ist im Grunde genommen die eigentliche Frage, und das ist sicher ein anderes Problem.

    Gerner: Wird nur Rudolf Scharping daran schleppen oder auch Ihre Partei?

    Scheer: Das ist ja immer so. Wenn einer in einem bestimmten Kreuzfeuer steht, der natürlich nicht nur ein Individuum ist, sondern der Bestandteil einer Regierung ist, der eine wichtige Rolle in einer Partei spielt, zieht das immer in der Art und Weise, wie es wahrgenommen wird, andere und den gesamten Laden eine gewisse Zeit in eine gewisse Mitleidenschaft.

    Gerner: Wie lange kann diese Zeit sein?

    Scheer: Das geht meistens so schnell vorüber wie es gekommen ist. Ich glaube, mittel- und längerfristig ist die wichtige Frage trotz aller Schlagzeilen das, was politisch passiert. Ich glaube, dass dies die Leute letztlich mehr interessiert.

    Gerner: Sie wurden neulich mit dem Satz zitiert, Sie sehen nicht ein, weshalb Sie eine Verteidigung innerhalb der Fraktion für Rudolf Scharping herstellen müssten. Ist das eine Einzelmeinung?

    Scheer: Nein, das habe ich so gemeint, das meine ich auch heute noch. Ich denke nicht, dass die Veröffentlichung von irgendwelchen Urlaubsfotos oder die Frage, ob man einen kurzen Trip über lange Strecken macht, auch wenn es dienstlich und formal völlig gerechtfertigt ist, wie es in der letzten Woche vorwiegend in den Medien stand, dass eine solche Sache, die mehr die Frage eines individuellen Maßstabs des betreffenden berührt, in ein politisches Gremium gehört. Das ist meine Meinung.

    Gerner: Herr Scheer, wenn aber Rudolf Scharping zumindest keine Geheimnisse verraten hat, was ihm heute vorgeworfen wird, hat er die Seriosität der Politik in gewisser Weise verraten?

    Scheer: Das sind sehr stark persönliche Fragen. Es ist nicht unseriös, irgendwo baden zu gehen, auch mit einem Lebenspartner. Die Frage, zu welchem Zeitpunkt und wie man das entsprechend macht, das sind so persönliche Fragen. Das muss man persönlich austragen.

    Gerner: Die Frage dahinter, Herr Scheer, die ich meine, ist: Gibt es neben der juristischen, rechtlichen Messlatte, wo man, wie sich herauszustellen scheint, Rudolf Scharping nicht ans Zeug kann, eine moralische Messlatte und wo legen Sie die?

    Scheer: Moralisch ist das wieder etwas anderes. Es tut mir leid, dass wir so lange daran herummachen. Für mich gibt es angenehmere Gespräche.

    Gerner: Aber es beschäftigt Ihre Fraktion in diesen Tagen.

    Scheer: Ja, klar. Es ist eine Frage des individuellen Maßstabs, den man dabei hat. Wenn man hier als einzelner ein Augenmaß, bezogen auf das, was in einer solchen Situation eigentlich erwartet wird, hat vermissen lassen, dann ist das immer eine Geschichte, die man persönlich austragen muss, es sei denn, das Augenmerk verletzt eklatant die politischen Linien, für die man politisch zu stehen hat. So wie ich nicht wollte, dass diese Vorgänge zum Bestandteil einer Diskussion eines politischen Gremiums werden, ob im SPD-Vorstand oder in der SPD-Fraktion, so nehme ich dann auch ungern zu solchen Sachen politisch Stellung.

    Gerner: Ist Rudolf Scharping jetzt ein Klotz am Bein für die Probleme, die die Bundesregierung neben Rudolf Scharping hat?

    Scheer: Um es jetzt nicht weiter zu individualisieren, was die Frage Rudolf Scharping anbetrifft. Es ist natürlich keine Frage, dass wir heute vor riesigen Problemen stehen, die nicht neuer Art sind. Wir haben eine Fülle von Zuspitzungen, die zusammenhängen mit der weltwirtschaftlichen Entwicklung, die zusammenhängen damit, dass eigentlich die Staatseinnahmen nicht so sind, wie sie sein müssten, weil sehr viele, die es sich leisten können, sich den Steuern entziehen. Das ist ein Dauerproblem. Das ist nicht entstanden im Jahr 1998, es ist nicht ursächlich bei der Regierung zu verankern, aber sie hat das Problem zu lösen. Sie hat das im Moment genauso wenig im Griff wie andere Regierungen auch.

    Gerner: Herr Scheer, nehmen wir ganz konkret morgen die Generalaussprache zum Kanzleretat. Da sind ja viele Stichworte: Zuwanderung; da gibt es erste Abweichler auch in Ihrer Partei. Das Thema "19 Abweichler bei der Mazedonien-Entscheidung", Scharping, die Neuverschuldung, die Arbeitslosenzahlen. Wie wollen Sie der Opposition dort mit Argumenten begegnen?

    Scheer: Bevor ich das jetzt im einzelnen aufliste, möchte ich eines sagen: Mit dem Begriff Abweichler gehe ich nicht unbedingt konform. Wenn man irgendwo mal eine andere Meinung hat und widerspricht, im Zuge einer politischen Willensbildung - die hat etwa bei der Zuwanderung gerade erst begonnen -, wäre es doch absolut fatal, wenn bei einer komplizierten Materie gewissermaßen auf Vorlage des dafür zunächst einmal zuständigen Ministers sofort alle stramm stehen und sagen, jetzt wird nicht mehr diskutiert, zu und durch. Das passt doch gar nicht in eine Demokratie. Das passt nicht in eine demokratische Partei. Die Öffentlichkeit will Geschlossenheit haben, um zu wissen wen sie wählt. Sie will aber auch keine Friedhofsparteien haben. Die politische Handlungskunst jeder Partei - das geht eine Parteiführung an, das geht aber jeden, der irgendwo selbst eine Rolle spielt, mit an - ist, wie kriegt man beides hin, wie kriegt man eine lebendige Diskussion hin, die dann aber nicht zersetzend wirkt und die dem Eindruck und dem Bedürfnis des Wählers auch nach Geschlossenheit entgegenkommt. Es ist überhaupt völlig unmöglich zu erwarten, dass es nicht irgendwo mal Meinungsverschiedenheiten gibt und es dann knirscht. Je wichtiger die Themen sind, desto eher kommt das natürlich. Da ist das Problem Zuwanderung, da ist das Problem Mazedonien und das wird in Zukunft auch bei anderen Problemen so sein.

    Gerner: Gibt es in Ihrer Fraktion den Eindruck, dass die Parteispitze mithin zu häufig mit der Peitsche vorgeht?

    Scheer: Sie hat es vor dem Mazedonien-Konflikt und der Abstimmung nicht gemacht. Sie ist mit denen, die anderer Meinung waren, meines Erachtens sehr sorgsam umgegangen. Sie hat sorgsame Sinne. Es wurde sehr lange und sehr breit diskutiert und es kam jeder zu Wort und es wurde nicht irgendwie versucht, jemandem eine bestimmte Haltung abzupressen. Ich kann das sagen als jemand, der vor zwei Jahren beim Kosovo-Krieg dagegen gestimmt hat, entschieden dagegen gestimmt hat und das heute wieder tun würde, aber der in diesem Fall, weil das nicht vergleichbar ist, was dort in Mazedonien geschieht und notwendig ist, zugestimmt hat. Ich habe wenn man so will auch Abweicherfahrungen. Ich kann nicht sagen, dass dort irgendwie ein unverhältnismäßiger Druck ausgeübt wurde. Appelle sind kein Druck und wenn man mal nicht mitstimmt, dass dies die anderen nicht gerne sehen, das ist klar. Das muss man auch individuell dann aushalten. Ich hielt die Reaktion anschließend, nachdem dann abgestimmt worden war, von Franz Müntefering - das habe ich auch in der Fraktion mit zum Ausdruck zu bringen versucht - eigentlich für überzogen, gewissermaßen nicht in dem Stil, wie er vorher diese Frage diskutiert hat. Dass man natürlich jetzt versucht, seitens der SPD-Führung und seitens des Bundeskanzlers gewissermaßen im Vorgriff auf eine nächste Entscheidung, wo es um die Verlängerung eines Mandats geht, unbedingt sicherzustellen, dass jetzt eine eigene Mehrheit aus den Regierungsfraktionen zu Stande kommt, das ist wiederum politisch verständlich.

    Gerner: Herr Scheer, bleibt Rudolf Scharping bis zur Bundestagswahl im Amt?

    Scheer: Das weiß ich nicht. Ich glaube, es gibt in der Tat viel wesentlichere Fragen bis zur Bundestagswahl, nämlich die Frage, wie ist es möglich, in schwieriger gewordenen Konjunkturzeiten die Haushaltsstabilisierung fortzusetzen. Viel wichtiger als ein, zwei oder fünf Flüge von Rudolf Scharping ist die Frage, ist zum Beispiel die Bundeswehrreform, so wie sie gegenwärtig geplant wird, so überhaupt richtig.

    Gerner: Aber die Bundeswehrreform hängt auch an einer Person, die sie propagiert. Das ist Rudolf Scharping.

    Scheer: Ja, das stimmt schon, aber es ist gleichzeitig immer eine Frage der Verantwortung etwa einer Regierungsfraktion, eines Parlaments, diese Frage mit zu diskutieren. Die reine Individualisierung von Problemen führt meistens am Thema vorbei.

    Gerner: Hermann Scheer, danke für dieses Gespräch! - Das war Hermann Scheer, Bundestagsabgeordneter der SPD.

    Link: Interview als RealAudio