Samstag, 18. Mai 2024

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Haunted by wars [1913-2013]
Tanzuraufführung von Eszter Salamon

Von Alexander Kohlmann | 10.08.2014
    Es sind Klänge aus einem düsteren Geschichtsraum, Geschichte die nachhallt, die die ungarische Choreografin Eszter Salamon auf die Bühne gebaut hat. Menschenleer ist die riesige, dunkle Halle, vor der das Zuschauerpodest aufgebaut ist. Hinten rechts liegen verstreut die Knochen eines Skeletts, zwei Jahreszahlen leuchten vor der Rückwand.
    Dazwischen finden sich sechs Tänzer in schwarzen Anzügen zu einer Art Schwarm der Kriegsopfer zusammen. Nur die dunkelhäutigen Gesichter sind mit einer Art Kriegsbemalung weiß geschminkt. Wie fratzenhafte Totenschädel sehen sie aus. Laut Programmheft zeigt Salamon Tänze, die in Konfliktregionen der letzten 100 Jahre entstanden sind. Es geht um Kriege andernorts, die die westliche Welt auf verschiedene Kontinente getragen hat. Vietnam, Burundi, Südafrika, Mikronesien, Haiti, Argentinien.
    Aus dem kollektiven Gedächtnis verschwundene Kriege
    Wo wir uns gerade befinden, wissen wir an diesem düsteren Abend nie. Immer neue, kleine Schilder mit Jahreszahlen holen die Tänzer aus dem Off auf die Bühne: 1983, 1935-36, 1982-2013. Daten, mit denen nicht jeder sofort die zugehörige kriegerische Auseinandersetzung verbindet. Kriege zudem, die längst aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden sind. Wie Grabsteine stehen diese Schilder dort, rauben im Verlauf der zweieinhalb Stunden den bedrängten Körpern zunehmend den Raum zum Tanzen.
    Mit Stöcken, gegeneinander, mit Totenkopfmasken und einmal als eine Art Rodeo mit angehängten Pferdeschwänzen winden sich die Körper in bizarren Verrenkungen. Während die einen ihre Stöcke auf den Boden schlagen, zucken die anderen immer wieder zusammen - wie von imaginären Einschlägen getroffen. Dazwischen Momente von großer Traurigkeit. Gesänge und Schreie der Verzweiflung - Menschen, die sich erst aufbäumen und dann in sich zusammenfallen.
    Kraftvolle Performance
    Die Kraft dieser Performance ist groß - und dabei vor allem der Eindruck des Ausgeliefertseins, der allen Tänzern gemeinsam ist, die sich in immer neuen Kampfaufstellungen gegen ein unsichtbares Übel zu wehren scheinen. Menschen, die, wie Affen in einem Zoo, die Verwicklungen ihrer Umwelt hinnehmen - und sich mit ihren Körpern irgendwie dazu verhalten müssen. "Haunted by wars", heißt diese Choreografie, und tatsächlich wirken diese Geister bedrängt. Von immer neuen Kriegen, deren Ursachen sie nicht verstehen.
    Das Verhältnis von Choreografie und Geschichte will Eszter Salamon in einem großangelegten Projekt untersuchen. "Haunted by wars" ist hierzu nur der erste Teil. Geschichte drückt sich für die Choreografin nicht nur in wissenschaftlicher Quellenforschung aus. Sondern in der Untersuchung von Tänzen, in denen Menschen sich im Angesicht der Gewalt auszudrücken versuchen. Das ist ein faszinierender Zugriff, der die letzten 100 Jahre Kriegsgeschichte tatsächlich emotional rezipierbar macht.
    Noch schöner, nicht nur für den Historiker, wäre es allerdings, wenn man während der zweieinhalb Stunden wüsste, wo und in welcher Zeit man sich genau befindet und Konflikt und Reaktionen bewusst vergleichen könnte. So verschwimmen die Tänze und Krämpfe zu einem schwarmhaften Ganzen.
    Ganz zum Schluss dann, der bedrückendste Moment. Die Tänzer haben ihre Kriegsbemalung abgelegt und kommen in Alltags-Klamotten, ausgewaschenen Jeans und T-Shirts auf die Bühne. Wir sind nach 100 Jahren Kriegsgeschichte in der Gegenwart angekommen und gucken in die Gesichter von Menschen von heute, die überall auf der Welt im Zeichen neuer Jahreszahlen neue Reaktionen entwickeln. Mit ihren Körpern, deren Verformung durch den Krieg hier eindrucksvoll ins Zentrum der Auseinandersetzung gerückt worden ist.