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Hausärztemangel in der Schweiz

Oft werden die eidgenössischen Sozialversicherungen in Deutschland als Erfolgsmodell gefeiert. Dabei kämpfen auch die Krankenkassen in der Schweiz mit ständig steigenden Kosten. Mitte 2002 erließ man daher einen Niederlassungsstopp für Ärzte. Außerdem gibt es für das Studienfach Medizin immer noch einen Numerus Clausus. Die Folge: Vor allem auf dem Land und in entlegenen Bergregionen entwickelt sich der Hausarztmangel zum Problem. Im Kanton St. Gallen arbeitet eine deutsche Ärztin im Alter von 70 Jahren immer noch.

Von Markus Wiegand |
    Das Wartezimmer ist voll: ein ganz normaler Arbeitstag für Gertrud Hoelzl. Mit Elan läuft die große, blonde Ärztin durch ihre Praxis in Sevelen im St. Galler Rheintal. Ein Lächeln hier, eine kurze Aufmunterung da und schon geht es zum nächsten Patienten. Obwohl ihr die Arbeit großen Spaß macht, hat sie ein Problem: Denn Gertrud Hoelzl ist bereits 70 Jahre alt. In ihrer Pause erklärt die Hausärztin, warum sie trotz ihres Alters ein Wochenpensum von oft mehr als 50 Stunden pro Woche leistet.

    "Ich arbeite noch, weil ich keinen Nachfolger gefunden habe, der für die Praxis in Frage kam. Und warum finde ich keinen Nachfolger? Weil es wenig gibt. Und warum gibt es wenig? Weil Sache nicht mehr attraktiv ist. Und warum ist sie nicht mehr attraktiv. Weil das Einkommen um 40 Prozent gesunken ist in den letzten Jahren."

    Die Einschnitte im Gesundheitssystem haben in den vergangenen Jahren vor allem die Hausärzte getroffen. Für die wenigen Nachwuchskräfte ist es daher attraktiver im Spital als Facharzt zu arbeiten. Ein weiterer Pluspunkt für den Dienst im Krankenhaus: Die Ärzte dort müssen sich nicht selbstständig machen und durch den Kauf einer Praxis verschulden. Wer aber die Praxis von Gertrud Hoelzl übernehmen will, der muss nach ihrer Ansicht hauptsächlich eines mitbringen.

    "Vor allen Dingen muss er selbstlos sein. Die Ansprüche an die Freizeit dürfen nicht zu groß sein. Auf dem Lande erwartet man einfach, dass sie rufbereit sind. Tag und Nacht."

    Gertrud Hoelzl, eine gebürtige Deutsche, kam nach ihrem Studium in Berlin vor mehr als 35 Jahren ins Land. Und blieb. Neben den wirtschaftlichen Herausforderungen muss man sich auch menschlich an das Landleben erst gewöhnen, sagt sie.

    "Man muss eben glaubwürdig sein und man muss ehrlich sein. Die Leute auf dem Lande sehen ihren ganzen Alltag. Sie können den Arzt von morgens bis abends verfolgen. Die geografischen Abstände sind nicht groß. Und daher müssen sie ihr Leben auch perfekt an der Öffentlichkeit leben."

    Und das wollen immer weniger Mediziner in der Schweiz. Daher suchen Schweizer Hausärzte zunehmend auch in Deutschland Nachwuchs. Während sich auf eidgenössische Inserate oft nur fünf Bewerber melden, können es bei Anzeigen in deutschen Fachblättern schon mal bis zu 50 sein. Dennoch: Gerade deutsche Ärzte malen sich die Verdienstmöglichkeiten und das Leben auf dem Lande oft zu positiv aus, weiß Gertrud Hoelzl. Bei etlichen Bewerbern fehlt es zudem an der fachlichen Qualifikation. Findet sich kein Nachfolger, könnten die Kranken im Ort die Leidtragenden sein, sorgt sich die Ärztin. Was machen ihre Patienten, wenn sie die Praxis schließt?

    "Ja, nicht mehr krank werden!", sagt eine Patientin und lacht. Weil es in der Umgebung tatsächlich so ist, dass einen keiner mehr nimmt, wenn man einen neuen Arzt sucht. Und ich kenne sie natürlich schon seit ich ein Kind war. Ich lasse sie schweren Herzens gehen. Nein, ich mag ihr den Ruhestand gönnen, aber als Mensch wird sie mir fehlen."

    Noch hat Gertrud Hoelzl die Hoffnung nicht aufgegeben, jemanden zu finden, der die Vorteile eines Hausarztes auf dem Land zu schätzen weiß: Den abwechselungsreichen Alltag, den Kontakt zu den Patienten und die ländliche Idylle mit den schneebedeckten Bergen ringsherum. Dennoch, eins weiß sie ganz genau: Wann sie endgültig aufhören wird.

    "Am 31.12 .2005. Ich hoffe natürlich, dass wir jemanden finden. Aber wenn wir keinen finden, habe ich eigentlich nicht vor, das weiter zu machen. Dann ist eben keiner da. Ich habe diese ganzen Jahre extrem viel gearbeitet. Und ich habe gerne gearbeitet. Aber jetzt ist einfach mal Schluss."