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Hausarbeitsheft mit Jugendtypen

72 Jugendliche haben sich selbst beschrieben. Und die Forscher der Sinus-Studie erkennen in den Ergebnissen sieben verschiedene Lebenswelten, eine Art "Werte-Patchwork".

Von Jürgen König | 28.03.2012
    Nicht Einzelaspekte - wie der Alkoholkonsum von Jugendlichen oder ihr Medienverhalten - wurden hier untersucht: Nein, einen Gesamtüberblick über die Wertvorstellungen junger Menschen versucht die Studie zu geben, basierend auf einer Stichprobe von 72 Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren aus dem ganzen Bundesgebiet. Gleichmäßig verteilt nach Geschlecht, Wohnort und dem Besuch von Ganztags- und Halbtagsschulen, hatten sie ein "Hausarbeitsheft" mit ausführlichen Selbstdarstellungen zu schreiben, wurden dann bei sich zuhause etwa zwei Stunden lang mit den Methoden des "narrativen Interviews" befragt: Die Jugendlichen konnten also von sich aus, ohne vorgegebene Fragen, erzählen, was ihnen wichtig ist. Die Ergebnisse dieses aus der Ethnomethodologie adaptierten Verfahrens gelten aus aussagekräftig – trotz der relativ geringen Anzahl der Studienteilnehmer.

    Auch die Zimmer der Jugendlichen wurden fotografisch dokumentiert. Nach der Auswertung dieser "Explorationen" machten die Bildungsforscher vom Sinus-Institut sieben verschiedene Lebenswelten von Jugendlichen aus: ein differenziertes Bild, das zentrale Erkenntnisse ermöglicht. Marc Calmbach, einer der Autoren der Studie:

    "Die Jugend steht enorm unter Druck, sie nimmt vielfach wahr, dass der Wert eines Menschen in erster Linie in seiner Leistungsfähigkeit beziehungsweise Bildungsbiografie bemessen wird. Und das frustriert und verunsichert vor allem die Jugendlichen am unteren Rand der sozialen Stufenleiter, also vor allem die bildungsbenachteiligten Jugendlichen."

    Das Bedürfnis nach Halt sei allgemein wichtiger geworden, auch das Ansehen traditioneller Werte wie Sicherheit, Pflichtbewusstsein, Familie und Freundschaft. Gleichzeitigen "ticken" aber nur wenige Jugendliche "traditionell", viele hätten ein enormes individuelles Leistungsethos entwickelt. Ein "Werte-Patchwork": Man will sich etwas ansparen, aber sich auch etwas leisten, man will Karriere machen, aber auch "hart feiern", aber auch eine Familie gründen – was zusehends schwieriger wird.

    "Die Jugendlichen nehmen auch wahr, dass es total schwierig geworden ist, den richtigen Zeitpunkt für die Familienplanung zu erwischen, bei gleichzeitigem großen Wunsch aber, irgendwann eine Familie zu haben. Wir sehen, dass die Prekarisierung von Beschäftigung eben dazu führt, dass Jugendliche sagen: "Na ja, ich muss meine Familienplanung irgendwie am nächsten verfügbaren Job ausrichten." Und das wird eben immer schwieriger."

    Sieben verschiedene Lebenswelten: Jugendliche aus bildungsnahen Familien entwickeln sich oft familien- und heimatorientiert. Oder: ausgesprochen sozial- und ökologisch denkend. Oder: besonders ausgerichtet auf Erfolg und Lifestyle.

    Jugendliche aus weniger gebildeten Elternhäusern passen sich entweder leistungs- und familienorientiert dem modernen Mainstream an. Oder: Geben sich vor allem konsumorientiert mit ausgeprägtem Markenbewusstsein. Oder aber: Sie entwickeln sich zu Spaß- und szeneorientierten Non-Konformisten, die vor allem das Leben im Hier und Heute im Blick haben. Jenseits dieser Gruppen: die Jugendlichen aus prekären Verhältnissen, die sich um Teilhabe bemühen, deren Startbedingungen aber am schlechtesten sind. Das sei etwas Neues, dass diese Gruppe so eindeutig auszumachen sei, sagt Heike Kahl, Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung:

    "Die Studie ist wichtig, weil sie auf der einen Seite gerade für die Prekären deutlich macht, dass es eine Lücke gibt zwischen dem rhetorischen Bekenntnis: "In dieser Gesellschaft brauchen wir jeden Jugendlichen!" und dem subjektiven Empfinden gerade dieser jungen Leute, die sagen: "Wir sind abgehängt, wir haben überhaupt keine Chance, wir brauchen uns auch eigentlich überhaupt nicht mehr anzustrengen. Und in der Schule brauchen wir eigentlich auch nichts mehr zu lernen."

    Und neu sei auch – und die Studie belegt es -, dass sozial Benachteiligte dezidiert an den Rand gedrückt werden: vor allem von Jugendlichen aus der gesellschaftlichen Mitte, die ihnen - wenig reflektiert - mangelnde Leistungsbereitschaft vorwerfen oder Gefährdung des Wohlstands. Eine der Folgen der Studie, sagt Heike Kahl, müsse die Bildungspolitik in Zukunft viel zielgruppenorientierter vorgehen.

    "Das bedeutet für die Pädagogen, dass sie ihre Haltung grundsätzlich ändern müssen. Dass sich im Grunde genommen die gesamte Grammatik des Lernens ändern muss. Dass man keinen einheitlichen Lernstoff mehr hat. Ich nehme mal ein Beispiel: Diese prekären Jugendlichen, wenn man die mit Mathematik im Mathematikunterricht konfrontiert, dann hören die gar nicht mehr hin. Wenn man mit denen aber ins Olympiastadion geht und sagt: "Lasst uns hier mal eine Kurvenberechnung machen, dann ist man viel näher dran an ihnen. Und dann mag es gelingen."

    Unpolitisch sind Jugendliche nicht. Sie finden nur mehrheitlich die Politiker langweilig. Sie interessieren sich auch nicht für Utopien - engagieren sich aber durchaus innerhalb ihres sozialen Umfelds, entwickeln Ehrgeiz dabei, Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft zu bekämpfen.

    Am 1. April wird die Studie als Buch erscheinen. Sie bietet differenzierte Einblicke in das Leben heutiger Jugendlicher. Die vielen Interviewzitate, die Collagen, die Jugendliche zum Thema "Das gibt meinem Leben Sinn" gestaltet haben, die Fotos ihrer Jugendzimmer – all das macht die Lektüre lesenswert.