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HDP-Abgeordnete in Berlin
Angst vor Erdogans langem Arm

In der Türkei wurde im letzten Jahr die Immunität von mehr als einem Viertel der Parlamentsabgeordneten aufgehoben. Dieser Schritt richtete sich insbesondere gegen die Abgeordneten der prokurdischen Partei HDP. Aus Angst vor langen Haftstrafen leben einige von ihnen mittlerweile in Deutschland.

Von Kemal Hür | 28.01.2017
    Bilder von Abgeordnete der türkischen Partei HDP werden werden am 13.12.2016 auf den Stufen des Bundestages bei einer Protestaktion von Abgeordneten des Deutschen Bundestages in Berlin gehalten. Die Politiker wollten mit der Aktion Solidarität mit der verfolgten HDP bekunden.
    "Parlamentarier schützen Parlamentarier": Mit einer Protestaktion bekundeten deutsche Politiker im Dezember 2016 ihre Solidarität mit Abgeordneten der verfolgten HDP. (dpa/ picture alliance/ Rainer Jensen)
    Nein, sie habe keinen Asylantrag gestellt, sondern befinde sich als Abgeordnete der HDP auf einer Dienstreise. Sie setzte ihre Arbeit zurzeit in Europa fort, sagt Tuğba Hezer Öztürk und lacht, während sie das sagt.
    Gegen die kurdische Politikerin von der Demokratischen Partei der Völker, HDP, hat die türkische Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl erlassen. Ihr droht eine Haftstrafe von Dutzenden Jahren.
    "Ich habe in der Presse gelesen, dass mir eine zweifache lebenslängliche Haftstrafe droht. Einen Haftbefehl habe ich selbst nicht erhalten."
    Lebenslänglich bedeutet in der Türkei wirklich ein Leben lang. Die Staatsanwaltschaft hat die Anklage vor einem Gericht im Osten der Türkei erhoben. Hezer Öztürk kennt die Anschuldigungen aber nur aus den türkischen Medienberichten, sagt sie. Die 28-jährige Abgeordnete befindet sich seit mehreren Monaten in Europa. Die Liste der Anschuldigungen ist lang, sie lässt sich aber kurz zusammenfassen: Mitgliedschaft in und Unterstützung einer terroristischen Organisation sowie Separatismus. Haltlose Vorwürfe, sagt Hezer Öztürk. Alle kurdischen Politiker würden vom türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan als Terroristen bezeichnet. Über ihre persönliche Befindlichkeit möchte sie nicht sprechen. Sie als Individuum sei nicht wichtig, sagt sie.
    "Zurzeit sind elf Abgeordnete, mehr als 70 Kreisvorsitzende und tausende andere Angehörige der HDP inhaftiert. Insofern kann und möchte ich nicht über mein persönliches Schicksal sprechen. Ich denke, wenn ich im Moment hier bin und nicht in einem Gefängnis stecke, dann muss ich umso mehr dafür arbeiten, dass die Inhaftierten wieder ihre Freiheit bekommen."
    Abgeordnete der SPD- und Links-Fraktion übernehmen Patenschaften
    Sie selbst ist zufällig in Freiheit; denn sie hielt sich in Europa auf, als die zwei Vorsitzenden und mehrere Abgeordnete ihrer Partei im vergangenen November festgenommen wurden. Auch wenn sie es selbst nicht ins Mikrofon sagt, ist es bekannt, dass sie wegen der drohenden Inhaftierung zunächst nicht in die Türkei zurückkehren wird. Sie wolle hier aber kein Asyl beantragen; denn das könnte zur Folge haben, dass sie ihre türkische Staatsbürgerschaft verliert, heißt es auf ihrem Umfeld. Sie möchte solange Abgeordnete bleiben, wie es nur möglich ist. Am Freitag traf sie im Bundestag mehrere Abgeordnete der SPD- und Links-Fraktion, die im Rahmen des Projektes "Parlamentarier schützen Parlamentarier" die Patenschaft für Hezer Öztürk übernommen haben. Ihre Patinnen wollen ihr helfen, in Freiheit zu bleiben, sagt Annette Sawade von der SPD, stellvertretende Sprecherin des Petitionsausschusses im Bundestag.
    "Wir können sie insofern unterstützen, dass wir versuchen zu werben, dass dieses Referendum, das angestrebt wird, nicht so entschieden wird, wie Herr Erdoğan gerne möchte, und damit unsere Netzwerke hier in Deutschland ausbauen. Das ist das eine. Und ich bin auch erschrocken darüber, was dort mit den einzelnen Parlamentariern passiert; denn für uns ist ja die Demokratie und der Parlamentarismus in Deutschland ein großes Geschenk. Und deshalb müssen wir alles tun, damit das so bleibt und auch in anderen Ländern so bleibt."
    Solche klaren Worte erwartet die kurdische Abgeordnete auch von europäischen Regierungen. Mit sanfter Kritik und Ausdruck von Besorgtheit könne die EU Erdoğan nicht beeindrucken, sagt sie.
    "Die Türkei ist Mitglied der Vereinten Nationen und des Europarates. Sie ist ein Beitrittskandidat der EU. Daraus ergeben sich für die Türkei Verpflichtungen und Kriterien, die sie einhalten muss. Die Realität zeigt aber, dass Erdoğan sich an keine Vorgaben hält. Und wenn er keinen Druck von außen spürt, ändert er seinen Kurs nicht."
    Linke fordern kritische Haltung von Angela Merkel
    Karin Binder von der Links-Fraktion des Bundestages, die auch eine parlamentarische Patin der HDP-Abgeordneten ist, erwartet von Bundeskanzlerin Angela Merkel eine klare kritische Positionierung, wenn sie am 2. Februar die Türkei besucht.
    "Das, was Erdoğan mit seinem Präsidialsystem anstrebt, der Ausnahmezustand, der schon lange Zeit in Kraft ist, der sämtliche Rechte aushebelt für die Opposition, Menschenrechte werden mit Füßen getreten. All das muss Frau Merkel in solch einer Begegnung auf den Tisch bringen. Wenn sie das alles nicht tut, sondern lediglich das Thema 'Wie halten wir geflüchtete Menschen von den deutschen Grenzen fern' debattiert, dann ist diese Begegnung kontraproduktiv."
    Das türkische Parlament hat der Verfassungsänderung bereits zugestimmt. Anfang April wird eine Volksabstimmung stattfinden. Sollte eine Mehrheit dafür stimmen, würde der derzeitige Präsident Erdogan gleichzeitig die Regierungsaufgaben übernehmen und die Justiz unter seine Kontrolle bringen. Tuğba Hezer Öztürk möchte vorerst in Europa bleiben und gegen Erdoğans Pläne Wahlkampf machen.