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Heavy Tails
Das Berechnen großer Risiken der Finanzwelt

Die Finanzkrise 2008 hat die Weltwirtschaft nachhaltig geschwächt und Billiarden Euro vernichtet. Die Banken waren auf solch einen Gau überhaupt nicht eingestellt. Massive Erschütterungen erfordern eine deutlich modernere Mathematik, unter anderem die der "Heavy Tails".

Von Maximilian Schönherr | 08.08.2014
    Der Lehrstuhl für Mathematische Statistik an der TU München gilt als Vorreiter beim Abschätzen von Risiken für den Finanzsektor. Die Leiterin, Claudia Klüppelberg, hat schon vor vielen Jahren international davor gewarnt, dass die "Gaußche Glocke" nur zur Berechnung von Finanzentwicklungen in sonnigen Zeiten taugt. Für Katastrophen aber müssen neuere, viel komplexere Methoden herangezogen werden, unter anderem die der "Heavy Tails". Die Professorin holte sich den Post-Doc Oliver Kley an ihr Institut, der nun zwei Arbeiten zur Berechnung solcher "systemischer Risiken" vorgelegt hat. Sie werden in Kürze publiziert. In der ersten sah er sich Versicherungsgesellschaften an und wie sie auf Naturkatastrophen reagieren:
    "Wir versuchen, klarzustellen, wie optimale Rückversicherungsmärkte aussehen können. Stellen Sie sich vor, die Hannover Rück versichert nur in Nordeuropa, die Münchner Rück versichert nur in Südeuropa. Dann wird natürlich ein Schadensereignis in Nordeuropa nur die Hannover Rück treffen und ein Schadensereignis in Südeuropa nur die Münchner Rück."
    Jetzt kann man sich fragen: Ist das ein besseres Szenario, als wenn die Hannover Rück etwas in Nord- und in Südeuropa versichert und die Münchner Rück genauso in Nord- und Südeuropa?
    Für ein solch komplexes Szenario gibt es nicht eine Formel, die ein klares Ergebnis liefert, sondern man bedient sich stochastischer Methoden, also der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Oliver Kley packte die Versicherungen rechnerisch in Netzwerke und beschrieb Überschwemmungen, Wirbelstürme, Ölkatastrophen mit der Mathematik der "Heavy Tails" - englisch für "schwere Schwänze"; das sind quasi die Ausläufer rechts und links von der Gaußschen Glocke, wo die klassische Finanzmathematik sagt: Da tut sich nichts mehr, wo sich aber, wie man heute weiß, die Extremrisiken verbergen. Oliver Kley:
    "Man kann berechnen, dass es für den Fall moderater Tails besser ist, dass beide Versicherungen in Nord- und Südeuropa versichern. Wenn man allerdings davon ausgeht, dass die Tails der Schäden sehr schwer sind, dann erscheint es aus der Sicht der Versicherungen günstiger, sich nur auf Nord- oder Südeuropa zu konzentrieren."
    Ein nordamerikanischer Hurrikan hat in der Heavy Tails-Mathematik etwa den Wert 3, das entspricht einem nicht allzu drastischen Ereignis. Wenn so ein Sturm einen Landstrich verwüstet, kommen die Versicherungen insgesamt unbeschädigter daraus hervor, wenn nicht nur eine, sondern mehrere in dem Katastrophengebiet Verträge abgeschlossen hatten. Bei der Kernschmelze eines Atomkraftwerks dagegen mag der Wert des Tails um eins herum oder sogar darunter liegen. Bei solch extrem schweren Fällen ist es besser, wenn für das Schadensgebiet nur ein einziger Versicherer zuständig ist. Er wird dann vermutlich Bankrott gehen, aber die anderen nicht mit in den Abgrund ziehen.
    Das klingt nicht überraschend. Bemerkenswert ist daran, dass das mathematische Modell zum selben Schluss kommt wie unser gesunder Menschenverstand. Was der gesunde Menschenverstand nicht, das Modell aber durchaus abschätzen kann, ist, wie sich verschiedene Grade der Überlappungen von Versicherungsgebieten auswirken.
    Diese Arbeit dürfte die Mathematiker in den Versicherungen interessieren. Oliver Kleys zweites Forschungsergebnis richtet sich an die Mathematiker in den Banken. Kley interessierte sich für die Abhängigkeiten der etwa 1600 Banken in Deutschland. Darunter sind etwa 50 Großbanken, die laufend sehr viel Geld untereinander austauschen, also ein aktives komplexes System bilden; die vielen kleinen Banken dagegen leihen sich gegenseitig praktisch nichts, sondern nur von und an den harten Kern der großen Banken. Oliver Kley:
    "Wir versuchen, die Robustheit von Core-Banken, also diesen Banken im Zentrum, in Abhängigkeit von der Robustheit der Peripheriebanken als dynamisches System darzustellen."
    Hier bediente sich Oliver Kley nicht der Heavy Tails, sondern der Mathematik dynamischer Partikel aus der Elementarteilchenphysik. Dabei kam unter anderem heraus, dass die kleinen Banken mit ihrem schwachen Risikomanagement gut beraten sind, sich in schweren Krisen stärker an den Großbanken zu orientieren. Allerdings steigt dann die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei Ausfällen bestimmter Großbanken leichter mit untergehen. Auch das ist leicht nachvollziehbar, aber mathematisch erstmals so berechnet.
    Bei einer kommenden Bankenkrise können sich die in den Finanzinstituten arbeitenden Mathematiker und Entscheider nicht mehr damit herausreden, nur „den Gauß" gekannt zu haben. Die statistische Mathematik hat längst bessere Methoden parat. Dass sie nicht ganz so bequem zu nutzen sind, ist angesichts der Dramatik einer solchen Krise kein Argument.