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Heike Makatsch als Wenders Girl

Der Film aus dem Jahre 1984 ist ein Klassiker. Doch ist es Regisseur Sebastian Hartmann gelungen, Wim Wenders "Paris, Texas" für die Bühne des Leipziger Centraltheaters zu adaptieren? Heike Makatsch in der Hauptrolle weckte auf jeden Fall hohe Erwartungen.

Von Hartmut Krug | 09.05.2010
    Der Theaterabend beginnt mit dem Anfang des Filmschlusses: Heike Makatsch setzt sich auf die leere Vorbühne vor einen goldenen Vorhang und spricht als Jane den Beginn des Peepshow-Gesprächs mit einem hinter dem Vorhang verborgenen Mann, der sich am Schluss als ihr eigener, lange verschwundener Mann Travis entpuppen wird, der nach vier Jahren stumm aus der Wüste kommt und nach Frau und Kind sucht. Dann treten nacheinander die anderen Figuren in kurzen Szenen auf die leere Bühne, führen sich mit ihrer (im doppelten Wortsinn) "Vorstellung" vor und uns ein in die Geschichte.

    Ein junger Mann und ein Junge, die zwei Altersstufen von Hunter, dem Sohn von Travis und Jane, verkörpern, erklären dem Publikum, unter anderem mit der Relativitätstheorie, wie das Vergehen der Zeit und die Betrachtung von Menschen diese und deren Wahrnehmung verändert. Dann geht der Vorhang auf, und Travis erlebt in einem leeren Autokino John Fords Film "Stage Coach": Indianer verfolgen eine Kutsche in die Wüste, und es scheint, als rasten Kutsche und Indianer über den unbeweglich stillen Travis hinweg.

    Diese Szene wird sich öfter wiederholen, denn Regisseur Sebastian Hartmann geht es bei seiner Version von "Paris, Texas" nicht um das psychologische Beziehungsdrama von Drehbuchautor Sam Shepard und Filmregisseur Wim Wenders, sondern um eine Geschichte über das Vergehen und Wahrnehmen von Zeit. Hartmann zeigt Menschen unserer Zeit oder aus der Zukunft, - sie haben die Katastrophe erlebt, alles ist gestört, die Beziehungen in der Familie und zwischen den Menschen, und man ist, wie im Film, ins Nichts, in die Wüste gerast. Der am Bühnenrand stehende fulminante Gitarrist Steve Binetti liefert einen eigenen Soundtrack dazu, der den Wechsel zwischen Langsamkeit und zerstörerischer Geschwindigkeit, zwischen Ruhe und heftiger Beschleunigung versinnlicht. Und der Schauspieler Hagen Oechel bleibt als lange Zeit stummer Travis wunderbar traumwandlerisch: ganz in Schwarz, den schwarzen Hut über offener, nackter Jackettbrust, ist dieser Travis lange Zeit eine bewusst intensive Leerstelle. Um die die anderen Figuren herum toben. Wie sein Bruder Watt, den Peter René Lüdicke im roten Anzug mit hilfsbereiter Aufgedrehtheit spielt. Immer wieder gibt es Szenen, in denen die Menschen auf der Suche und Jagd nach Hunter wild im Kreis rennen, und wenn ein Trompeter in Fords Film die Soldaten antreibt, dann tut dies eine Theaterfigur auch im Bühnenspiel vom Dach des Kinosaals herab mit den Figuren des Stücks, und der ältere Hunter ruft Passagen aus dem "Erlkönig."

    All dies ist nicht Effekthascherei oder gar ein Theater der wilden und willkürlichen Einfälle, sondern es verdankt sich Hartmanns überzeugendem Konzept eines Bilder- und Assoziationstheaters, bei dem er auf unterschiedlichen Ebenen und mit einer Fülle von Ausdrucksformen sein Thema umkreist. Die Farben und Atmosphären von szenischen Bildern und dem Rhythmus der Musik prägen eine Inszenierung, die, darauf aufbauend, mit intensiver Langsamkeit dann auch die Gesten und körperlichen Haltungen der Schauspieler als sinnliches Material nutzt.

    Aber die Musik prägt: denn in der Mitte der pausenlosen, zweieinhalbstündigen Inszenierung setzen sich alle an die Rampe, und Heike Makatsch und Steve Binetti liefern dem begeisterten Publikum ein fast halbstündiges Konzert.

    Die gesamte Inszenierung besitzt eine schöne musikalische Struktur und bewegt sich in gestalteter Langsamkeit, und wenn Travis wieder zu sich und bei den anderen Menschen ankommt, findet er wieder ebenso zu körperlicher Bewegung wie zur Sprache.

    Die Rückseite des Kinos ist eine Raststätte, ausgestattet mit den Dingen der Zivilisation wie Fernseher, Telefon, Kühlschrank, Wasserflaschen und Essen. Von hier schauen die Menschen hinaus in die Leere der Natur, eine Natur, die von ihnen manchmal nur als dünne Schicht empfunden wird, auf der sie unsicher herum trubeln. Und weil sich die Bühne mit der Raststätte fortwährend so langsam wie unmerklich dreht, liefert sie uns immer neue Wahrnehmungsperspektiven. Und wenn Birgit Unterweger als Travis Schwägerin diesem alte Familienfilme zeigt, bekommen er und wir diese nicht gezeigt, sondern erzählt. Dies eine von vielen darstellerisch und konzeptionell begeisternden Szenen, zu denen auch eine Pietá-Szene gehört, bei der Travis wie Jesus, mit hervorstechenden Rippen, am Boden liegt und von der Bedienung der Raststätte erfrischt und gewaschen wird. Und wie am Schluss die Szene in der Peepshow zwischen Jane und Travis gespielt wird, mit einer Heike Makatsch, die in ihrem Bühnendebüt mit erstaunlicher Sicherheit und starker Präsenz aufwartet, wie hier mit Seh-Verweisen gespielt wird, wie Jane zwischen Videobild und Bühnenwirklichkeit hin und her wandert, das besitzt Witz und Kraft.

    Kein Happy End wird gezeigt, auch wenn Mutter und Sohn zusammengeführt wurden. Die Menschen sind am Schluss alle alt, weißhaarig und gebrechlich, und wenn alle einem ferngesteuerten Spielzeug-Hubschrauber nach schauen, ist dies ein schönes und trauriges Bedeutungsbild einer beeindruckenden, ja, einer wirklich tollen Inszenierung.