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Heilige oder Hure?

Marcal Aquinos Roman "Flieh. Und nimm die Dame mit" erzählt von der Liaison zwischen einem alternden Fotografen und einer geheimnisvollen jungen Frau Mitte 20. Tatsächlich zeigt die Geschichte exemplarisch, was passieren kann, wenn man Sentimentalitäten zu lange nachhängt.

Von Denis Scheck | 25.06.2010
    Der Mensch ist nicht Gottes Meisterwerk, und damit muss man sich abfinden, sagt ausgerechnet ein Pastor in Marcal Aquinos Roman "Flieh. Und nimm die Dame mit". Und weiter erklärt er, die Menschen seien am sechsten Tag geschaffen worden "(...), einem Tag, den der Schöpfer, wenn er könnte, aus seinem unumschränkten Gedächtnis streichen würde. Aber Gottes Unglück ist, dass er nichts vergessen kann."

    Das ist markig und nicht allzu originell – aber damit befindet der liebe Gott sich über die 280 Seiten des Romans immerhin in guter Gesellschaft. Denn das Buch handelt vor allem davon, wie lustvoll quälend Erinnerungen sein können – und wie man, wenn man Sentimentalitäten zu lange nachhängt, in Teufels Küche geraten kann.

    "Flieh. Und nimm die Dame mit" bietet viele Facetten dieses Themas, angeordnet um einen harten Kern: die "amour fou" eines verkrachten und etwas angegrauten Fotografen, der auch der Erzähler ist, mit einer sehr jungen, sehr schönen, sehr aufreizenden, aber psychisch auch arg labilen Frau. Das ergibt zunächst eine Geschichte um viel ungezügelten Sex und um einen Mann, der einer Frau verfällt, die mal ohne Höschen unter ihrem Kleid vor ihm steht, und dann wieder hochgeschlossen, abweisend und prüde. Die oft launisch und unberechenbar wirkt und stets das Heft in der Hand zu haben scheint.

    Der unausgesprochene Vertrag zwischen den beiden könnte also lauten: Man hat sich nichts zugesagt, also muss er da durch. Würde er nachfragen, wäre das ein Zeichen der Schwäche und alles wäre möglicherweise sofort zu Ende.
    Aber verhält es sich wirklich so?

    Die Frau heißt Lavinia, sie ist 24 und mit einem ungefähr 60-jährigen ehrfurchtgebietenden Pastor verheiratet, der sie von der Straße geholt hat, wo sie im Drogenmilieu und als Nutte gelandet war. Das alles weiß der Fotograf nicht, als er sie kennenlernt – und weil der Leser auf den Fotografen als Zeugen in eigener Sache angewiesen ist, hat man anfangs allen Grund, Lavinia vor allem für ein heißgeliebtes Biest zu halten. Erst kurz vor Schluss wird klar, dass sie, ihrer Energien ungeachtet, vielleicht die hilfloseste unter den Figuren dieses Romans gewesen ist.

    Marcal Aquino variiert also den bekannten Dualismus von "Heilige und Hure" und scheut auch sonst nicht vor etwas reißerischen und sentimentalen Motiven zurück. Denn sein Erzähler ist zugleich auch das Problem in diesem Roman und verrät mehr über sich selbst, als seinem Andenken gut tut. Er berichtet im Rückblick viel über sein Leiden an dieser Liebe, aber nur wenig über sein eher beschränktes Interesse an allem, was nicht Sex gewesen ist. Er zeichnet in etwas fahrigem Ton vor allem ein Bild von sich selbst als leidlich schönem Verlierer - so soll die Welt ihn sehen, so will er ein kleines Stückchen Ewigkeit erringen, nachdem die größten Momente seines Lebens, soweit absehbar, vorüber sind.

    Der Fotograf heißt Cauby, ist erst auf Umwegen zu seinem Beruf gekommen -- und dann langsam abgestürzt. Er hat Ambitionen, aber ihm fehlt einiges von der Energie, über die Lavinia im Überfluss verfügt, also schlägt er sich nur irgendwie durch und hat sich zeitweise sogar als Paparazzi verdingen müssen.

    Am vorläufigen Ende seines Weges ist er nun in einer nordbrasilianischen Goldgräberstadt gelandet, wo er die Prostituierten porträtieren will. Dafür hat man ihm einen Vorschuss gewährt, daraus soll ein Buch werden – also treibt er sich ständig auf dem Straßenstrich herum, so dass die Einwohner der Stadt glauben, er sei ein Zuhälter. Von dieser Stadt nimmt er neben Lavinia allerdings nicht sehr viel wahr, allenfalls eine kleine Schar weiterer undurchschaubarer Männer, die wie er auf einem Vulkan zu sitzen scheinen. Denn eine Bergwerksgesellschaft kämpft mit Scharen von armseligen Goldgräbern um Schürfrechte – und dieser Streit wird mithilfe angeheuerter Gangster, mit Pistolen, mit Feuer und mit Steinigungen ausgetragen.

    Ein sozialkritisches Buch im traditionellen, klassischen Sinne eines Upton Sinclair oder John Steinbeck wird dadurch aus dem Roman nicht. Die Machenschaften der Bergwerksgesellschaft und ihrer Handlanger, das Leben der Prostituierten oder ein Killer mit Ehrgefühl – das alles sind mehr pittoreske Zutaten als von Grund auf motivierende Elemente dieser Geschichte. "Flieh. Und nimm die Dame mit" ist bis zum Show down, wenn alle möglichen Rechnungen gleichzeitig beglichen werden, vor allem immer ein Buch über traurige Männer, die Erinnerungen nachhängen, in denen sie liebend gerne eine großartigere Rolle spielen würden, als es tatsächlich der Fall gewesen ist.

    Cauby ist nur einer von ihnen. Der Roman führt mehrere solcher Geschichten parallel, so dass sie sich gegenseitig kommentieren, auch dann, wenn sie auf operettenhafte Wendungen zurückgreifen. Diese Wendungen verdanken sich in erster Linie der Selbstdarstellung der Protagonisten, die sich auf diese Weise eine sinnvolle Existenz zuschreiben – die Motive spekulieren aber natürlich auch auf eine gewisse, wenn auch ironisch gebrochene Bereitschaft zur Rührseligkeit beim Leser. Was daraus wird, wie dieser Wunsch nach "Form" sich am Ende zum Schicksal der Helden verhalten wird, soll hier nicht verraten werden – nur eines sei gesagt: Wie man wirkungsvoll über den eigenen Tod hinaus den Mitmenschen im Gedächtnis bleibt, das demonstriert ein Protagonist von ganz anderem Kaliber am Ende sehr viel eindrucksvoller. Alles in allem ergibt das einen ordentlichen Schmöker – und wer dabei ab und zu an Humphrey Bogart und seine vielen Brüder im Geiste denkt, der liegt nicht falsch.

    Marcal Aquino: "Flieh. Und nimm die Dame mit." Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Kurt Scharf, Weltlese Verlag, Edition Büchergilde, Frankfurt 2009, 286 Seiten, 19,90 Euro