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Heiligensteine

Marmor - kein Edelstein, aber zweifellos das edelste aller Gesteine. Doch nur der feinste, reinste und schneeweiße trägt ein besonderes Gütesiegel: Carrara-Marmor. Weißes Gold, so nennen die Bewohner von Carrara den kostbaren Kalkstein, der ihnen seit Jahrhunderten Geld und Arbeit verschafft. Der Schatz der Apuanischen Alpen wurde und wird in die ganze Welt exportiert.

Eine Sendung von Conrad Lay |
    Ein Marmorarbeiter, der seit vielen Jahren in die Steinbrüche fährt, und die Risiken des Bergbaus kennt:

    "Die Eisen sollen den Berg zusammenzuhalten. Aber ansonsten braucht man vor allem Glück, viel Glück, das ist wichtig. Unsere Vorfahren sagten dazu: 'das Gewicht schläft nicht'. Das Gewicht lastet immer."

    Und ein Bildhauer, der am Gesichtsausdruck eines steinernen Engels feilt:

    "Hier sind schon alle Punkte angebracht. Jetzt geht es um die Feinarbeit, das ist der kitzeligste Teil der Arbeit: Millimeter für Millimeter muss das Gesicht herausgearbeitet werden, so exakt wie möglich."

    Chemisch betrachtet ist es nicht mehr als einfacher Kalk. Muschelkalk, der über Jahrmillionen zusammengepresst wurde. Ein Kalkstein, der an vielen Orten der Welt zu finden ist, so auch im gesamten Mittelmeerraum. Mármoros: die Griechen gaben den Felsblöcken den Namen, den Steinen, die schon in der Antike aus den Bergen gebrochen wurden, von Baumeistern und Bildhauern verarbeitet zu Säulen und Statuen. Marmor - kein Edelstein, aber zweifellos das edelste aller Gesteine. Schwarzen, bunten und geäderten Marmor gibt es – doch nur der feinste, reinste und schneeweiße trägt ein besonderes Gütesiegel: Carrara-Marmor. Benannt nach einer mittelgroßen Stadt im Nordwesten der Toskana, acht Kilometer von der ligurischen Küste entfernt, am Fuße der Apuanischen Alpen.

    Weiße Berge am ligurischen Meer - Ankunft in den Apuanischen Alpen

    Ein kleines Cafe mitten in der Altstadt von Carrara. Vor dem Fenster rauschen Lastwagen, Pick-ups und Jeeps vorbei. Einige der schweren Laster haben noch nicht einmal Bordwände, auf der Ladefläche thront ein einziger, 20 Tonnen schwerer Steinklotz. Drinnen rauscht die Espressomaschine. An der Theke lehnt Gianluca Franzoni und nippt an seinem Tässchen. Der Mitarbeiter des Kulturamtes wirft noch einen kurzen Blick in die Morgenzeitung, dann setzt er seinen braunen, breitkrempigen Filzhut und die Sonnenbrille auf, wirft sich den feinen Kaschmirschal über die Schulter – die Kaffeepause ist vorbei.

    Franzoni scheucht seinen Geländewagen die engen Straßen hinauf, die aus der Autor: Stadt hinaus zu den Marmorbrüchen führen. Er mache solche Touren gerne und oft, erzählt er, darum kenne er die Steinbrüche inzwischen wie seine Westentasche. Seine Kollegen in der Stadtverwaltung seien ein bisschen neidisch, weil er soviel rauskomme.

    "Schauen Sie, was für ein Schauspiel, wo findet man das sonst noch", meint Franzoni und deutet auf die steil aufragenden, weißgezackten Bergspitzen und auf ebenso weiße Berghänge. Was Schnee ist und was Marmor, ist von hier unten kaum zu unterscheiden.

    "Ich denke, wenn es in Deutschland eine Stadt gäbe, die so nahe an Gebirge und Meer liegt, die wüsste das zu schätzen. Der Tourismus wäre die Haupteinnahmequelle. Aber hier konzentriert sich alles auf den Marmor. Früher, als fast alle Männer aus Carrara in den Steinbrüchen arbeiteten, war das verständlich. Aber heute, mit den modernen Technologien, schaffen zwei, drei Leute, wozu man früher 15 Arbeiter benötigte. In den Marmorbrüchen sind gerade noch 800, 900 Leute beschäftigt. In den zwanziger Jahren waren es 8.000 oder 7.000. Der Marmor ist zwar immer noch die Haupteinnahmequelle, aber meiner Ansicht nach könnte die Stadt viel mehr von ihrer Schönheit profitieren."
    Auf beiden Seiten des engen Tales sind kubistische Formen in den Fels gesägt, wie von Picasso oder Braque erfunden. Im Zickzack schlängeln sich Fahrwege die Berge hinauf und hinunter. Doch hier unten, wo nach beiden Seiten mehrere Wegschilder zu den "Cave", den Marmorbrüchen, weisen, geht es nicht weiter: ein dicker Holzbalken versperrt die Zufahrt.

    Franzoni kurbelt das Fenster herunter und frotzelt mit den an der Sperre stehenden Marmorarbeitern. Er scheint sie alle zu kennen. "Wie sieht es aus? Kommen wir weiter?" -Nein, ruft einer zurück, die Wege sind vereist".

    Ein Bulldozer räumt in einem talwärts liegenden Bruch ein paar Steinbrocken beiseite, sonst tut sich wenig an diesem kalten Morgen.

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    Weißes Gold – so nennen die Bewohner von Carrara den kostbaren Kalkstein, der ihnen seit Jahrhunderten Geld und Arbeit verschafft. Und Ruhm. Der Schatz der Apuanischen Alpen wurde und wird in die ganze Welt exportiert: Das Opernhaus im brasilianischen Manaus oder auch die prächtige Moschee in Abu Dhabi in den Vereinigten Arabischen Emiraten wurden veredelt mit Marmor aus Carrara.

    Der Legende nach sind die Apuanischen Alpen, die sich in einer großen Ellipse bis ans Meer ziehen, als steinerne Tränen vom Himmel gefallen: die Sterne am Firmament sollen so ergriffen gewesen sein von dem Liebeskummer eines Hirtenmädchens, dass sie eine ganze Nacht lang weinten – ihre glühenden Steintränen verwandelten sich auf der Erde in weißen Marmor. Fest steht, dass das Gebirge etwa 500 Millionen Jahre alt ist. Forschungen von Geologen und Mineralogen ergaben, dass durch Umwälzungen der Erdkruste kalkhaltiger Meeresschlamm in eine Tiefe von 20 bis 30 Kilometern verschoben wurde, wo er sich durch enormen Druck und hohe Temperaturen in Kristall verwandelte. Das Ergebnis der Metamorphose: ein Gebirgsmassiv, das 60 Milliarden Kubikmeter Marmor birgt.

    Bereits die Römer holten den Schatz aus den apuanischen Alpen – der Marmorabbau und der Transport der riesigen Blöcke zählt zu den größten technischen Leistungen Roms. Die Abbaumethoden haben sich seitdem verändert, aber immer noch ist es Hand- und vor allem: Knochenarbeit für die Männer aus Carrara, die bei Wind und Wetter in die Steinbrüche gehen.

    Das Gewicht schläft nie - Der Steinbrecher Gino Capelli über die Risiken des Marmorabbaus

    Die Männer mit dicken Blousons und schweren Bergstiefeln stehen unschlüssig herum und treten sich die Füße warm. Einen Helm hat niemand auf. Die Marmorarbeiter wissen noch nicht, ob sie heute arbeiten werden – oder ob sie wegen der vereisten Straßen wieder nach Hause fahren müssen. Es sind vor allem junge Männer, Gino Cappelli ist mit seinen 48 Jahren der älteste. Der kleine, drahtige Mann mit den wachen Augen ist Oberaufseher im Steinbruch Fantiscritti. Seit 30 Jahren arbeitet er schon in den Marmorbrüchen.

    "”25 Jahre lang war ich auf dem Monte Sagro. Dort sind die am höchsten gelegenen Marmorbrüche, in 1.500 Meter Höhe über dem Meer. Hart war das dort oben, viel härter als hier. In der Höhe ist selbst die Sonne noch kalt.""
    Hier dagegen, im Steinbruch Frantiscritti, sei die Arbeit gut. So kalt wie heute sei es selten. Ob der gefrorene Boden noch auftauen werde in der schwachen Wintersonne, sei fraglich. Gino Capelli reibt sich die Hände warm und macht sich auf den Weg hinunter in den Steinbruch. Der erfahrene Marmorarbeiter ist für die Sicherheit seiner Leute verantwortlich. Große Worte allerdings sind seine Sache nicht.

    "”Ich bin ein roher Marmorarbeiter, roh, das soll heißen, ich kann nicht so gut reden.""
    In einer großen Kurve von 270 Grad windet sich der Weg nach unten. Gut 50 Meter tief ist der Steinbruch in den Fels gehauen. Unten auf der sog. "Piazza", einer freien Fläche in der Mitte des Bruches, steht verlassen ein Bagger. An den Seiten ziehen sich glatte Schnittwände hundert Meter senkrecht die Bergflanke empor. Umgeben ist der weiße, bloßgelegte Fels von einem dunklen Grundgestein, das dem Marmorbruch eine düstere, bedrohliche Atmosphäre verschafft.

    "Dieser Steinbruch ist schon einige Jahrhunderte alt. Früher gab es hier keinen Zugangsweg, sondern nur einen Aufzug. Da drüben im Fels sehen Sie noch die Eisenteile, an denen der Aufzug befestigt war. Mit den schweren Fahrzeugen von heute kommt man leicht rein, die ganze Arbeit hat sich verändert. Der Marmor wird immer weiter nach unten hin abgebaut, inzwischen gibt es sogar einen Tunnel in den Berg hinein."
    Weil in diesem Steinbruch immer tiefer gegraben werde, wird er "Cava - pozzo", also "Brunnen-Steinbruch" genannt, sagt Capelli. Die jahrhunderte langen Bohrungen haben ihre Spuren hinterlassen: Oberhalb des Tunnellochs sind mehrere, etwa vier, fünf Meter hohe Aushöhlungen im Berg zu sehen. Daneben sind dicke Nägel und Eisenklammern in den Fels gehauen: ein verwundeter Berg, an dem schon reichlich geflickschustert wurde.

    "Die Eisen sollen den Berg zusammenzuhalten. Aber ansonsten braucht man vor allem Glück, viel Glück, das ist wichtig. Unsere Vorfahren sagten dazu: 'das Gewicht schläft nicht'. Das Gewicht lastet immer."
    Autor: Je steiler der Steinbruch, je mehr Aushöhlungen, umso mehr müssen die Marmorarbeiter auf die Stabilität achten. Und umso riskanter ist das Arbeiten. Gino Cappelli macht sich auf den Rückweg: heute ist nichts zu machen, auf den vereisten Wegen wäre es zu gefährlich. Die schweren Laster, Planierraupen und Bagger auf den engen, holprigen Wegen zu manövrieren, ist schon bei trockenem Wetter eine Kunst für sich. Oben angekommen, begrüßt Gino Cappelli seinen Sohn Nicola.

    "”Ich arbeite im gleichen Steinbruch wie mein Vater. Seit 13 Jahren fahre ich eine Planierraupe. Die Arbeit ist hart, vor allem aber gefährlich. Unter uns Marmorarbeitern sagt man: wir haben immer die Gefahr im Rücken. Einen Helm zu tragen, was soll das? Wenn ein Block mit 40 Tonnen runterkommt, hilft das auch nicht weiter. Wir können nur hoffen, dass nichts passiert.""

    Es ist der Stein der Mächtigen und Reichen – und es ist der Stein der Künstler. Marmor: feinädrig und transparent, ähnlich beinahe der menschlichen Haut. Der toskanische Bildhauer, Maler und Dichter Michelangelo Buonarroti ist wohl der berühmteste Künstler, der dem weißen Stein Leben und Seele eingehaucht hat mit seinen Skulpturen: die berühmte Pietà in der Peterskirche in Rom oder sein David, der in Florenz steht, sind aus feinstem Carrara-Marmor geschaffen. Aus Marmor, den der Künstler selbst ausgesucht hatte: Anfang des 16. Jahrhunderts lebte Michelangelo mehrere Jahre in Carrara und stieg mit den Arbeitern in die Marmorbrüche. Er wollte nur die besten Blöcke für seine Skulpturen, nicht nur aus künstlerischen, sondern vor allem aus handwerklichen Gründen: An Äderungen nämlich ist das Risiko groß, dass der Stein Risse bekommt und bricht.

    Der "Göttliche", wie Michelangelo schon zu Lebzeiten genannt wurde, hat nicht nur Skulpturen und Bilder geschaffen, sondern auch Gedichte geschrieben: Madrigale und Sonette:

    "Beim Modellieren der hartherzigen Schönen.
    Drückt Einer wirklich je sein eigen Ich
    Im Marmorbildniß eines And'ren aus,
    So mach' ich's öd' und graus
    Gar oft, wie ich geworden bin durch Die hier.
    Und immer schein' ich mich
    Zu bilden, denk ich auch, ich bilde sie mir.
    Wohl könnt' ich sagen: wie hier
    Der Marmor hart und spröd',
    Aus dem ich sie erschaff', ist sie von Stein!
    Auch wüßt' ich And'res nie mir
    (Von ihr zerstört, verschmäht!)
    Zu bilden als mein eig'nes trübes Sein.
    Kann Kunst nur Dauer leih'n
    Der Schönheit, nun, so mag sie mich beglücken!
    Dann bild' ich sie der Nachwelt zum Entzücken.


    Michelangelos steinerne Schönheiten stehen bis heute Modell in den zahlreichen Bildhauer-Ateliers in und um Carrara: zwar werden auch moderne Skulpturen aus Marmor gehauen, die meisten Studios jedoch haben sich auf die Kopien klassischer Statuen spezialisiert. Auf Engel und Heilige.

    Doch für die Steinmetze in den Marmorwerkstätten ist es unerheblich, ob es sich um ein neues Kunstwerk handelt oder um eine Kopie: ihre Arbeit besteht darin, die exakten Pläne des Künstlers auf einen groben Marmorklotz zu übertragen und mit Hilfe von Hammer, Meißel und Fräse die Figur aus dem Stein herauszuholen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Denn: was weg ist, ist weg.

    Stein, Staub und Statuen - Der Bildhauer Franco Cervietti über die Kunst des Feinschliffs

    Es ist staubig in der Werkstatt von Franco Cervietti. Wie eine weiße Puderzuckerschicht liegt feiner Marmorstaub auf Handwerkern, Skulpturen, Meißeln und Zirkeln, und kaum ist eine Figur glatt gerieben, hat sich auch schon wieder feiner Staub über sie gelegt. Ein Dutzend Steinmetze, Modellierer, Fräser, Polierer arbeiten hier. Franco Cervietti, der Chef, ist gerade dabei, einer mythologischen Figur, einer Art Engel, den Feinschliff zu verpassen. Als ob der Engel Masern hätte, ist er mit Hunderten von schwarzen Punkten übersät, die Cervietti zuvor vom Modell maßstabsgetreu auf den Marmorblock übertragen hat.

    "Hier sind schon alle Punkte angebracht. Jetzt geht es um die Feinarbeit, das ist der kitzeligste Teil der Arbeit: Millimeter für Millimeter muss das Gesicht herausgearbeitet werden, so exakt wie möglich. Manchmal, so wie bei diesem hier, muss man das Modell sogar verbessern damit das Gesicht den richtigen Ausdruck bekommt."

    Franco Cervietti ist Anfang 60, ein stattlicher Mann mit hoher Stirn. Seine Haare sind staubweiß gepudert, ebenso wie der graue Arbeitskittel und die hellen Jeans. Vorsichtig setzt Franco Cervietti die Fräse an den Nasenflügel des Engels an und schleift noch einen Millimeter ab. Da es hier nicht um eine Imitation geht, nicht um die Kopie eines klassischen Kunstwerkes, eine Pietà von Michelangelo oder die drei Grazien von Canova, hat er die Freiheit, die Gesichtspartien nach eigenem Geschmack zu gestalten.

    "”Einerseits ist es Handwerk. Aber wenn jemand eine Skulptur besser macht als das zugrunde liegende Modell, dann ist das bereits ein wenig Kunst. Das ist nicht nur Handarbeit und Technik. Aber auch diese Arbeit ist kompliziert, man braucht viele Punkte.""
    Man müsse nur, hatte Maestro Michelangelo gemeint, das Überflüssige vom Marmorklotz entfernen, dann bleibe das Kunstwerk übrig. Doch so einfach sei es leider nur für ein Genie wie Michelangelo, sagt Franco Cervietti. Fünf bis sechs Monate, so schätzt der Bildhauer, werde er an diesem etwa zwei Meter großen Engel arbeiten. Das hat natürlich seinen Preis.

    "”In diesem Fall ist der Kunde ein russischer Ölmillionär, der sich eine pompöse Villa in Sankt Petersburg bauen will. Er hat viele Arbeiten in Auftrag gegeben, nicht nur diese hier. Die Figur ist aus blütenweißem Marmor aus unseren Apuanischen Alpen gefertigt, das ist eine der begehrtesten Sorten. Das Gestein ist sehr weiß und völlig ebenmäßig. Man nennt ihn Marmor Pi, der ist noch besser als der Marmor aus den Brüchen von Carrara, der oft von graubraunen Maserungen durchzogen ist. Dieser hier ist wirklich rein.""

    Der Bildhauer setzt die Fräse an, mit ruhiger Hand, sehr geduldig, beinahe zärtlich fährt er dem Engel wieder und wieder über die Wange.

    "”Anders als bei einer Bronzestatue, bei der die Formen festgelegt sind, kann man hier immer noch etwas verbessern. Aber das bedarf jahrelanger Erfahrung. Mindestens zehn Jahre braucht man schon, aber auch danach wird man immer besser, man kann immer noch dazulernen.""
    Franco Cervietti setzt die Fräse ab, macht eine kleine Pause und geht hinaus in den Hof. Hier arbeiten zwei seiner Brüder und in der Werkstatt nebenan seine zwei Söhne. Die Cerviettis sind ein Familienbetrieb, schon seit Generationen. Auch Franco Cervietti ist in der Marmorwerkstatt aufgewachsen.

    Etwa 20 überdimensionale Statuen stehen im Hof, jede von ihnen mehr als drei Meter hoch, im Halbkreis aufgestellt und blank gewaschen vom Regen. Wie steinerne Schauspieler sehen sie aus, als ob hier gleich ein mittelalterliches Zeremonienspiel begönne.

    "Es sind Römer, Araber und Spanier – Figuren aus der spanischen Geschichte. Insgesamt 50 Statuen müssen wir herstellen. Sie gehen nach Andalusien, nach Cordoba, dort wird ein privates Kulturzentrum gebaut. Früher waren die Auftraggeber Kardinäle, Prinzen, die Skulpturen gingen nach Sankt Petersburg oder Versailles, heute sind die Kunden eben sehr reiche Privatleute, die eine Leidenschaft für Kunst haben, denn sie müssen Marmorskulpturen schon mögen. Unsere Figuren schicken wir in die Vereinigten Staaten, nach Australien, Japan, Taiwan, Hongkong, Indien, in alle europäischen Länder. Nach England, Deutschland und Frankreich liefern wir viel, aber natürlich auch innerhalb Italiens."

    Franco Cervietti nimmt noch einen tiefen Atemzug frische Luft, dann geht er zurück in die staubige Werkstatt. Sein Engel wartet.

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    Carrara ist die Marmorhauptstadt Italiens. Und inzwischen auch Börse des internationalen Steingeschäfts. Der Hafen von Marina di Carrara, seit Jahrhunderten auf das Verladen von überdimensionalen Gesteinsblöcken spezialisiert, hat sich längst vom Exporthafen zur gewichtigen Drehscheibe entwickelt für Steine aller Art. Allein in den letzten 50 Jahren ist das Umschlagsvolumen um das vierzigfache gewachsen. Neben schwarzem Marmor aus Südafrika oder grauem aus dem Iran ist es vor allem Granit, der hier umgeschlagen wird, um in Carrara bearbeitet zu werden: zu Grab- und Taufsteinen, zu Tischplatten und Fliesen.

    Ein Großteil der 70.000 Einwohner von Carrara war und ist in der Marmorindustrie beschäftigt: als Steinmetz, Lkw-Fahrer oder als Bauarbeiter in den Steinbrüchen. Es sind vor allem Männer, Männer, die stark und furchtlos sein müssen, angesichts der enormen Kraft des gewaltigen Gesteins. Viele Unfälle und viele Tote fordert die harte Arbeit in den Marmorbrüchen bis heute. Opfer im Dienste der Mächtigen und Reichen und ihrer prachtvollen Statussymbole. So kommt es nicht von ungefähr, dass die Arbeiter, die die Steine sprengen, seit jeher Pläne schmieden, um die Macht selbst in Schutt und Asche zu legen. Carrara ist nicht nur Marmorkapitale, sondern auch die Hauptstadt der italienischen Anarchisten. Sie treffen sich in einer Buchhandlung mitten in der Altstadt von Carrara: im Kulturzentrum Gogliardo Fiaschi.

    Weißer Stein, rote Gesinnung - Der Bauingenieur Gianluca Attuoni über die Hauptstadt der italienischen Anarchisten

    Autor: Aus den Lautsprechern klingt ein Lied von Fabrizio De André, des Genueser Liedermachers, der den Anarchisten nahe stand. An den Wänden hängen historische Plakate: "Freiheit ist keine Utopie" steht auf dem einen, daneben das Konterfei Pinochets mit der unvermeidlichen Sonnenbrille, überschrieben mit großen Lettern: "Chile - 16 Jahre Terror, damit ist endlich Schluss". Auf einem anderen Plakat wird ein wenig frommer Wunsch geäußert. Es heißt dort: "Ich möchte, dass der Vatikan in Flammen aufgeht, Wojtyla - Nein danke", unterschrieben ist das Plakat mit "anarchistische Sünder".

    "In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhhundert waren die Marmorbrüche im Besitz von Großgrundbesitzern, es waren alles Adelige, alle gehörten der Aristokratie an. Sie beuteten die Arbeiter auf unmenschliche Weise aus. Da fanden die Ideen der Rebellion leicht Anklang. Zwei Strömungen herrschten dabei vor: die Anarchisten und die Republikaner. Beide wandten sich gegen die damalige Aristokratie, gegen die Monarchie, gegen den König."
    Gianluca Attuoni, streichholzkurzes Haar, beiger Pullover, braune Lederjacke. Der Mittvierziger hat sich zu einem Treffen mit einigen Mitstreitern verabredet, um den nächsten Kongress der FAI, der Föderation der Anarchisten Italiens, in Carrara zu planen: "Wie viel Übernachtungsplätze müssen wir bereitstellen? Wie viel Mittagessen sind zu organisieren?" Mit solchen Fragen beschäftigt Attuoni sich ausschließlich in seiner Freizeit: tagsüber arbeitet der freiberuflicher Bauingenieur in der Marmorverarbeitung.

    "Für meine Arbeit muss ich die einzelnen Schritte des Marmorabbaus genau kennen. Wenn ich einen Block kaufen will, muss ich die Qualität des Gesteins kennen. Denn die Architekten schreiben in ihren Unterlagen meist nur: weißer Marmor, grüner Marmor, ohne über die Qualität etwas auszusagen."

    Heute ist Attuoni gut gelaunt. Er kommt gerade von einer Besprechung im Rathaus zurück. Der Kulturdezernent Carraras sagte zu, das historische Archiv der Anarchisten, das aus einer umfangreichen Sammlung von Plakaten und Flugblättern besteht, finanziell zu unterstützen, so dass es der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden kann. Unterstützung erfahren hat das Projekt auch von den Kooperativen der Marmorarbeiter dreier Steinbrüche von Carrara.
    Anarchismus hat in Carrara eine lange Tradition.

    "Das liegt am Charakter der Leute von Carrara. Denn wie ist die Stadt entstanden? Sie wurde nicht als römische Kolonie, sondern als Deportationsort gegründet. Vorher lebte niemand hier. Für die Arbeit in den Steinbrüchen schickten die Römer Sklaven hierher, und zwar aus dem ganzen damaligen Römischen Reich."

    Für jemand anderes mag das längst vergessene Geschichte sein, die heute keine Bedeutung mehr hat. Attuoni dagegen fühlt sich ihr eng verbunden. Die Römer hätten für ihre Sklaven Arbeitslager möglichst nahe an den Marmorbrüchen gebaut.

    "Die beiden höchstgelegenen Ortschaften sind Colonnata und Miseglia. Beide Namen stammen aus dem Lateinischen, Colonnata soll heißen: leben wie ein Sklave, und Miseglia bedeutet: in der Misere, im Elend leben. Die Leute kamen nicht freiwillig hierher, weil sie eine Stadt gründen wollten, sondern sie wurden als Sklaven hierher geschafft. Aufgrund dieser Herkunft ist der Charakter der Leute von Carrara seit jeher rebellisch gewesen."

    Autor: Gut möglich, dass die Arbeit in den Brüchen den ausgeprägten Individualismus verstärkt hat: Die Marmorarbeiter arbeiten selbständig in kleinen autonomen Gruppen. Geschicklichkeit und persönliche Erfahrung waren lange Zeit wichtiger als Maschinen. Nicht zuletzt gehörten in vergangenen Jahrhunderten Minen und Dynamit zum täglichen Handwerkszeug:

    "An die 80 Prozent der Bevölkerung waren in Carrara früher anarchistisch orientiert, also die übergroße Mehrheit. Der Widerstand gegen den Faschismus war fast ausschließlich anarchistisch. Sicher gab es auch Verbände von anderen Parteien, wie den Kommunisten, aber die Anarchisten stellten allein vier Verbände, die hier operierten."

    Zu den anarchistischen Partisanen gehörte auch Gogliardo Fiaschi, der Namensgeber des Zentrums. In den fünfziger Jahren plante dieser ein Attentat gegen den spanischen Caudillo Franco, wurde jedoch verhaftet und zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Zurück in Carrara widmete er sich dem Aufbau des historischen Archivs der Anarchisten.

    Zwei ältere Herren betreten das Ladenlokal, schütteres Haupthaar, gepflegte Wintermäntel. So stellt man sich keine Anarchisten vor - außer in Carrara. Einer der beiden schlägt vor, das Thema ihres nächsten Treffens zu ändern: sie müssten doch darauf reagieren, dass vergangene Woche die rot-schwarze Fahne vor der Tür abgerissen und verbrannt wurde.

    "Eines Nachts sind zwei, drei Jugendliche gekommen, die offenbar zuviel getrunken hatten, und haben die Fahne heruntergerissen. Bis vor vier, fünf Jahren wäre so was nicht passiert, da wäre niemand auf so einen Gedanken gekommen. Heute passiert so was auch in Carrara, denn hier in Italien wie im restlichen Europa gibt es eine Rückkehr reaktionärer Ideen, die von unserer Regierung unterstützt wird."

    Die drei machen sich daran, ein Flugblatt zu formulieren. Aber eigentlich, so meint Gianluca Attuoni, bräuchten sie sich keine Sorgen zu machen, denn in Carrara hätten es die Anarchisten leichter als im Rest des Landes.

    "”Wir werden hier mehr toleriert als in anderen Regionen Italiens, weil wir Teil der Geschichte der Stadt und ihrer Tradition sind. Es waren die Anarchisten, die Carrara nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut haben, die Häuser und Straßen. Ein guter Teil des sozialen und kulturellen Lebens der Stadt war und ist ohne die Anarchisten nicht denkbar.""

    An Vittoria Colonna.

    Wenn Kunst, im Stein gestaltend,
    Erschaffend und erhaltend,
    Dir dauernd Leben gibt durch Menschenhände
    Bis an der Zeiten Ende,
    Wie könnte erst der Himmel dich verklären,
    Der Himmel, göttlich waltend,
    Der höh'rer Schönheit Spende
    Als Menschenkunst verleiht, wollt' er dir Hehren
    Auf Erden schon Unsterblichkeit gewähren!
    Doch ach, dein Bild besteht, und du musst sterben?
    Wer rächt hier dein Verderben?
    Dich räche die Natur, denn sieh, es bleibet
    Der Menschen Werk, indes ihr Werk zerstäubet.


    Der Wert des Marmors ist abhängig von seiner Qualität: der feine weiße "statuario venato", wie Michelangelo ihn für seine Meisterwerke verwendete, ist nach wie vor der kostbarste und teuerste. Aber der Preis hängt auch ab von der Größe eines Blocks. Und natürlich von der Nachfrage. Marmor ist, wie alle Materialien, der Mode unterworfen. Architekten und vor allem zahlkräftige Bauherren in der ganzen Welt bestimmen den Markt der Steinindustrie.

    1,5 Millionen Tonnen Marmor werden jedes Jahr aus den rund 170 Steinbrüchen um Carrara aus den Bergen geholt – davon allerdings ist höchstens ein Viertel verwertbares Material, der Rest ist Marmorschutt, der über viele Jahrhunderte einfach liegengelassen beziehungsweise die Hänge hinabgeschüttet wurde. Bis sich erst die Bau- und dann vor allem die Chemie-Industrie dafür interessierte: Marmorpulver, reines Calziumkarbonat also, wird zur Herstellung von Medikamenten und Kosmetika verwendet, für Calziumtabletten etwa oder für Zahnpasta.
    Früher konnten die Pharmafirmen das weiße Pulver kostenlos abholen – heute wird der Marmorstaub zu einem guten Preis verkauft. Ein rentables Geschäft für die Besitzer der Steinbrüche. Und zugleich eine Gefahr für die Natur: Umweltschützer befürchten, dass dadurch der unkontrollierte Abbau des weißen Gebirges vorangetrieben, das weiße Gold im wahrsten Sinne des Wortes in den kommenden 30 Jahren abgebröckelt wird.

    Gegen den schonenden Abbau großer Marmorblöcke allerdings haben auch die Naturschützer nichts einzuwenden. Schonend, das bedeutet vor allem: nur die Steinbrüche zu nutzen, die qualitativ hochwertiges Gestein enthalten, und nicht überall im Gebirge Sägen und Bohrer anzusetzen. Es bedeutet aber auch, behutsam vorzugehen, nach dem Vorbild des vorindustriellen Zeitalters: damals wurden Holzkeile in die natürlichen Risse des Gesteins getrieben und mit Wasser zum Aufquellen gebracht, so daß der Steinblock durch die Sprengkraft des aufgequollenen Holzes abgelöst wurde. Ab dem 18. Jahrhundert wurde mit Schwarzpulver gesprengt, später auch mit Kettensägen gearbeitet – entsprechend groß war der Verschleiß. Heute versucht man, mit modernster Technik zu den schonenden Methoden der Vorfahren zurückzukehren.

    Marmorabbau als Landschaftspflege - Der Unternehmer und Steinbruchbesitzer Franco Barattini plädiert für den schonenden Abbau des weißen Goldes

    Der Steinbruch Ravvacione gehört zu den höher gelegenen Brüchen, in denen von oben herab Marmor gebrochen wird. Zwei Arbeiter haben gerade einen Sägedraht um die Spitze eines gut fünf Meter hohen Felsens gelegt, einer anderer steht mit einem Wasserschlauch auf der Spitze des Felsens und spritzt auf die dünne Sägefuge. Franco Barattini, der Besitzer des Steinbruchs, kommt angefahren und kontrolliert, ob alles zu seiner Zufriedenheit verläuft.

    "Die Säge läuft völlig automatisch. Das ist der Draht, mit dem gesägt wird. Reich' mal ein Stück rüber! Der Draht ist alle zehn Zentimeter mit Diamanten bestückt, da muss jetzt nur noch Wasser drüber und fertig. Das Wasser wird oben über die Felsspitze herumgeführt und läuft dann auf der anderen Seite runter. Der Draht muss immer schön feucht sein, sonst wird er zu heiß."

    Was früher anstrengende Handarbeit war, wird heute von den Maschinen erledigt. Vorsicht ist trotzdem geboten, und so stehen die Marmorarbeiter über Stunden da und kontrollieren, wie sich der Sägedraht in den Fels hineinfrisst. Außer den dreien, die mit dem Sägen beschäftigt sind, sind nur wenige Arbeiter in dem mehrere hundert Meter großen Steinbruch zu sehen, die meisten sind mit schwerem Gerät unterwegs: mit Raupenfahrzeugen, Baggern, Lastwagen.

    "Morgen Mittag werden wir den Felsen durchgesägt haben. Das Stück ist gut 27 Meter lang, wir können bis zu 35 Metern sägen. Das Gestein oben an der Spitze ist nicht gut, aber wir müssen unsere eigentliche Arbeit vorbereiten, wir pflegen die Marmorfelder, ähnlich wie ein Bauer sein Feld vorbereitet, um dann Kartoffeln zu pflanzen zu können. Das ist eine Art Landschaftspflege. Natürlich ist das teuer, man kann nur hoffen, dass die Kosten eines Tages hereinkommen."
    Da die Steinbrüche in "Brunnenform" durch die Aushöhlungen im Berg immer unsicherer wurden, räumt Barattini die Berge von oben her ab und kappt die Bergspitzen, sodass sie von ferne wie Zahnlücken aussehen. Dann räumen Schaufelbagger riesige Mengen an Geröll beiseite, denn die obersten Steinschichten haben durch Regen, Kälte und Hitze zahlreiche Risse erhalten. Bis Franco Barattini auf ein makelloses Stück stößt, das sich für einen Marmorblock eignet, kann es dauern.

    "Das waren praktisch Steinbrüche, die zusammengestürzt waren. Wir haben hier alles wieder in Ordnung gebracht, mit einer großen Kraftanstrengung und einem starken Willen. Wir sind uns sicher, die Qualität des Marmors ist gut. Schließlich kennen wir die Steinbrüche besser als der Fuchs seine Schleichwege. Wir sind immer hier."

    70 Prozent des abgebauten Gesteins sind Geröll, nur 30 Prozent wertvolle Marmorblöcke. Früher wurde der nicht benötigte Abhub einfach die Halden hinuntergeschüttet, so entstand von weitem der Eindruck von weißen, schneebedeckten Hängen.

    Franco Barattini ist inzwischen zu seinem berühmtesten Steinbruch gefahren, der Cava Michelangelo mit dem wertvollen Marmor Statuario. Der Bruch ist 160 Meter hoch, also so hoch wie das Ulmer Münster, etwas höher als der Kölner Dom. Barattinis Sohn Giovanni ist gerade dabei, mit syrischen Kunden zusammen Marmorblöcke auszusuchen. Vater Franco mischt sich ein, das sei hier alles guter Marmor.

    Zehn Meter weiter schiebt ein Bagger einen spitzen Marmorstein unter einen schweren Block, um diesen hochzuheben. Darunter ist ein Diamantdraht angebracht, mit dem der Block durchgesägt werden soll. Franco Barattini stapft durch die Pfützen des Steinbruchs und kontrolliert die Sägearbeiten. Es spritzt von unten, von oben hat inzwischen Nieselregen eingesetzt.

    "Fehlt es an Wasser zum Sägen?", fragt Barattini ironisch. Es herrscht ein rauer Ton unter den Marmorarbeitern, Franco Barattini fühlt sich als einer der ihren. Der Unternehmer mit der untersetzten Figur und dem silbrig-grauen Schnauzbart, gilt als "König des Marmors". Ihm gehören vier Steinbrüche, riesige Bergflanken, die sich über mehrere Kilometer hinstrecken. Besonders hoch wird dem Self-made-man angerechnet, dass er wie ein x-beliebiger Marmorarbeiter herumläuft: mit einer alten, grauen Windjacke, abgewetzten Blue-Jeans und derben Bergstiefel.
    "”Ich habe mit zwölfeinhalb Jahren mit der Schule aufgehört und hier in den Marmorbrüchen als Handlanger begonnen. Das hier ist Marmor für Bildhauer. Als Michelangelo von Rom aus hierher aufbrach, suchte er sich in diesen Steinbrüchen den Marmor für seine Skulpturen aus. Er ist zu Fuß hierauf gewandert, so wie ich es gemacht habe, damals vor 52 Jahren. Denn ich bin jetzt 65.""

    Zwei Stunden habe damals der nächtliche Fußmarsch hinauf zu den Steinbrüchen gedauert, mit dem Sonnenaufgang habe die Arbeit begonnen, erzählt Barattini. Obwohl inzwischen Marmorunternehmer, ist er noch heute jeden Morgen um halb sechs bei seinen Arbeitern in den Brüchen.

    Inzwischen ist es Mittag geworden. Barattini bricht mit seinem Jeep zu einer Hütte auf, die mitten in den Steinbrüchen liegt. Ein Geländewagen kommt angefahren, eine Frau steigt aus, die einzige weit und breit, und öffnet die Heckklappe des Wagens. Zwei Marmorarbeiter springen eilends herbei und hieven schwere Kochtöpfe in die Hütte. Der Duft von heißer Suppe steigt auf.

    In der Hütte haben sich gut 20 Männer eingefunden. Einer verteilt Besteck, ein anderer stellt Rot- und Weißweinflaschen auf die beiden lang gestreckten Tische. Die anderen stellen sich an den beiden Suppentöpfen an, es gibt toskanische Bohnensuppe, eine Spezialität, die sie zu schätzen wissen. In Alu-Packungen wird Salat mit Rinderschinken herumgereicht, und wer will, holt sich als zweiten Gang ein Stück Fleisch.

    Im Nu hat sich unter den Arbeitern eine lebhafte Diskussion entzündet. Es ist nicht der Marmor, der die Gemüter erhitzt. Vielmehr lautet hier oben mitten in den Steinbrüchen die entscheidende Frage: Wer will heute noch Kinder erziehen? Wer will überhaupt Kinder? Was gelten Familienwerte? Franco Barattini, der Chef, meint, die jungen Leute wollten sich nur vergnügen und hätten alles andere im Sinn als arbeiten. Bei seinem Sohn Giovanni sei das zum Glück anders, der habe - so wie er auch - bereits mit 14 Jahren zu arbeiten begonnen. Und heute arbeite er soviel, dass ihm schon zwei Ehefrauen weggelaufen seien. Die Kollegen kennen die Geschichte und lachen. Auch wenn sie alle leidenschaftlich gern im Marmor arbeiten – auf das Familienleben verzichten wie ihr Chef, das möchten sie keinesfalls.

    Nachtisch gibt es keinen, schließlich will Barattini seine Arbeiter nicht allzu sehr verwöhnen. Und dann geht es wieder raus, Franco Barattini steigt in seinen Geländewagen und macht sich auf den Weg – zum nächsten Steinbruch.

    "So süß wie Mus ist dein Gesicht, o Schöne,
    so glatt, als wär ein Schnecklein drauf spaziert,
    wie Rüben zart; es gleichen deine Zähne
    den Pastinaken, und dein Auge stiert
    so wie die Theriakpflanze, grün; ich wähne,
    durch solchen Glanz wird selbst ein Papst verführt.
    Wie Zwiebeln weiß und blond sind deine Haare!
    Erbarm Dich schnell, sonst lieg ich auf der Bahre!"


    Literatur: Michelangelo Buonarroti: Gedichte. Übersetzt von Walter Rober-Tornow, Berlin 1896 (16 Zeilen) und von Sophie Hasenclever (21 Zeilen).