Archiv


Heilloses Seelendrama

Der literarisch kenntnisreiche und ambitionierte Komponist Robert Schumann hat seine "Genoveva"-Partitur in den Monaten der Revolution von 1848/49 ausgearbeitet. Die Uraufführung fand Mitte 1850 ohne nachhaltigen Erfolg statt. Immer wieder bemühten sich Theater, die von Anfang an gegen das Werk bestehenden Einwände, zu entkräften. Nun hat es eines der großen und renommierten Opernhäuser versucht.

Von Frieder Reininghaus |
    Den Handlungsrahmen von Robert Schumanns Genoveva stecken die von Karl Martell angeführten Kämpfe des "christlichen Abendlandes" gegen die Sarazenen oder "Mauren" ab.
    Es handelte sich um eine Nachzüglerin jener "Kreuzritter"-Opern, die spätestens 1830 abgetan waren. So "fortschrittlich" der Journalist und Klavierkomponist Schumann hinsichtlich der musikalischen Materialfragen eingestellt gewesen sein mag, so retrospektiv, ja: restaurativ und bigott entwickelte sich sein literarischer Geschmack. Und den Theaterbetetrieb verachtete er von Herzen. Meinte gar, die Leute ließen sich so gut wie alles vorsetzen. Er aber wäre berufen, ihnen etwas Edles, Hilfreiches und Gutes aufzunötigen: Gattenliebe pur in Gestalt einer episch auskomponierten Heiligenlegende.

    Und tief griff er in seinen Zettelkasten der bereits bewährten symphonischen Gesten und vor allem der Liedmodelle, die "musikalische Romantik" konstituieren wollten, als die deutsche literarische Romantik ästhetisch so tot wie politisch obsolet geworden war. Während auf den Straßen Dresdens das letzte Gefecht um Einigkeit und Recht und Freiheit tobte, beorderte Schumann eine Retrospektive auf die Bühne, bei der eine edel-hilflose Frau teuflischen Mächten ausgeliefert und am Ende alles gut wird.

    Nun gut, Julian Banse, die in Zürich auch schon als Heinz Holligers wundersames Schneewittchen auf der Opernbühne stand, verkörpert diese Frau, die fortdauernd nicht weiß, wie ihr wird, sehr überzeugend; allerdings nicht immer ganz treffsicher.
    Den Kontrast zur lammfrommen Genoveva bildet der Triebtäter Golo, dessen Obhut sie unterstellt wurde, während ihr Mann, Pfalzgraf Siegfried, in den Krieg zieht. Der Hausmeier Golo - vorzüglich der Tenor Shawn Mathey - begehrt Genoveva und nötigt sie sexuell; wird aber entschieden zurückgewiesen. Da er sie nicht besitzen kann, will er sie vernichten: verwickelt sie in eine Intrige, denunziert und erniedrigte sie, bewirkt sogar um ein Haar die Vollstreckung eines unter haarsträubenden Umständen zustande kommenden Todesurteils gegen sie.

    Das Werk ist erfüllt von hanebüchenen dramaturgischen Monstern: es rächte sich, dass Schumann professionelle Theatererfahrung dergestalt missachtete. Aber gerade mit seiner deutsch-musikalischen Borniertheit hat er bis heute eine fatale schulbildende Wirkung. Denn Genoveva war und ist zugleich ein Werk, das gleichsam "vorausweist" - stofflich wie in einigen entscheidenden Details der musikalischen Gestaltung - auf Richard Wagners "Tristan und Isolde". Doch allzu viel krauses Mittelalter und das penetrant wiederkehrende Frömmeln der Musik haben von Anfang an (und bis heute) verhindert, dass Schumann einzige Oper als ein "Werk auf der Höhe der Zeit" wahrzunehmen gewesen wäre.

    Zu bewundern ist allerdings auf neue, welche harmonischen Farben, welche rhythmische Prägnanz die Kräfte des Bösen freisetzen und sich in die Ströme der frömmelnden Musik mischen. Anders als bei rhythmischer einfacher strukturierter älterer Musik macht sich bei der mit vertrackten Synkopen gespickten Musik Schumanns das Fehlen der klassischen Kapellmeister-Voraussetzungen bei Nikolaus Harnoncourt schmerzlich bemerkbar: da geht, sosehr er sich um Ausdruck und Inbrunst bemüht, allzu viel zwischen Bühne und Graben nicht miteinander und viele Mitglieder der Kapelle haben ihre liebe Mühe mit den Seitwärts-Ruderbewegungen des auratischen alten Herrn der Alten Musik.

    Als Glücksfall für die Züricher Neuproduktion erwies sich ein Fund in Robert Schumanns Tagebüchern: "Ach, eine Welt ohne Menschen, was wäre sie? Ein toter Guckkasten ohne Figuren ... Diese Welt mit Menschen, was ist sie? Ein stummer Guckkasten mit weinenden Figuren". Rolf Glittenberg stellte für Martin Kušejs stark zurückgenommene Inszenierung einen solchen Kasten zu Verfügung: ganz in Weiß und im Hintergrund der Bühne. In ihm sind die Protagonisten meist gleichzeitig anwesend, ohne von sich wechselseitig mehr als unbedingt nötig Notiz zu nehmen und sich gelegentlich, dann aber ggf. heftig zu berühren. Einzig für die an die Sensenmänner des Dresdener Aufstands von 1849 erinnernden Krieger und für jene Schlüsselszene, in der Graf Siegfried mit einem Zauberspiegel Bilder von der angeblichen Untreue Genovevas vorgegaukelt werden, füllen und illuminieren sich die seitlichen Gänge und der vordere Teil der Bühne: ein Chor von Chirurgen umzingelt über einer hell erleuchteten Fläche das nackte Trugbild Genovevas.

    Martin Kušej hat sich mit einer Inszenierung aus der Affäre gezogen, die der Musik weithin ungeschmälert den Vortritt ließ und darauf spekuliert, dass dies die Seelenverhältnisse hinreichend ausleuchtet. Die Anspielung auf die Gefangenenhaltung à la Abu Gharib ziehen ebenso wenig wie die auf Genoveva geschleuderten toten Fische der modifiziert konzertanten Aufführung politische Gräten ein. Schumanns Genoveva bleibt ein Problemkind der Theatergeschichte - auch weiterhin.