Auf dem Dongbao-Großmarkt im Norden von Kanton herrscht ein bestialischer Gestank. In engen Käfigverschlägen drängen sich Hühner, Enten und Gänse. Bei 35 Grad im Schatten scharen sie sich um dreckige Plastikkanister, aus denen Wasser tröpfelt.
Der Lieferant Guo greift in die Menge, packt mit jeder Hand zwei Gänse am Hals und wuchtet sie in seinen kleinen blauen Lieferwagen. Rund einhundert Tiere kauft er hier jeden Morgen. Die Tagesration für das Zhujiang-Restaurant im Zentrum von Kanton.
Enten, Gänse und Hühner sind das einzige, was momentan auf dem Großmarkt noch gehandelt werden darf. Bis Ende Mai arbeiteten hier vierhundert Händler, die ihre Ware aus ganz Südchina bezogen. Von Hunden, Katzen, Ratten, Schildkröten und Schlangen über Affen und Pangoline hin zu Waschbären wurde hier fast alles verkauft, was sich irgendwie zubereiten lässt. Die Kantoner sind dafür bekannt, dass sie gerne exotische Tiere essen – nicht selten sogar roh. Für die Händler ein lukratives Geschäft. Auf den drei Kantoner Großmärkten, die auf den Handel mit Tieren spezialisiert sind, wurden bis vor kurzem täglich rund 100.000 Euro umgesetzt. Doch seit Wissenschaftler den Verdacht äußerten, dass das Coronavirus möglicherweise von der Zibetkatze auf den Menschen übertragen wurde, hat die Stadtregierung den Handel mit Wildtieren verboten. Am 26. Mai wurde den Händlern ihre Lizenz entzogen; rund 30.000 Tiere mussten getötet werden. Für den 46jährigen Wang ein herber Schlag.
Wir wissen nicht, wann wir jemals wieder Schlangen verkaufen dürfen. Wir müssen abwarten, wie entschieden wird. Bis dahin können wir nichts verdienen, eine Entschädigung erhalten wir auch nicht. Wenn wir unsere Lizenz nicht bald zurückbekommen, dann müssen wir zurück nach Hause und dort auf den Feldern arbeiten.
Seit sieben Jahren verkauft Wang auf dem Dongbao-Markt die Schlagen, die seine Brüder in Hunan züchten. Gemeinsam mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Söhnen haust er in dem kleinen Zimmer über dem Verkaufsraum. Wand an Wand mit den anderen Händlern. Die Familie Wang braucht nicht viel. Auf dem kalten Betonboden hat sie Bambusmatten ausgelegt. Im Verkaufsraum macht die Familie es sich abends direkt neben den Schlangenkäfigen vor dem Fernseher bequem. Am Boden steht der Wok, den Wangs Frau zum Kochen nutzt, daneben die Plastikschüsseln, in denen sie Geschirr und Kleider wäscht.
Ich habe keine Angst, so eng mit den Tieren auf einem Fleck zu leben. Wir machen das nun schon seit 13 Jahren so. Na und! Es gab auf diesem Markt nicht einen einzigen SARS-Fall. Wenn SARS tatsächlich von den Tieren stammen würde, dann hätten wir doch zuerst sterben müssen!
Für und Wang und seine Kollegen ist klar: Allein die Presse ist schuld, dass gerade sie verdächtigt werden, das Virus in die Welt gebracht zu haben. Schließlich sei Guangdong nicht die einzige Provinz, in der exotische Tiere im Kochtopf landeten. In den letzten Monaten seien viele Journalisten, ja sogar WHO-Experten da gewesen und hätten die Nase gerümpft über die hygienischen Zustände, sagt Wang. Seitdem patrouillieren regelmäßig Wachleuchte über den ausgestorbenen Markt und verscheuchen Fremde. Die Provinzregierung will mit aller Kraft verhindern, dass Guangdong der Welt als Virenprovinz in Erinnerung bleibt.
Unter Mikrobiologen gilt Guangdong jedoch aufgrund des feuchtwarmen subtropischen Klimas als ideale Brutstätte zur Übertragung von Seuchen. Oft klettert das Thermometer auf über 40 Grad. Wissenschaftler bezeichnen die wohlhabende Küstenprovinz als eine Hexenküche, aus der Krankheitserreger nur so hervorsprudeln.
Nicht nur auf den Großmärkten, sondern auch in großen Landesteilen leben Mensch und Tier eng beieinander. In dem dicht besiedelten Perlflussdelta holen sich viele Bewohner die Tiere aus Platzmangel in die Hausflure oder gar in ihre eigene Wohnung. Rund 70 Mio. Menschen leben in dieser Region, darunter mehr als zwölf Millionen Wanderarbeiter aus den Armutsprovinzen des Landes.
Wissenschaftler gehen der Frage nach, ob möglicherweise gerade die Nähe von Hühnern, Enten und Schweinen und damit der Austausch zwischen unterschiedlichen Spezien die Übertragung des Virus auf den Menschen ermöglicht hat. Fest steht bisher nur, dass die ersten SARS-Fälle Mitte November letzten Jahres in der Industrie-Stadt Foshan, rund 30 km westlich von Kanton, auftraten. Wer der wirkliche "Patient Null" ist, darüber scheiden sich die Geister: Mal ist in der chinesischen Presse von dem Koch Huang die Rede, dann von einem Geflügelhändler, und dann wieder von dem Dorfvorsteher Pang, der keinerlei Kontakt zu Tieren hatte, jedoch gelegentlich Katzenfleisch aß.
Der renommierte Lungenspezialist Zhong Nanshan am Kantoner Krankenhaus für Atemwegserkrankungen hatte Ende Dezember mit seinem ersten SARS-Patienten zu tun. Offiziell sprachen er und seine Kollegen damals noch von einer "Lungenentzündung mit unbekannter Ursache".
In seiner Heimatstadt Heyuan war der Patient zunächst auf Lungenentzündung behandelt worden. Doch auf Antibiotika sprach er nicht an. Als er zu uns überwiesen wurde, verschlechterte sich sein Zustand dramatisch. Der 41jährige hatte große Schwierigkeiten beim Atmen. Seine Lunge verhärtete sich innerhalb weniger Stunden. Wir versuchten, ihn zu beatmen, aber die Situation wurde trotzdem immer schlimmer. Schließlich haben wir ihm eine hohe Dosis Hormone verabreicht. Und zu unserer Überraschung verbesserte sich sein Zustand am nächsten Tag.
Am 21. Januar fand in Kanton eine erste Krisensitzung statt. Ärzte aus verschiedenen Krankenhäusern tauschten ihre Erfahrungen im Umgang mit der hoch ansteckenden Krankheit aus. Der Lungenexperte Zhong bot sich an, die schwierigsten Fälle aufzunehmen. Der 67jährige ist umstritten. Von der Pekinger Führung als Parteimitglied, Modellarbeiter und neuerdings auch SARS-Experte geehrt, wird er von vielen seiner Landsleute als Lügner beschimpft. Sie werfen Zhong vor, dass er die Öffentlichkeit nicht früher gewarnt habe. Erst nachdem es in Guangdong zu einer Massenpanik kam, wandten sich die Behörden am 11. Februar an die Medien: 305 Menschen hätten sich mit einer viralen Lungenentzündung infiziert, fünf Patienten seien an den Folgen der Atemwegserkrankung gestorben, hieß es. Auf einer wenige Tage später einberufenen Pressekonferenz versicherten Vertreter der Gesundheitsbehörde, sie hätten die Lage inzwischen unter Kontrolle. Der Arzt Zhong saß schweigend daneben.
Ich habe nicht widersprochen, aber ich habe auch nicht zugestimmt. In anschließenden Pressekonferenzen habe ich mich jedoch geäußert und gesagt, wie ich die Lage einschätze.
Zhong machte das, was viele andere in dieser Situation auch taten: Er zog sich auf sein Fachgebiet zurück, behandelte knapp 300 SARS-Fälle und begab sich auf die Suche nach dem Ursprung des Virus. Stolz betont er, dass Guangdong mit 3,8 Prozent die weltweit niedrigste Sterblichkeitsrate bei SARS aufweist.
Dies hat sicher mit unserer Methode zu tun. Wir haben umfangreiche Erfahrungen gesammelt, wie die Patienten auf die Behandlung mit Steroiden reagieren. In vielen Ländern kam es bei der Dosierung zu Fehlern. Es sollten nur Patienten in sehr kritischem Zustand damit behandelt werden. D.h. wenn sich auf dem Röntgenbild deutliche Lungenveränderungen ablesen lassen, das Fieber länger als drei Tage anhält und die Patienten unter Atemnot leiden. Aber selbst dann darf man die Steroide nicht über einen langen Zeitraum und auch nicht in hohen Dosen verabreichen. Im Gegensatz zu Hongkong betrug die höchste Dosis, die wir je gewählt haben, 500 mg. Darüber hinaus ist es entscheidend, wie man beatmet. Wir haben stets versucht eine Intubation zu vermeiden und stattdessen mit Hilfe von Masken zu beatmen.
Doch diese Erfolge gehen im Rückblick unter. Die Kritik an fehlender Transparenz bestimmt noch immer das Bild von Guangdong. Wer wann und warum welche Behörde nicht informiert hat, wird sich wahrscheinlich nie mehr rekonstruieren lassen. Sicher ist jedoch, dass es bei der Kommunikation zwischen den einzelnen Krankenhäusern, dem lokalen Kontrollzentrum für Infektionskrankheiten und der Provinzregierung, vor allem aber zwischen Provinz und Zentrale zu erheblichen Versäumnissen kam. Wichtige Informationen wurden zurückgehalten. Ein Sprecher des Kantoner Zentrums für Epidemien begründet dies mit der Vielzahl an Hierarchieebenen.
Am Anfang haben wir die Krankheit nicht so ernst genommen, denn in dieser Jahreszeit treten häufiger atypische Lungenentzündungen auf. Daher hielten wir es für unnötig, die Bevölkerung zu informieren. Und so einfach ist das ja auch gar nicht. Es kann doch nicht einfach irgendeine Abteilung ihre Meinung verbreiten. Es gibt Gesetze, die es zu beachten gilt. Zunächst muss die Provinzbehörde von der Zentrale autorisiert werden. Aber ich bin mir sicher, wenn die Krankheit gefährlich gewesen wäre, dann hätte die Regierung eine Erklärung abgegeben.
Hätten die Behörden früher reagiert, hätte eine Ausbreitung der hochansteckenden Lungenkrankheit über Hongkong in den Rest der Welt vielleicht verhindert werden können. So aber reiste am 21. Februar ein mit SARS-infizierter Arzt von Kanton zu einer Hochzeit nach Hongkong und steckte dort sieben Menschen an. Diese wiederum trugen das Virus in Hongkonger Krankenhäuser, nach Singapur, Kanada und Vietnam. Der 64jährige Liu Jianlun wurde Hongkongs "Patient Null". Während die Epidemie in Guangdong Mitte März begann abzuflauen, nahm die Situation in Hongkong dramatische Züge an. Obwohl Schulen, Universitäten und Betriebe geschlossen wurden und Tausende Hongkonger Atemschutzmasken trugen, breitete sich die gefährliche Lungenkrankheit immer weiter aus. Am 31. März mussten die Hongkonger Behörden eine komplette Wohnanlage isolieren. In dem Block E des "Amoy Garden" in Kowloon hatten sich innerhalb weniger Tage knapp 330 Anwohner mit dem gefährlichen Virus infiziert. Über die Toilettenspülungen – wie sich später herausstellen sollte. Jeder siebte von ihnen starb. Diese neue Art der Übertragung sorgte landesweit für Panik. Doch das Schlimmste stand erst noch bevor.
Im Frühling 2003 verbreitete sich ein mysteriöses Virus namens SARS in Peking. Statt blühender Bäume und Blumen war alles bedeckt von einem Meer weißer Flecken ...
So beginnt ein Propagandafilm rund um Chinas neue Helden im Schutzanzug. Vater Krankenhauschef, Mutter Virologin, Tochter Krankenschwester – und alle kämpfen an vorderster Front gegen das Virus, das ihr Land so heimtückisch überfiel. In Rekordzeit gedreht und bereits fünfmal im Pekinger Lokal-Fernsehen ausgestrahlt, soll das Rührstück mit dem Titel "Lasst uns nicht vergessen!" den Einsatz der Engel in Weiß würdigen und möglichst die Versäumnisse der politischen Führung im Umgang mit der neuartigen Infektions-Krankheit vergessen machen. Vertuschung, mangelnde Aufklärung, wochenlanges Stillschweigen – hat es laut Vize-Gesundheitsminister Gao Qiang nie gegeben:
Chinas Regierung hat die Epidemie nicht zu vertuschen versucht. Wenn Sie die Zeitungen aufmerksam lesen, können Sie bereits in der Volkszeitung vom 12.Februar einen Artikel darüber finden. Natürlich nannte man die Infektion damals noch "atypische Lungen-Entzündung" und nicht SARS.
Doch zu diesem Zeitpunkt galt bereits eine Nachrichtensperre –Chinas Medien durften nur die offizielle Version wiederholen, wonach an der mysteriösen Lungenseuche seit Januar 305 Menschen erkrankt und 5 gestorben seien. Sechs Wochen lang – während Hunderte weiterer Patienten erkrankten und sich die Infektion von der Öffentlichkeit unbemerkt bis nach Nordchina verbreitete. Per Internet und SMS erfuhren viele Pekinger von Gerüchten und Schreckensmeldungen. So wie die 50jährige Klinik-Angestellte Hong Yun, die im Mai an SARS erkrankte, ihren Ehemann Liu jedoch nicht infizierte:
Zuerst hörten wir nur Gerüchte über diese neuartige Krankheit. Es hieß, ein Schüler der Sanlitun-Grundschule habe sich bei seinem Großvater angesteckt, der Arzt im dortigen Krankenhaus der bewaffneten Polizei war. Dieser wiederum hatte es von einem infizierten Taxifahrer. Das war so Ende März, Anfang April. Vor dem 20.April wussten wir eigentlich nichts – es gab keinerlei offizielle Informationen. Sie sagten nur, es sei alles unter Kontrolle.
Keine Gerüchte, sondern bittere Wahrheit – tatsächlich infizierte ein Taxifahrer in dem besagten Krankenhaus fast 70 Angestellte, die keine Ahnung von der Virulenz und den Übertragungswegen der Infektion hatten. Der Beginn einer tödlichen Serie, die letztendlich zur Abriegelung riesiger Krankenhaus-Komplexe in Peking führte. In der Folge war Chinas Hauptstadt mit über 2500 Fällen und 191 Toten die von SARS am schlimmsten betroffene Region. Doch erst nach wochenlangem Drängen bekamen die Experten der Weltgesundheits-Organisation nicht nur aktuellere Zahlen, sondern auch Zutritt zu einigen Militärkliniken. Dort, im Schatten eines kommunistischen Parallelsystems, hielt die chinesische Regierung Hunderte von SARS-Patienten vor der Statistik verborgen. Der WHO-Vertreter in China, Henk Bekedam, beklagte immer wieder die fehlgeleitete Informationspolitik:
Es gibt viele Gerüchte. Wir mahnen die chinesische Regierung, solchen Gerüchten nachzugehen. Und sowohl mit der Welt als auch mit ihrer eigenen Bevölkerung besser zu kommunizieren. Das ist ebenso wichtig, wie auf eine Meldepflicht für alle Krankenhäuser zu dringen.
Doch während die WHO bereits vor Reisen nach Guangdong und Hongkong warnte, wollte Chinas Gesundheitsminister Zhang Wenkang am 3.April immer noch das Gesundheits-Risiko herunterspielen. Als er zum ersten Mal seit Ausbruch der Epidemie vor die Presse trat, behauptete er:
Als Gesundheitsminister kann ich Ihnen versichern, dass die Lage in den von der Lungen-Krankheit betroffenen Gebieten Chinas unter Kontrolle ist. Es ist absolut sicher, nach China zu kommen, egal ob für Urlaubs- oder Geschäftsreisen sowie Konferenzen. Alle, die Reisen nach China abgesagt haben, werden hoffentlich nach dieser Pressekonferenz ihre Entscheidung revidieren.
Der unglaubliche Zynismus dieser Worte wurde zwei Wochen später offenbar und kostete Zhang seinen Ministerposten. Den Stein ins Rollen brachte ein mutiger Mann namens Jiang Yanyong, pensionierter Chirurg in einem Pekinger Militärhospital, der die Lügen der Regierung öffentlich anprangerte. Telefonisch informierte er die internationale Presse von der Vertuschung:
Meine Kollegen im Militärkrankenhaus Nr.309 erzählten mir, dass sie bis 9.April 60 SARS-Patienten behandelt hätten, von denen 7 gestorben seien. Das bedeutet, die offiziellen Zahlen sind falsch, denn das sind allein für diese eine Militärklinik mehr Fälle als für ganz Peking gemeldet.
Am Ostersonntag enthüllte Vize-Gesundheitsminister Gao Qiang das tatsächliche Ausmaß der Epidemie in Peking: zehnmal so viele Fälle wie bisher zugegeben: 340 Kranke, dazu 400 Verdachtsfälle. Der Fehler lag im System, sagte der eilends berufene Ersatzminister fast kleinlaut:
In unserer Millionen-Stadt Peking sind die Patienten auf 70 verschiedene Krankenhäuser verteilt, und diese sind nicht über ein Netzwerk miteinander verbunden. Zudem war das Gesundheits-Ministerium nicht gut vorbereitet auf eine Krise dieses Ausmaßes und sein Meldesystem war schwach. Es hat dabei versagt, schnell und landesweit einheitlich Informationen auszutauschen oder auch nur entsprechende Anweisungen zu geben.
Das Ditan-Krankenhaus wurde als eines der ersten für SARS-Patienten geräumt. Ein Vorzeige-Hospital: Blitzblanke Flure, strikte Hygiene-Auflagen: Die Patienten wurden über einen doppelt verglasten Flur versorgt, die behandelnden Ärzte kamen über einen abgeriegelten Innenhof. Sie wechselten ihre weißen Schutzanzüge alle 4 Stunden und verbrannten sie sofort danach. Doch bei mehr als 100 neuen SARS-Fällen pro Tag in Peking nützten all diese Vorsichts-Maßnahmen nichts. Die wochenlang versäumte Aufklärung ließ sich nicht innerhalb weniger Tage nachholen. Es kam zu unkontrollierten Infektionen, das Ditan-Krankenhaus wurde abgeriegelt. Ebenso wie Universitäten, Baustellen, Arbeiter-Wohnheime. Auf dem Höhepunkt der Epidemie standen in Peking 30-tausend Menschen unter Quarantäne.
Was wir jetzt am meisten brauchen, ist Hilfe von außen. Beatmungsmaschinen, Mundschutz. In unserem Land ist die technische Ausstattung von Krankenhäusern auf einem sehr niedrigen Standard.
Doktor He beklagte die fehlende Technik – schlimmer war deren falsche Handhabung. Von über 30 000 Ärzten in Peking waren weniger als vier Prozent qualifiziert genug, um Beatmungsmaschinen zu bedienen - eine Haupt-Ansteckungsquelle. Die Regierung holte 1200 Militär-Ärzte und -Schwestern aus allen Teilen Chinas, um Pekings Gesundheitswesen vor dem Kollaps zu bewahren. Im Vorort Xiaotangshan wurde innerhalb einer Woche eine Eintausend-Betten-Klinik aus dem Boden gestampft. Bis die Epidemie abflaute, wurden dort fast 700 SARS-Patienten behandelt. Hong Yun war eine der letzten, die Ende Juni entlassen wurde – nach 7 Wochen und nachdem ihr Leben auf Messers Schneide stand:
Eine Woche lang konnte ich mich nicht bewegen, lag nur im Bett. Die Schwestern saugten den Schleim aus der Lunge ab. Sie fütterten mich und flehten, ich solle mehr essen. Ich war so gerührt von ihrer Fürsorge. Am Rande des Todes haben sie mich durch ihre Blicke ermutigt. Ich konnte nur ihre Augen sehen. Aber die stärkten meinen Mut, durchzuhalten.
Gesicht und Arme der zierlichen 50jährigen sind noch leicht geschwollen. Die seelischen Narben sind nur schwer messbar. Laut einer Umfrage fühlten sich 85 Prozent aller geheilten SARS-Patienten minderwertig und litten unter Misstrauen und Diskriminierung durch ihre Umwelt. Auch Hongs Nachbarn reagierten panisch, als am 4.Mai der Notarztwagen mit der Aufschrift 1-2-0 auftauchte. Jeder wußte: der SARS-Notruf. Die Hausbewohner verlangten, dass nicht nur die Wohnung gründlich desinfiziert, sondern alle Bewohner weggebracht werden sollten:
Wir konnten das sogar verstehen. Aber eigentlich hätte mein Ehemann zuhause in Quarantäne bleiben können. Nur weil die Nachbarn sich beschwerten, wurde er für zwei Wochen an einen anderen Ort gebracht.
Hong Yun hatte sich bei der Putzfrau ihrer Mutter angesteckt – einer Wanderarbeiterin. Mindestens 100 Millionen ziehen ständig auf der Suche nach Arbeit durch China, wohnen beengt in armseligen Hütten am Rande der Großstädte. Aus Furcht vor SARS sitzen viele von ihnen seit Monaten in ihren Heimatdörfern fest. Ganze Dörfer hatten sich freiwillig von der Außenwelt abgeschottet. Noch ist man vorsichtig mit einer völligen Entwarnung.
In Waziping, einem 130-Seelen-Ort mitten in der nordchinesischen Provinz Shanxi, blockiert ein Schlagbaum die einzige Zufahrt. In einem Heftchen wird weiterhin notiert, wer das Dorf betritt und verlässt. He Zonggui ist Dorfchef und leitet die Bürgerwehr:
Selbst wenn die Situation unter Kontrolle scheint, dürfen wir nicht leichtfertig sein und müssen wachsam bleiben. In der Stadt kann man SARS-Fälle leicht isolieren oder das ganze Haus unter Quarantäne stellen. Aber wenn hier im Dorf einer SARS bekäme, könnte er einfach verschwinden und andere anstecken.
Es waren diese rabiaten Maßnahmen, die laut Urteil der Weltgesundheitsorganisation zur schnellen Eindämmung der Epidemie in China führten. Vor allem die rigorose Isolierung von Gebäuden und ganzen Landstrichen. Dies lobte WHO-Asiendirektor Shigeru Omi, als er am 24.Juni China für SARS-frei erklärte:
In der Frühphase der SARS-Epidemie hat China weder schnell noch transparent genug informiert, so dass wir den weltweiten Kampf gegen SARS nur mit Verzögerung aufnehmen konnten. Seit Mitte April jedoch sind die Kontroll-Maßnahmen erfolgreich. Generell können wir sagen, dass seitdem sowohl die Regierung als auch die Bevölkerung Chinas Hervorragendes geleistet haben.
Das landesweite Fiebermessen diente dagegen eher der Beruhigung. 25 Millionen Mal wurde laut Statistik bei Reisenden in China die Körpertemperatur gemessen. 624 Verdachtsfälle wurden isoliert, aber nur fünf hatten tatsächlich SARS. Immerhin, das Hygiene-Bewusstsein sei jetzt deutlich besser, meint Li, der Dorfarzt von Waziping. Jeder wisse: Hände waschen, Füße abtreten. Doch so manche schlechte Gewohnheit ist nur schwer auszurotten.
Auf den Boden spucken wird in den Großstädten jetzt bestraft, mit 50 oder sogar 100 Yuan. Bei uns sind immerhin große Spucknäpfe aufgestellt. Aber ganz abgewöhnen? Ehrlich gesagt, das werden wir in unserem Dorf wohl nicht schaffen.
In chinesischen Restaurants verlangen die Kunden plötzlich Vorlege-Löffel, um sich vom gemeinsamen Teller zu bedienen. Auch die jahrtausendealte chinesische Ess-Tradition steht durch SARS auf dem Prüfstand, meint der Kochbuch-Autor Liu Qi:
Wir Chinesen gehen gern in großer Gesellschaft essen und nehmen aus gemeinsamen Schüsseln. Da geht’s laut und lustig zu. Das ist aber auch unhygienisch. Wegen der Angst vor Ansteckung hat sich diese Lebensart während SARS verändert, gerade bei Intellektuellen. Aber ich denke, mit der Zeit vergessen die Leute ihre Vorsicht wieder, weil die Tradition stärker ist.
Als wichtigste Konsequenz aus der Krise soll jedoch Chinas Gesundheits-Wesen reformiert werden. SARS offenbarte dessen grobe Mängel: weil sich kaum ein Bauer einen Arztbesuch leisten kann, blieben Fieberkranke unbehandelt. Zuerst versprach Chinas Regierung, für SARS-Untersuchungen die Kosten zu übernehmen. Dann stellte Minister Gao Qiang auch eine grundlegende Reform in Aussicht:
Unser Kampf gegen SARS hat viele Fehler in unserem öffentlichen Gesundheitssystem offenbart. Kommunistische Partei und Staatsrat haben uns beauftragt, unser öffentliches Melde-System, unseren Krisen-Mechanismus und die Überwachung und Kontrolle ansteckender Krankheiten zu verbessern. Das gilt besonders für die Gesundheits-Versorgung in den ländlichen Gebieten. Wir wollen ein Dach der Sicherheit über den Köpfen unserer Volksmassen bauen.
Ironie des Schicksals? Der gefeierte SARS-Experte Zhong aus Kanton, der Premierminister Wen Jiabao zum Krisengipfel nach Bangkok begleiten durfte, verdient heute weniger als vor dem Ausbruch der Krise. Wie alle anderen Krankenhäuser auch, die SARS-Patienten behandelten, ist sein Klinikum tief in die roten Zahlen gerutscht. Kranke mieden in den letzten Monaten den Gang zum Arzt, aus Sorge, sich mit dem Virus zu infizieren. Die Einnahmen fehlen nun in dem knapp kalkulierten Krankenhausbudget. Hinzu kommt, dass die Behörden noch längst nicht für alle SARS-Patienten die Behandlungskosten zurückerstattet haben. Zhong ist jedoch zuversichtlich, dass die Gesundheitsversorgung sich in Zukunft zum besseren wandeln wird.
Ich bin der Meinung, dass die chinesische Führung und insbesondere die Provinzregierung von Guangdong ihre Lektion gelernt haben. Sie sind sich bewusst geworden, dass die öffentliche Gesundheit und der Umgang mit Epidemien unmittelbare Auswirkungen auf die Wirtschaft und die soziale Stabilität haben. In Guangdong sollen 1,5 Milliarden Yuan in den Bau eines großen Krankenhauses für Infektionskrankheiten investiert werden. Insofern denke ich, dass SARS auch etwas positives bewirkt hat.
Auch die Medien veränderten sich durch SARS. Journalisten wurden mutiger und mieden nicht länger die offiziell ausgewiesenen Tabuthemen. So nahm die Pekinger Zeitschrift "Life Week" Anfang Juni ein Foto des Arztes Jiang Yanyong auf ihre Titelseite und zitierte den 72jährigen mit den Worten: "Die Interessen des Volkes stehen für mich über allem". Der Arzt hatte Anfang April das wahre Ausmaß der Lungenkrankheit SARS enthüllt. Es scheint sowohl in der obersten Führungsspitze als auch in den Verlagen Leute zu geben, die ein Interesse daran haben, dass sein Name in aller Munde bleibt – als der Mann, der das Schweigen brach, sagt der Shanghaier Verleger Chen Baoping.
Durch SARS haben wir erfahren, welche Bedeutung einer offenen und um Wahrheit bemühten Berichterstattung zukommt und wie wichtig Transparenz für die gesamte Gesellschaft ist. Ich denke, dass die Regierung in Zukunft nicht noch einmal versuchen wird, eine Krise zu vertuschen, vorausgesetzt, dass sie verantwortungsvoll handelt. Es ist wohl allen Beteiligten klar geworden, dass SARS sich nicht so schnell ausgebreitet hätte, wenn früher darüber berichten worden wäre.
Der Shanghaier Historiker Xiao Gongqin bezeichnet die vorübergehende Öffnung der Medien als lediglich "vertrauensbildende Maßnahme". Es gehe allein darum, den Eindruck zu erwecken, dass die Regierung aus ihren Fehlern lerne, damit keiner nach der politischen Verantwortung fragt.
Es wird einige Zeit dauern, bis das Vertrauen wieder hergestellt ist. Denn einige Minister haben so offensichtlich gelogen, dass die Regierung viel Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Aber vieles wird davon abhängen, wie die Regierung in Zukunft vorgeht.
Von einer politische Öffnung aber kann keine Rede sein. So währte die Selbstkritik der Führung auch nicht lange. Über den Arzt Jiang darf inzwischen nicht mehr berichtet werden. Und auch bei anderen Themen bekamen die Verlage den Druck der Zensur inzwischen wieder zu spüren. Dass SARS zu einem Katalysator für politische Reformen in China werden könne, wird immer unwahrscheinlicher. Die Erinnerung an rund 5.300 SARS-Fälle und knapp 350 Todesopfer verblasst bereits. Die offizielle Propaganda preist SARS als Prüfung, die China erfolgreich bestanden habe. Premierminister Wen Jiabao appellierte in seiner Rede am 1. Juli an die einigende Kraft von SARS.
Was unsere Nation verloren hat, wird sie durch verstärkte Anstrengungen wettmachen. Wir haben schwierige Zeiten hinter uns, aber die SARS-Epidemie hat den Mut unseres Volkes nur gestärkt. Wir haben den Sieg über SARS errungen und sind als geeinte Nation aus der Krise hervorgegangen.
Das klingt nicht gerade so, als ob China bei der nächsten Epidemie anders reagieren wird.
Der Lieferant Guo greift in die Menge, packt mit jeder Hand zwei Gänse am Hals und wuchtet sie in seinen kleinen blauen Lieferwagen. Rund einhundert Tiere kauft er hier jeden Morgen. Die Tagesration für das Zhujiang-Restaurant im Zentrum von Kanton.
Enten, Gänse und Hühner sind das einzige, was momentan auf dem Großmarkt noch gehandelt werden darf. Bis Ende Mai arbeiteten hier vierhundert Händler, die ihre Ware aus ganz Südchina bezogen. Von Hunden, Katzen, Ratten, Schildkröten und Schlangen über Affen und Pangoline hin zu Waschbären wurde hier fast alles verkauft, was sich irgendwie zubereiten lässt. Die Kantoner sind dafür bekannt, dass sie gerne exotische Tiere essen – nicht selten sogar roh. Für die Händler ein lukratives Geschäft. Auf den drei Kantoner Großmärkten, die auf den Handel mit Tieren spezialisiert sind, wurden bis vor kurzem täglich rund 100.000 Euro umgesetzt. Doch seit Wissenschaftler den Verdacht äußerten, dass das Coronavirus möglicherweise von der Zibetkatze auf den Menschen übertragen wurde, hat die Stadtregierung den Handel mit Wildtieren verboten. Am 26. Mai wurde den Händlern ihre Lizenz entzogen; rund 30.000 Tiere mussten getötet werden. Für den 46jährigen Wang ein herber Schlag.
Wir wissen nicht, wann wir jemals wieder Schlangen verkaufen dürfen. Wir müssen abwarten, wie entschieden wird. Bis dahin können wir nichts verdienen, eine Entschädigung erhalten wir auch nicht. Wenn wir unsere Lizenz nicht bald zurückbekommen, dann müssen wir zurück nach Hause und dort auf den Feldern arbeiten.
Seit sieben Jahren verkauft Wang auf dem Dongbao-Markt die Schlagen, die seine Brüder in Hunan züchten. Gemeinsam mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Söhnen haust er in dem kleinen Zimmer über dem Verkaufsraum. Wand an Wand mit den anderen Händlern. Die Familie Wang braucht nicht viel. Auf dem kalten Betonboden hat sie Bambusmatten ausgelegt. Im Verkaufsraum macht die Familie es sich abends direkt neben den Schlangenkäfigen vor dem Fernseher bequem. Am Boden steht der Wok, den Wangs Frau zum Kochen nutzt, daneben die Plastikschüsseln, in denen sie Geschirr und Kleider wäscht.
Ich habe keine Angst, so eng mit den Tieren auf einem Fleck zu leben. Wir machen das nun schon seit 13 Jahren so. Na und! Es gab auf diesem Markt nicht einen einzigen SARS-Fall. Wenn SARS tatsächlich von den Tieren stammen würde, dann hätten wir doch zuerst sterben müssen!
Für und Wang und seine Kollegen ist klar: Allein die Presse ist schuld, dass gerade sie verdächtigt werden, das Virus in die Welt gebracht zu haben. Schließlich sei Guangdong nicht die einzige Provinz, in der exotische Tiere im Kochtopf landeten. In den letzten Monaten seien viele Journalisten, ja sogar WHO-Experten da gewesen und hätten die Nase gerümpft über die hygienischen Zustände, sagt Wang. Seitdem patrouillieren regelmäßig Wachleuchte über den ausgestorbenen Markt und verscheuchen Fremde. Die Provinzregierung will mit aller Kraft verhindern, dass Guangdong der Welt als Virenprovinz in Erinnerung bleibt.
Unter Mikrobiologen gilt Guangdong jedoch aufgrund des feuchtwarmen subtropischen Klimas als ideale Brutstätte zur Übertragung von Seuchen. Oft klettert das Thermometer auf über 40 Grad. Wissenschaftler bezeichnen die wohlhabende Küstenprovinz als eine Hexenküche, aus der Krankheitserreger nur so hervorsprudeln.
Nicht nur auf den Großmärkten, sondern auch in großen Landesteilen leben Mensch und Tier eng beieinander. In dem dicht besiedelten Perlflussdelta holen sich viele Bewohner die Tiere aus Platzmangel in die Hausflure oder gar in ihre eigene Wohnung. Rund 70 Mio. Menschen leben in dieser Region, darunter mehr als zwölf Millionen Wanderarbeiter aus den Armutsprovinzen des Landes.
Wissenschaftler gehen der Frage nach, ob möglicherweise gerade die Nähe von Hühnern, Enten und Schweinen und damit der Austausch zwischen unterschiedlichen Spezien die Übertragung des Virus auf den Menschen ermöglicht hat. Fest steht bisher nur, dass die ersten SARS-Fälle Mitte November letzten Jahres in der Industrie-Stadt Foshan, rund 30 km westlich von Kanton, auftraten. Wer der wirkliche "Patient Null" ist, darüber scheiden sich die Geister: Mal ist in der chinesischen Presse von dem Koch Huang die Rede, dann von einem Geflügelhändler, und dann wieder von dem Dorfvorsteher Pang, der keinerlei Kontakt zu Tieren hatte, jedoch gelegentlich Katzenfleisch aß.
Der renommierte Lungenspezialist Zhong Nanshan am Kantoner Krankenhaus für Atemwegserkrankungen hatte Ende Dezember mit seinem ersten SARS-Patienten zu tun. Offiziell sprachen er und seine Kollegen damals noch von einer "Lungenentzündung mit unbekannter Ursache".
In seiner Heimatstadt Heyuan war der Patient zunächst auf Lungenentzündung behandelt worden. Doch auf Antibiotika sprach er nicht an. Als er zu uns überwiesen wurde, verschlechterte sich sein Zustand dramatisch. Der 41jährige hatte große Schwierigkeiten beim Atmen. Seine Lunge verhärtete sich innerhalb weniger Stunden. Wir versuchten, ihn zu beatmen, aber die Situation wurde trotzdem immer schlimmer. Schließlich haben wir ihm eine hohe Dosis Hormone verabreicht. Und zu unserer Überraschung verbesserte sich sein Zustand am nächsten Tag.
Am 21. Januar fand in Kanton eine erste Krisensitzung statt. Ärzte aus verschiedenen Krankenhäusern tauschten ihre Erfahrungen im Umgang mit der hoch ansteckenden Krankheit aus. Der Lungenexperte Zhong bot sich an, die schwierigsten Fälle aufzunehmen. Der 67jährige ist umstritten. Von der Pekinger Führung als Parteimitglied, Modellarbeiter und neuerdings auch SARS-Experte geehrt, wird er von vielen seiner Landsleute als Lügner beschimpft. Sie werfen Zhong vor, dass er die Öffentlichkeit nicht früher gewarnt habe. Erst nachdem es in Guangdong zu einer Massenpanik kam, wandten sich die Behörden am 11. Februar an die Medien: 305 Menschen hätten sich mit einer viralen Lungenentzündung infiziert, fünf Patienten seien an den Folgen der Atemwegserkrankung gestorben, hieß es. Auf einer wenige Tage später einberufenen Pressekonferenz versicherten Vertreter der Gesundheitsbehörde, sie hätten die Lage inzwischen unter Kontrolle. Der Arzt Zhong saß schweigend daneben.
Ich habe nicht widersprochen, aber ich habe auch nicht zugestimmt. In anschließenden Pressekonferenzen habe ich mich jedoch geäußert und gesagt, wie ich die Lage einschätze.
Zhong machte das, was viele andere in dieser Situation auch taten: Er zog sich auf sein Fachgebiet zurück, behandelte knapp 300 SARS-Fälle und begab sich auf die Suche nach dem Ursprung des Virus. Stolz betont er, dass Guangdong mit 3,8 Prozent die weltweit niedrigste Sterblichkeitsrate bei SARS aufweist.
Dies hat sicher mit unserer Methode zu tun. Wir haben umfangreiche Erfahrungen gesammelt, wie die Patienten auf die Behandlung mit Steroiden reagieren. In vielen Ländern kam es bei der Dosierung zu Fehlern. Es sollten nur Patienten in sehr kritischem Zustand damit behandelt werden. D.h. wenn sich auf dem Röntgenbild deutliche Lungenveränderungen ablesen lassen, das Fieber länger als drei Tage anhält und die Patienten unter Atemnot leiden. Aber selbst dann darf man die Steroide nicht über einen langen Zeitraum und auch nicht in hohen Dosen verabreichen. Im Gegensatz zu Hongkong betrug die höchste Dosis, die wir je gewählt haben, 500 mg. Darüber hinaus ist es entscheidend, wie man beatmet. Wir haben stets versucht eine Intubation zu vermeiden und stattdessen mit Hilfe von Masken zu beatmen.
Doch diese Erfolge gehen im Rückblick unter. Die Kritik an fehlender Transparenz bestimmt noch immer das Bild von Guangdong. Wer wann und warum welche Behörde nicht informiert hat, wird sich wahrscheinlich nie mehr rekonstruieren lassen. Sicher ist jedoch, dass es bei der Kommunikation zwischen den einzelnen Krankenhäusern, dem lokalen Kontrollzentrum für Infektionskrankheiten und der Provinzregierung, vor allem aber zwischen Provinz und Zentrale zu erheblichen Versäumnissen kam. Wichtige Informationen wurden zurückgehalten. Ein Sprecher des Kantoner Zentrums für Epidemien begründet dies mit der Vielzahl an Hierarchieebenen.
Am Anfang haben wir die Krankheit nicht so ernst genommen, denn in dieser Jahreszeit treten häufiger atypische Lungenentzündungen auf. Daher hielten wir es für unnötig, die Bevölkerung zu informieren. Und so einfach ist das ja auch gar nicht. Es kann doch nicht einfach irgendeine Abteilung ihre Meinung verbreiten. Es gibt Gesetze, die es zu beachten gilt. Zunächst muss die Provinzbehörde von der Zentrale autorisiert werden. Aber ich bin mir sicher, wenn die Krankheit gefährlich gewesen wäre, dann hätte die Regierung eine Erklärung abgegeben.
Hätten die Behörden früher reagiert, hätte eine Ausbreitung der hochansteckenden Lungenkrankheit über Hongkong in den Rest der Welt vielleicht verhindert werden können. So aber reiste am 21. Februar ein mit SARS-infizierter Arzt von Kanton zu einer Hochzeit nach Hongkong und steckte dort sieben Menschen an. Diese wiederum trugen das Virus in Hongkonger Krankenhäuser, nach Singapur, Kanada und Vietnam. Der 64jährige Liu Jianlun wurde Hongkongs "Patient Null". Während die Epidemie in Guangdong Mitte März begann abzuflauen, nahm die Situation in Hongkong dramatische Züge an. Obwohl Schulen, Universitäten und Betriebe geschlossen wurden und Tausende Hongkonger Atemschutzmasken trugen, breitete sich die gefährliche Lungenkrankheit immer weiter aus. Am 31. März mussten die Hongkonger Behörden eine komplette Wohnanlage isolieren. In dem Block E des "Amoy Garden" in Kowloon hatten sich innerhalb weniger Tage knapp 330 Anwohner mit dem gefährlichen Virus infiziert. Über die Toilettenspülungen – wie sich später herausstellen sollte. Jeder siebte von ihnen starb. Diese neue Art der Übertragung sorgte landesweit für Panik. Doch das Schlimmste stand erst noch bevor.
Im Frühling 2003 verbreitete sich ein mysteriöses Virus namens SARS in Peking. Statt blühender Bäume und Blumen war alles bedeckt von einem Meer weißer Flecken ...
So beginnt ein Propagandafilm rund um Chinas neue Helden im Schutzanzug. Vater Krankenhauschef, Mutter Virologin, Tochter Krankenschwester – und alle kämpfen an vorderster Front gegen das Virus, das ihr Land so heimtückisch überfiel. In Rekordzeit gedreht und bereits fünfmal im Pekinger Lokal-Fernsehen ausgestrahlt, soll das Rührstück mit dem Titel "Lasst uns nicht vergessen!" den Einsatz der Engel in Weiß würdigen und möglichst die Versäumnisse der politischen Führung im Umgang mit der neuartigen Infektions-Krankheit vergessen machen. Vertuschung, mangelnde Aufklärung, wochenlanges Stillschweigen – hat es laut Vize-Gesundheitsminister Gao Qiang nie gegeben:
Chinas Regierung hat die Epidemie nicht zu vertuschen versucht. Wenn Sie die Zeitungen aufmerksam lesen, können Sie bereits in der Volkszeitung vom 12.Februar einen Artikel darüber finden. Natürlich nannte man die Infektion damals noch "atypische Lungen-Entzündung" und nicht SARS.
Doch zu diesem Zeitpunkt galt bereits eine Nachrichtensperre –Chinas Medien durften nur die offizielle Version wiederholen, wonach an der mysteriösen Lungenseuche seit Januar 305 Menschen erkrankt und 5 gestorben seien. Sechs Wochen lang – während Hunderte weiterer Patienten erkrankten und sich die Infektion von der Öffentlichkeit unbemerkt bis nach Nordchina verbreitete. Per Internet und SMS erfuhren viele Pekinger von Gerüchten und Schreckensmeldungen. So wie die 50jährige Klinik-Angestellte Hong Yun, die im Mai an SARS erkrankte, ihren Ehemann Liu jedoch nicht infizierte:
Zuerst hörten wir nur Gerüchte über diese neuartige Krankheit. Es hieß, ein Schüler der Sanlitun-Grundschule habe sich bei seinem Großvater angesteckt, der Arzt im dortigen Krankenhaus der bewaffneten Polizei war. Dieser wiederum hatte es von einem infizierten Taxifahrer. Das war so Ende März, Anfang April. Vor dem 20.April wussten wir eigentlich nichts – es gab keinerlei offizielle Informationen. Sie sagten nur, es sei alles unter Kontrolle.
Keine Gerüchte, sondern bittere Wahrheit – tatsächlich infizierte ein Taxifahrer in dem besagten Krankenhaus fast 70 Angestellte, die keine Ahnung von der Virulenz und den Übertragungswegen der Infektion hatten. Der Beginn einer tödlichen Serie, die letztendlich zur Abriegelung riesiger Krankenhaus-Komplexe in Peking führte. In der Folge war Chinas Hauptstadt mit über 2500 Fällen und 191 Toten die von SARS am schlimmsten betroffene Region. Doch erst nach wochenlangem Drängen bekamen die Experten der Weltgesundheits-Organisation nicht nur aktuellere Zahlen, sondern auch Zutritt zu einigen Militärkliniken. Dort, im Schatten eines kommunistischen Parallelsystems, hielt die chinesische Regierung Hunderte von SARS-Patienten vor der Statistik verborgen. Der WHO-Vertreter in China, Henk Bekedam, beklagte immer wieder die fehlgeleitete Informationspolitik:
Es gibt viele Gerüchte. Wir mahnen die chinesische Regierung, solchen Gerüchten nachzugehen. Und sowohl mit der Welt als auch mit ihrer eigenen Bevölkerung besser zu kommunizieren. Das ist ebenso wichtig, wie auf eine Meldepflicht für alle Krankenhäuser zu dringen.
Doch während die WHO bereits vor Reisen nach Guangdong und Hongkong warnte, wollte Chinas Gesundheitsminister Zhang Wenkang am 3.April immer noch das Gesundheits-Risiko herunterspielen. Als er zum ersten Mal seit Ausbruch der Epidemie vor die Presse trat, behauptete er:
Als Gesundheitsminister kann ich Ihnen versichern, dass die Lage in den von der Lungen-Krankheit betroffenen Gebieten Chinas unter Kontrolle ist. Es ist absolut sicher, nach China zu kommen, egal ob für Urlaubs- oder Geschäftsreisen sowie Konferenzen. Alle, die Reisen nach China abgesagt haben, werden hoffentlich nach dieser Pressekonferenz ihre Entscheidung revidieren.
Der unglaubliche Zynismus dieser Worte wurde zwei Wochen später offenbar und kostete Zhang seinen Ministerposten. Den Stein ins Rollen brachte ein mutiger Mann namens Jiang Yanyong, pensionierter Chirurg in einem Pekinger Militärhospital, der die Lügen der Regierung öffentlich anprangerte. Telefonisch informierte er die internationale Presse von der Vertuschung:
Meine Kollegen im Militärkrankenhaus Nr.309 erzählten mir, dass sie bis 9.April 60 SARS-Patienten behandelt hätten, von denen 7 gestorben seien. Das bedeutet, die offiziellen Zahlen sind falsch, denn das sind allein für diese eine Militärklinik mehr Fälle als für ganz Peking gemeldet.
Am Ostersonntag enthüllte Vize-Gesundheitsminister Gao Qiang das tatsächliche Ausmaß der Epidemie in Peking: zehnmal so viele Fälle wie bisher zugegeben: 340 Kranke, dazu 400 Verdachtsfälle. Der Fehler lag im System, sagte der eilends berufene Ersatzminister fast kleinlaut:
In unserer Millionen-Stadt Peking sind die Patienten auf 70 verschiedene Krankenhäuser verteilt, und diese sind nicht über ein Netzwerk miteinander verbunden. Zudem war das Gesundheits-Ministerium nicht gut vorbereitet auf eine Krise dieses Ausmaßes und sein Meldesystem war schwach. Es hat dabei versagt, schnell und landesweit einheitlich Informationen auszutauschen oder auch nur entsprechende Anweisungen zu geben.
Das Ditan-Krankenhaus wurde als eines der ersten für SARS-Patienten geräumt. Ein Vorzeige-Hospital: Blitzblanke Flure, strikte Hygiene-Auflagen: Die Patienten wurden über einen doppelt verglasten Flur versorgt, die behandelnden Ärzte kamen über einen abgeriegelten Innenhof. Sie wechselten ihre weißen Schutzanzüge alle 4 Stunden und verbrannten sie sofort danach. Doch bei mehr als 100 neuen SARS-Fällen pro Tag in Peking nützten all diese Vorsichts-Maßnahmen nichts. Die wochenlang versäumte Aufklärung ließ sich nicht innerhalb weniger Tage nachholen. Es kam zu unkontrollierten Infektionen, das Ditan-Krankenhaus wurde abgeriegelt. Ebenso wie Universitäten, Baustellen, Arbeiter-Wohnheime. Auf dem Höhepunkt der Epidemie standen in Peking 30-tausend Menschen unter Quarantäne.
Was wir jetzt am meisten brauchen, ist Hilfe von außen. Beatmungsmaschinen, Mundschutz. In unserem Land ist die technische Ausstattung von Krankenhäusern auf einem sehr niedrigen Standard.
Doktor He beklagte die fehlende Technik – schlimmer war deren falsche Handhabung. Von über 30 000 Ärzten in Peking waren weniger als vier Prozent qualifiziert genug, um Beatmungsmaschinen zu bedienen - eine Haupt-Ansteckungsquelle. Die Regierung holte 1200 Militär-Ärzte und -Schwestern aus allen Teilen Chinas, um Pekings Gesundheitswesen vor dem Kollaps zu bewahren. Im Vorort Xiaotangshan wurde innerhalb einer Woche eine Eintausend-Betten-Klinik aus dem Boden gestampft. Bis die Epidemie abflaute, wurden dort fast 700 SARS-Patienten behandelt. Hong Yun war eine der letzten, die Ende Juni entlassen wurde – nach 7 Wochen und nachdem ihr Leben auf Messers Schneide stand:
Eine Woche lang konnte ich mich nicht bewegen, lag nur im Bett. Die Schwestern saugten den Schleim aus der Lunge ab. Sie fütterten mich und flehten, ich solle mehr essen. Ich war so gerührt von ihrer Fürsorge. Am Rande des Todes haben sie mich durch ihre Blicke ermutigt. Ich konnte nur ihre Augen sehen. Aber die stärkten meinen Mut, durchzuhalten.
Gesicht und Arme der zierlichen 50jährigen sind noch leicht geschwollen. Die seelischen Narben sind nur schwer messbar. Laut einer Umfrage fühlten sich 85 Prozent aller geheilten SARS-Patienten minderwertig und litten unter Misstrauen und Diskriminierung durch ihre Umwelt. Auch Hongs Nachbarn reagierten panisch, als am 4.Mai der Notarztwagen mit der Aufschrift 1-2-0 auftauchte. Jeder wußte: der SARS-Notruf. Die Hausbewohner verlangten, dass nicht nur die Wohnung gründlich desinfiziert, sondern alle Bewohner weggebracht werden sollten:
Wir konnten das sogar verstehen. Aber eigentlich hätte mein Ehemann zuhause in Quarantäne bleiben können. Nur weil die Nachbarn sich beschwerten, wurde er für zwei Wochen an einen anderen Ort gebracht.
Hong Yun hatte sich bei der Putzfrau ihrer Mutter angesteckt – einer Wanderarbeiterin. Mindestens 100 Millionen ziehen ständig auf der Suche nach Arbeit durch China, wohnen beengt in armseligen Hütten am Rande der Großstädte. Aus Furcht vor SARS sitzen viele von ihnen seit Monaten in ihren Heimatdörfern fest. Ganze Dörfer hatten sich freiwillig von der Außenwelt abgeschottet. Noch ist man vorsichtig mit einer völligen Entwarnung.
In Waziping, einem 130-Seelen-Ort mitten in der nordchinesischen Provinz Shanxi, blockiert ein Schlagbaum die einzige Zufahrt. In einem Heftchen wird weiterhin notiert, wer das Dorf betritt und verlässt. He Zonggui ist Dorfchef und leitet die Bürgerwehr:
Selbst wenn die Situation unter Kontrolle scheint, dürfen wir nicht leichtfertig sein und müssen wachsam bleiben. In der Stadt kann man SARS-Fälle leicht isolieren oder das ganze Haus unter Quarantäne stellen. Aber wenn hier im Dorf einer SARS bekäme, könnte er einfach verschwinden und andere anstecken.
Es waren diese rabiaten Maßnahmen, die laut Urteil der Weltgesundheitsorganisation zur schnellen Eindämmung der Epidemie in China führten. Vor allem die rigorose Isolierung von Gebäuden und ganzen Landstrichen. Dies lobte WHO-Asiendirektor Shigeru Omi, als er am 24.Juni China für SARS-frei erklärte:
In der Frühphase der SARS-Epidemie hat China weder schnell noch transparent genug informiert, so dass wir den weltweiten Kampf gegen SARS nur mit Verzögerung aufnehmen konnten. Seit Mitte April jedoch sind die Kontroll-Maßnahmen erfolgreich. Generell können wir sagen, dass seitdem sowohl die Regierung als auch die Bevölkerung Chinas Hervorragendes geleistet haben.
Das landesweite Fiebermessen diente dagegen eher der Beruhigung. 25 Millionen Mal wurde laut Statistik bei Reisenden in China die Körpertemperatur gemessen. 624 Verdachtsfälle wurden isoliert, aber nur fünf hatten tatsächlich SARS. Immerhin, das Hygiene-Bewusstsein sei jetzt deutlich besser, meint Li, der Dorfarzt von Waziping. Jeder wisse: Hände waschen, Füße abtreten. Doch so manche schlechte Gewohnheit ist nur schwer auszurotten.
Auf den Boden spucken wird in den Großstädten jetzt bestraft, mit 50 oder sogar 100 Yuan. Bei uns sind immerhin große Spucknäpfe aufgestellt. Aber ganz abgewöhnen? Ehrlich gesagt, das werden wir in unserem Dorf wohl nicht schaffen.
In chinesischen Restaurants verlangen die Kunden plötzlich Vorlege-Löffel, um sich vom gemeinsamen Teller zu bedienen. Auch die jahrtausendealte chinesische Ess-Tradition steht durch SARS auf dem Prüfstand, meint der Kochbuch-Autor Liu Qi:
Wir Chinesen gehen gern in großer Gesellschaft essen und nehmen aus gemeinsamen Schüsseln. Da geht’s laut und lustig zu. Das ist aber auch unhygienisch. Wegen der Angst vor Ansteckung hat sich diese Lebensart während SARS verändert, gerade bei Intellektuellen. Aber ich denke, mit der Zeit vergessen die Leute ihre Vorsicht wieder, weil die Tradition stärker ist.
Als wichtigste Konsequenz aus der Krise soll jedoch Chinas Gesundheits-Wesen reformiert werden. SARS offenbarte dessen grobe Mängel: weil sich kaum ein Bauer einen Arztbesuch leisten kann, blieben Fieberkranke unbehandelt. Zuerst versprach Chinas Regierung, für SARS-Untersuchungen die Kosten zu übernehmen. Dann stellte Minister Gao Qiang auch eine grundlegende Reform in Aussicht:
Unser Kampf gegen SARS hat viele Fehler in unserem öffentlichen Gesundheitssystem offenbart. Kommunistische Partei und Staatsrat haben uns beauftragt, unser öffentliches Melde-System, unseren Krisen-Mechanismus und die Überwachung und Kontrolle ansteckender Krankheiten zu verbessern. Das gilt besonders für die Gesundheits-Versorgung in den ländlichen Gebieten. Wir wollen ein Dach der Sicherheit über den Köpfen unserer Volksmassen bauen.
Ironie des Schicksals? Der gefeierte SARS-Experte Zhong aus Kanton, der Premierminister Wen Jiabao zum Krisengipfel nach Bangkok begleiten durfte, verdient heute weniger als vor dem Ausbruch der Krise. Wie alle anderen Krankenhäuser auch, die SARS-Patienten behandelten, ist sein Klinikum tief in die roten Zahlen gerutscht. Kranke mieden in den letzten Monaten den Gang zum Arzt, aus Sorge, sich mit dem Virus zu infizieren. Die Einnahmen fehlen nun in dem knapp kalkulierten Krankenhausbudget. Hinzu kommt, dass die Behörden noch längst nicht für alle SARS-Patienten die Behandlungskosten zurückerstattet haben. Zhong ist jedoch zuversichtlich, dass die Gesundheitsversorgung sich in Zukunft zum besseren wandeln wird.
Ich bin der Meinung, dass die chinesische Führung und insbesondere die Provinzregierung von Guangdong ihre Lektion gelernt haben. Sie sind sich bewusst geworden, dass die öffentliche Gesundheit und der Umgang mit Epidemien unmittelbare Auswirkungen auf die Wirtschaft und die soziale Stabilität haben. In Guangdong sollen 1,5 Milliarden Yuan in den Bau eines großen Krankenhauses für Infektionskrankheiten investiert werden. Insofern denke ich, dass SARS auch etwas positives bewirkt hat.
Auch die Medien veränderten sich durch SARS. Journalisten wurden mutiger und mieden nicht länger die offiziell ausgewiesenen Tabuthemen. So nahm die Pekinger Zeitschrift "Life Week" Anfang Juni ein Foto des Arztes Jiang Yanyong auf ihre Titelseite und zitierte den 72jährigen mit den Worten: "Die Interessen des Volkes stehen für mich über allem". Der Arzt hatte Anfang April das wahre Ausmaß der Lungenkrankheit SARS enthüllt. Es scheint sowohl in der obersten Führungsspitze als auch in den Verlagen Leute zu geben, die ein Interesse daran haben, dass sein Name in aller Munde bleibt – als der Mann, der das Schweigen brach, sagt der Shanghaier Verleger Chen Baoping.
Durch SARS haben wir erfahren, welche Bedeutung einer offenen und um Wahrheit bemühten Berichterstattung zukommt und wie wichtig Transparenz für die gesamte Gesellschaft ist. Ich denke, dass die Regierung in Zukunft nicht noch einmal versuchen wird, eine Krise zu vertuschen, vorausgesetzt, dass sie verantwortungsvoll handelt. Es ist wohl allen Beteiligten klar geworden, dass SARS sich nicht so schnell ausgebreitet hätte, wenn früher darüber berichten worden wäre.
Der Shanghaier Historiker Xiao Gongqin bezeichnet die vorübergehende Öffnung der Medien als lediglich "vertrauensbildende Maßnahme". Es gehe allein darum, den Eindruck zu erwecken, dass die Regierung aus ihren Fehlern lerne, damit keiner nach der politischen Verantwortung fragt.
Es wird einige Zeit dauern, bis das Vertrauen wieder hergestellt ist. Denn einige Minister haben so offensichtlich gelogen, dass die Regierung viel Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Aber vieles wird davon abhängen, wie die Regierung in Zukunft vorgeht.
Von einer politische Öffnung aber kann keine Rede sein. So währte die Selbstkritik der Führung auch nicht lange. Über den Arzt Jiang darf inzwischen nicht mehr berichtet werden. Und auch bei anderen Themen bekamen die Verlage den Druck der Zensur inzwischen wieder zu spüren. Dass SARS zu einem Katalysator für politische Reformen in China werden könne, wird immer unwahrscheinlicher. Die Erinnerung an rund 5.300 SARS-Fälle und knapp 350 Todesopfer verblasst bereits. Die offizielle Propaganda preist SARS als Prüfung, die China erfolgreich bestanden habe. Premierminister Wen Jiabao appellierte in seiner Rede am 1. Juli an die einigende Kraft von SARS.
Was unsere Nation verloren hat, wird sie durch verstärkte Anstrengungen wettmachen. Wir haben schwierige Zeiten hinter uns, aber die SARS-Epidemie hat den Mut unseres Volkes nur gestärkt. Wir haben den Sieg über SARS errungen und sind als geeinte Nation aus der Krise hervorgegangen.
Das klingt nicht gerade so, als ob China bei der nächsten Epidemie anders reagieren wird.