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Heilung alter Wunden

Die Roten Khmer herrschten vier Jahre in Kambodscha und verbreiteten Schrecken und Grausamkeit. Die Gesellschaft ist auch mehr als 30 Jahre danach noch traumatisiert. In einem Prozess werden vier Repräsentanten angeklagt. Die Verhandlung will vor allem den Opfern eine Plattform geben.

Von Juliane Kowollik | 25.06.2011
    Youk Chhang erinnert sich noch ganz genau an den 17. April 1975. An diesem Tag marschierten die Roten Khmer in seine Heimatstadt Phnom Penh ein und zwangen alle Bewohner, die Stadt zu verlassen. Er selbst war damals 14 Jahre alt. Wochenlang war er dann allein unterwegs, er irrte durchs Land, auf der Suche nach dem Heimatdorf seiner Mutter. Dort angekommen setzte sich der Albtraum fort. Er wurde von seiner Familie getrennt, in ein Jugendcamp gesteckt und abkommandiert, Kanäle zu graben. Jeden Tag auf’s Neue. Bis heute kann er die Glocke zum Arbeitsappell hören. Er weiß noch, wie er hungerte und beim Gedanken an eine Schale Reis nicht einschlafen konnte; wie er fast zu Tode geprügelt wurde, weil er seiner schwangeren Schwester etwas zu Essen geklaut hatte. Heute, mehr als drei Jahrzehnte später, will Youk Chhang keine Rache mehr nehmen, doch er will Gerechtigkeit. Und: Es gibt einen ganz persönlichen Grund, warum er sich bis heute mit den Schreckensgeschichten von damals auseinandersetzt.

    "Ich möchte meine Mutter glücklich machen. Sie hat sehr gelitten. Sie hat einige ihrer Kinder, all ihre Geschwister, ihre Eltern und ihren Mann verloren. Meiner Schwester wurde zum Beispiel der Bauch aufgeschlitzt, weil sie was zu Essen gestohlen haben soll. Meine Mutter musste miterleben, wie ihr Enkel verhungerte. Sie hat nie geweint und das hat mich wütend gemacht."

    Deshalb wurde Youk Chhang zum Sammler. Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den schrecklichsten Abschnitt der Geschichte seines Landes zu dokumentieren. Youk Chhang ist der Leiter des Kambodschanischen Dokumentationszentrums und hat in den letzten 16 Jahren etwa eine Million Dokumente, Zeugenaussagen, Vernehmungsprotokolle, Briefe, Filme und Fotos gesammelt. In seinem Büro häufen sich die Papierberge. Die Hälfte der gesammelten Dokumente hat er dem Gericht überstellt, einige werden in den Prozessen als Beweise angeführt.

    "Unter diesen 500.000 Dokumenten gibt es genügend Beweise, um die Angeklagten ins Gefängnis zu bringen. Unser Hauptziel ist es, die historischen Informationen der Roten-Khmer-Zeit zu sammeln, für die Prozesse, um den Opfern und Überlebenden Gerechtigkeit zu geben, aber auch um die jungen Leute zu informieren, nicht nur in Kambodscha, sondern weltweit."

    Die ECCC - die außerordentlichen Kammern an den Gerichten von Kambodscha, das Rote-Khmer-Tribunal also, wurde 2007 mithilfe der Vereinten Nationen initiiert - 28 Jahre nach Ende der Herrschaft der Roten Khmer. Ein langer Zeitraum, der ungenutzt verstrichen war. Doch dafür gibt es Gründe: Bis Ende der 90er-Jahre herrschte in Kambodscha Bürgerkrieg. Danach brauchte es lange Jahre, um eine konkrete Rechtsform auszuhandeln und um Gelder zu sammeln. Die 170 Millionen US Dollar, die das Gericht bis Ende 2011 kosten wird, kommen zum größten Teil aus Japan, aber auch aus Deutschland und anderen Ländern der Europäischen Union. Gerichtssprecher Lars Olson über den Auftrag, der dem Tribunal gestellt wurde:

    "Als die Vereinten Nationen und die Regierung von Kambodscha dieses Gericht erschaffen haben, haben sie sich auf ein sehr spezielles und limitiertes Mandat geeinigt. Es werden in diesem Gericht nur Menschen angeklagt, von denen angenommen wird, dass sie damals Führungsmitglieder der Roten Khmer waren und am meisten verantwortlich für die Verbrechen zwischen 1975 und 1979 waren."

    Angesichts eines solch eingeschränkten Mandats blieb die Enttäuschung vieler Menschen in Kambodscha nicht aus. Alle, die auf eine breite, vielleicht sogar umfassende Aufarbeitung der Vergangenheit gehofft hatten, fühlten sich betrogen. Denn Tausende andere Täter dürften nie für ihre Taten verantwortlich gemacht werden und leben auch weiterhin unbehelligt auf freiem Fuß. Sie bekleiden heute Ämter, sind Politiker und Lehrer. Und die kambodschanische Regierung ging den Rufen nach Bestrafung und Gerechtigkeit nicht nach, setzte vielmehr auf Amnestie und Reintegration der Täter.

    Die Opposition wirft der Regierung Eigeninteresse vor, denn auch der heutige Premierminister Hun Sen war Kommandeur der Roten Khmer, bis er dann infolge interner Auseinandersetzungen nach Vietnam floh. Als heutiger Premierminister sprach er sich dafür aus, keine weiteren Mitglieder der Roten Khmer vor Gericht zu stellen oder weitere Verdächtige zu verhaften. Er seinerseits führt an, dass das Land nicht weiter destabilisiert werden dürfte. Das Rote-Khmer-Tribunal kann daher nur Symbolhandlungen vollziehen und den Opfern eine Plattform geben, ihr Unrecht, das ihnen angetan wurde, vor der Welt laut auszusprechen. Youk Chhang, Leiter des Kambodschanischen Dokumentationszentrums:

    "Das Wichtigste ist, dass die Opfer teilnehmen und ihre Vorwürfe vortragen können, um ihre Menschlichkeit und Ehre wieder herzustellen. Die Roten Khmer haben weniger als vier Jahre gebraucht, um das Leben von zwei Millionen Menschen zu zerstören. Kambodscha hat über 30 Jahre gebraucht, eine Gesellschaft wieder aufzubauen."

    Während der 72 Verhandlungstage im ersten Prozess waren die Zuschauerplätze fast immer vollständig gefüllt - Tausende Menschen verfolgten die komplizierte Beweisführung, darunter viele Opfer, aber auch lokale und internationale Medienvertreter und Schulklassen. Für Youk Chhang ein großer Triumph:

    "Was mich und meine Mutter glücklich macht, ist, dass jetzt eine Millionen Kinder in der Schule lernen, was damals passiert ist. Kein Gericht, noch nicht einmal Gott kann uns zurückgeben, was wir verloren haben. Aber wenn ich diese Kinder sehe, dann ist das etwas mit dem wir leben können und es ist eine Ehre für viele Überlebende in diesem Land."

    Youk Chhang hat lange und akribisch gesammelt. Heute zahlt sich diese Mühe aus. Zwei Prozesse laufen und die Weltöffentlichkeit schaut auf Kambodscha. 2007 wurde er vom amerikanischen "Time Magazine" zu den 100 einflussreichsten Personen der Welt gewählt. Er weiß: Gerechtigkeit lässt sich nach 30 Jahren nicht mehr herstellen, nur die Zeit kann helfen, die Vergangenheit zu überwinden. Und er weiß auch das: Vielen Buddhisten in Kambodscha hilft der Glaube daran, dass die Mörder in ihren nächsten Leben für ihre Grausamkeiten bestraft werden.