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Heimatliteratur ohne schlechtes Gewissen

Der Schriftsteller Jamal Tuschick sieht sich selber mehr als Beobachter denn als Erfinder von Geschichten. In seiner Heimatstadt Kassel schaut er mit "vorgetäuschter Volkstümlichkeit" dem Volk aufs Maul. Tuschik möchte die "Heimatliteratur" nicht den wirklich Volkstümelnden überlassen und hält die Revitalisierung dieses Begriffs für eine wichtige Aufgabe.

Jamal Tuschick im Gespräch mit Shirin Sojitrawalla | 30.01.2009
    Shirin Sojitrawalla: Jamal Tuschick klingt so wenig deutsch wie Shirin Sojitrawalla. Ich habe einen indischen Vater. Woran liegt es bei Ihnen?

    Jamal Tuschick: Ich habe einen libyschen Vater. Man leiblicher Vater war Libyer, er ist in der Zwischenzeit verstorben, aufgewachsen bin ich aber in einer deutschen Familie in Kassel. Meine Mutter hat in zweiter Ehe einen Deutschen geheiratet, da war ich zwei Jahre alt. Also, mir wird meine ethnische Differenz zur Mehrheitsgesellschaft nur sehr selten bewusst.

    Sojitrawalla: Sie spielt auch keine Rolle für Ihr Schreiben?

    Tuschick: Nein.

    Sojitrawalla: Ihr neues Buch trägt keine Gattungsbezeichnung auf dem Umschlag. Welchem Genre würden Sie es denn zurechnen?

    Tuschick: Also meine Texte schließen sich alle nicht. Das ist ein Merkmal, auf das ich irgendwann einmal gestoßen bin. Es ist am ehesten eine lange Erzählung. Aber in meiner Selbstwahrnehmung ist es ein Roman.

    Sojitrawalla: Warum das?

    Tuschick: Weil für mich alle Texte zusammengehören. Seit meinem allerersten Buch, das für mich "Teichmanns Aufzeichnungen" heißt und 2000 bei Suhrkamp unter dem Titel "Keine große Geschichte" erschienen ist. An dem Buch habe ich zwanzig Jahre geschrieben und das Personal nie aufgegeben. In meinem zweiten Buch "Kattenbeat" habe ich den Protagonisten Lebensläufe angedichtet, die bis ins Kasseler Mittelalter zurückgehen. Alles hängt so zusammen. Insofern ist es für mich ein Roman.

    Sojitrawalla: Das Motto Ihres neuen Buches stammt von Wilhelm Genazino. Ist das ein Autor, den sie sehr schätzen?

    Tuschick: Ja, also Genazino und Kurzeck sind sozusagen die, die mir vorangegangen sind in meiner Wahrnehmung. Und ich wollte das, was sie für Frankfurt getan haben eigentlich für Kassel tun. Das war mein erstes Ziel. Ich habe mein Autorenselbstverständnis von diesen Autoren - von Wilhelm Genazino und von Peter Kurzeck. Ich konnte mich nur leider in Kassel nicht halten. Sonst wäre ich überhaupt nicht nur bis Frankfurt gekommen.

    Sojitrawalla: Eine Gemeinsamkeit mit Genazino ist dieses durch die Stadt Flanieren und dieses manische Beobachten. Gibt es mehr Gemeinsamkeiten, die sie sehen?

    Tuschick: Nein, das ist schon das Wichtigste - das Beobachten. Ich würde das ja nicht Flanieren nennen. Flaneur ist eine Kategorie aus dem 19. Jahrhundert. Ich bringe das mit Dandyismus in Verbindung, ich bin da ja eher das Gegenteil: Ich pflege so eine vorgetäuschte Volkstümlichkeit und das ist ganz was anderes. Ich beobachte intensiv so wie eben auch Genazino genau hinguckt. Und darin erschöpft sich schon fast das gesamte Verfahren, denn vielmehr mache ich nicht. Ich schreibe ja einfach nur meine Beobachtungen auf.

    Sojitrawalla: Wie muss man sich denn den Chronisten und Beobachter Jamal Tuschick bei der Arbeit vorstellen? Sind Sie immer mit einem Notizbuch bewaffnet?

    Tuschick: Ja, ich schreibe immer mit, ich schreibe auf Bierdeckel, also auf alles, was so greifbar ist, zur Zeit auf so Kellnerblöcke. Man vergisst alles so schnell, dass man auch wirklich alles aufschreiben muss, das lehrt die Erfahrung.

    Sojitrawalla: In dem Buch kommt ja auch viel Lokalprominenz vor und Frankfurter Kneipen und Diskotheken dienen als Schauplatz. Wie dicht an der Wirklichkeit bewegt sich denn das Buch?

    Tuschick: Sehr dicht. Also ich kann mir eigentlich nichts ausdenken. Ich bin kein Fabulierer, kein Erfinder von Geschichten. Ich sehe mich schon in erster Linie als Chronisten.

    Sojitrawalla: Sie arbeiten ja auch als Journalist. Worin besteht denn der Hauptunterschied zwischen journalistischem Schreiben und der Fiktion?

    Tuschick: Für mich ist der Unterschied gering. Ich habe auch einmal gedacht, dass sich die neue deutsche Literatur im literarischen Journalismus erneuern könnte. Das war zu der Zeit als ich Marie-Luise Scherer entdeckt habe oder Gabriele Goettle. Das sind bessere Schriftstellerinnen als die meisten, die ihre Sprachempfindlichkeit ja doch nur literarischen Allgemeinplätzen ausliefern können, einfach deshalb, weil sie nichts erleben. Ich finde Journalismus ist nichts minderes. Ich bin mindestens so sehr Journalist wie ich Schriftsteller bin. Und ich bin auch froh darüber, dass man Themen vorgegeben bekommt, an denen man sich sprachlich abarbeiten kann.

    Sojitrawalla: Man kann Ihr Buch ja auch als Liebeserklärung an Kassel lesen. Können Sie sagen, was Sie so sehr mögen an dieser Stadt?

    Tuschick: Ich habe ja nicht die Wahl gehabt, keine Alternative. Ich kenne ja keine anderen Städte. Ich habe nie länger irgendwo anders gelebt außer in Kassel. Und ich muss aus einem starken inneren Antrieb heraus eine enge Beziehung zum Raum herstellen. Mein Denken ist absolut territorial. Ich denke räumlich. Ich habe immer dann das Gefühl, dass mir nichts passieren kann, wenn ich mich auskenne. Das ist für mich auch wichtiger als soziale Bindungen. Ich wäre überall, wo ich mich nicht auskenne, aber wirklich bis ins Letzte auskenne, nicht Beschied weiß, sofort unglücklich.

    Sojitrawalla: Darf man das als Heimatliteratur bezeichnen?

    Tuschick: Ja. Herbert Achternbusch hat einmal gesagt: "Diese Gegend hier hat mich kaputt gemacht, jetzt bleibe ich so lange hier, bis man der Gegend etwas davon anmerkt." Die Revitalisierung dieses Begriffs der Heimatliteratur ist eine Aufgabe. Dieser Begriff ist ja denunziert worden von den Nazis, und das war ja billig zu haben, sich davon abzugrenzen. Ich will das wieder und so wie es meines Erachtens auch es Franz Dobler macht.

    Sojitrawalla: Das Buch wimmelt ja vor Redensarten und auch Sprichwörtern. Was gefällt Ihnen an diesen Weisheiten?

    Tuschick: Die sind so schön blöd "Man muss das Dicke mit dem Dünnen nehmen". Ich kann mich so ausdrücken. Das ist Quatsch und so eine gewisse aufgesetzte Bräsigkeit.

    Sojitrawalla: Und diese Redensarten schnappen Sie dann auch irgendwo auf, in der Kneipe?

    Tuschick: Ja, "Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist", "Froh zu sein bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König"

    Sojitrawalla: Der Ich-Erzähler am Ende des Buches schreibt eine Geschichte mit dem Titel "Aufbrechende Paare." Und an der Stelle heißt es: "Die Effizienz der Wortwahl erbaut mich. Zwei Wörter drei Bedeutungen. Welches sind denn die drei Bedeutungen?

    Tuschick: Räumlich, gesellschaftlich und naja, auseinanderbrechend. Also man kann gesellschaftlich aufbrechen, räumlich aufbrechen, aus der Kneipe aufbrechen und die Beziehung kann in die Brüche gehen. Drei Konnotationen, zwei Wörter, besser geht's nicht.

    Sojitrawalla: Sie nehmen in Ihrem Buch unterschiedliche Perspektiven ein, schreiben mal in Wir-Form, mal in Er-Form oder auch als Ich-Erzähler. Manchmal haben sie eine Art Außensicht, erzählen aus der Vogelperspektive, dann wieder begeben Sie sich mitten hinein ins Geschehen. Was reizt Sie denn an diesem Perspektivwechsel?

    Tuschick: Ich weiß manchmal selbst nicht, wer spricht. Ich brauche deshalb die vielen Namen, weil ich in mir auch einige Stimmen habe.

    Sojitrawalla: Aber können Sie sagen, wovon das abhängt, welche Erzählhaltung Sie einnehmen?

    Tuschick: Ob ich ausgeschlafen bin oder nicht.

    Sojitrawalla: So einfach ist das?

    Tuschick: Ja, also ich wache auf mit einem bestimmten Gefühl für den Tag. Und da ich mich normalerweise sofort an den Schreibtisch setzte, sprechen da schon unterschiedliche. Ich bin nicht immer mit mir selbst so identisch, dass ich sagen könnte, das ist Jamal Tuschick oder das ist Kurt oder das ist Koller oder das ist Teichmann. Ich habe noch mehr.

    Sojitrawalla: Könnte man sagen, wenn Sie richtig ausgeschlafen sind, erzählen Sie in Ich-Form?

    Tuschick: Also das Ich kann halt sehr gut beobachten. Aber man kann bestimmte Sachen nicht so über sich sagen. Das weiß ja jeder. Und dann empfiehlt es sich in der dritten Person Einzahl zu schreiben.

    Sojitrawalla: In dem Buch heißt es an einer Stelle: "Beim Schreiben erreiche ich Zustände der Selbstvergessenheit, wie sonst nur im Schlaf." Geht Ihnen das ähnlich?

    Tuschick: Ja. Das ist ja von mir.

    Sojitrawalla: Sie sind ja mit Rainer Weiss von Suhrkamp zu Weissbooks gewechselt. Fühlen Sie sich da besser aufgehoben oder was war der Grund?

    Tuschick: Also Rainer Weiss hat mich zu Suhrkamp geholt. Er ist dort aber nicht mein Lektor gewesen, weil mir die Luft da in der vierten Etage, also in dieser Führungsriege, zu der er damals schon gehörte, einfach zu dünn war. Ich hatte gar nicht das Gefühl, Suhrkamp verlassen zu haben, das war für mich immer noch der Geschäftsführer Rainer Weiss, mit dem ich dann ins Gespräch gekommen bin. Dass ich da plötzlich nicht mehr war, das ist mir dann auch irgendwann aufgefallen. Aber das ging überhaupt nicht darum, das ich da wegwollte und irgendwo anders hin. Unser Wort ist: Wir sind Siegfrieds Erben. Unseld war für mich die großartigste Gründerfigur der Bundesrepublik, weil das mich betrifft, die Literatur, das berührt meine Interessen. Von Suhrkamp geht man nicht einfach so weg.

    Sojitrawalla: Ist es eigentlich ein Unterschied, ob die Bücher als gebundene Bücher erscheinen. Beim Suhrkamp Verlag sind Sie in der Edition Suhrkamp erschienen. Oder ist das einem als Autor ziemlich wurscht?

    Tuschick: Das ist einem nicht egal. Das ist mein erstes Hardcover. Das ist schon sehr aussagekräftig. Das ist schon wichtig. Ich glaube auch für die Außenwahrnehmung. Mit einem Hardcover sagt mein Verlag, dass er auf den Autor baut. Das ist ein einfach der Subtext.

    Jamal Tuschick: Aufbrechende Paare. Weissbooks, 175 Seiten, 17,80 Euro.