Sonntag, 12. Mai 2024

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Heimatlos, mittellos und hoffnungslos

Im Tschad. In einem Flüchtlingslager. Morgens um sieben. Fatuma Joubar steht im Gedränge zwischen Tausenden Menschen, die darauf warten, ihre monatliche Nahrungsmittelration zu bekommen.

Von Meike Scholz | 15.07.2004
    Es ist nicht gut, wenn man auf das Essen anderer Leute angewiesen ist, aber was soll ich tun?

    Fatuma Joubar wartet, bis auch sie aufgerufen wird. Bei jetzt schon 40 Grad im Schatten. Ein paar Stunden wird es wohl noch dauern.

    Nichts ist besser als die Heimat, aber in meiner Heimat bin ich nicht sicher. Und ich gehe nirgendwo mehr hin, wo ich nicht sicher bin.
    Fatuma Joubar kommt aus Norddarfur. Aus der Nähe von Karnoi. Seit mehr als einem Jahr herrscht dort Krieg. Zwei Rebellengruppen kämpfen gegen das Regime in Khartum: Für mehr Gleichberechtigung. Und mehr Entwicklung. Das sind ihre erklärten Ziele. Die sudanesische Regierung ging auf die Forderungen jedoch nicht ein. Statt dessen begann sie, die Janjaweed, die arabisch-stämmigen Reitermilizen, zu bewaffnen, und zog mit ihnen in den Kampf.

    Die sudanesische Regierung hat uns verraten. Sie haben uns angegriffen. Und dabei haben sie meinen Mann getötet. Deshalb bin ich geflohen. Nachts bin ich gelaufen. Am Tag habe ich mich versteckt.

    Fatuma Joubar zeigt um sich: Alle hier haben die gleiche Geschichte, sagt sie. Der Mann neben ihr zum Beispiel, Abakar Atum, auch er ist geflohen.

    Sie haben dauernd Bomben auf uns abgeworfen, erklärt er. Seit über einem Jahr. Aber Angst habe er nicht gehabt – bis Anfang Dezember – da kamen die Antonows nicht mehr alleine.

    Sie kamen mit den Antonows, mit Hubschraubern und Kampfflugzeugen. Sie haben Bomben auf unser Dorf abgeworfen. Dann kamen die Janjaweed und haben unsere Häuser niedergebrannt. Und die Soldaten haben mit Maschinengewehren auf uns geschossen.

    Abakar Atum erzählt, was die sudanesische Regierung nicht hören will: Dass sie Krieg gegen die schwarze Bevölkerung in Darfur führt, weil sie glaubt, dass sie die Rebellen unterstützt.

    Sie greifen uns an, weil wir schwarz sind. Wir sind Sudanesen, aber unsere Regierung will uns nicht haben.

    Im Flüchtlingslager gehen einige Frauen zu den Helfern, die die Nahrungsmittel ausgeben, und halten ihre Tüte auf.
    Beignam Miave, Mitarbeiter einer tschadischen Hilfsorganisation, steht daneben und schaut zu.

    Wir verteilen Bohnen, Mehl, Öl und Salz. Heute gibt es auch Reis: 420 Gramm pro Person und Tag.

    Abakar Atum hat es jetzt auch geschafft. Er bekommt seine Ration für den nächsten Monat: 2200 Kilokalorien pro Tag.
    Es gehe ihm jetzt viel besser, sagt Abakar Atum. Aber dann wird er nachdenklich.

    Wenn ich mich hier umschaue, dann sehe ich die vielen Kinder und einige alte Menschen. Sie sind es, die in der nächsten Zeit sterben werden. Sie sind unterernährt. Es ist nicht gut, wenn man jeden Tag dasselbe isst.

    Einige Frauen stehen daneben und beklagen sich.
    Unsere Kinder haben Hunger, sagt eine von ihnen. Aber es gibt keine Milch.
    Währenddessen bespricht Robert Gillingwater vom Welternährungsprogramm mit einigen Helfern die Lage. Gedanken um Milch kann er sich nicht machen. Er hat andere Probleme.

    Hier müssen wir noch ein Zelt aufbauen. Wir haben jetzt 300 Tonnen in diesem Lager. Wir brauchen noch 800 Tonnen. Wenn die Regenzeit beginnt, dann müssen wir darüber nachdenken, ob wir die Lebensmittel aus der Luft abwerfen können.
    Robert Gillingwater steht in einem Lagerzelt und schaut zu, wie einige Helfer die 100-Kilo-Säcke auf die Lastwagen wuchten, um sie dann in eines der Flüchtlingslager zu bringen.

    Ich glaube, das hier könnte für mich der schwierigste Einsatz werden. Ich habe in Flüchtlingslagern im ehemaligen Zaire gearbeitet und in Ruanda, in Burundi und Tansania, ich war in Liberia, der Elfenbeinküste, in Kambodscha und Dschibuti, aber das hier wird angesichts der logistischen Probleme die größte Herausforderung für mich werden.

    Im Krankenzelt. Gerade sind neue Flüchtlinge angekommen. Jane Opio verpasst den Kindern eine Spritze: Es ist die inzwischen obligatorisch gewordene Masernimpfung, erklärt die Krankenschwester.

    Masern sind tödlich. Kinder überleben das nur sehr selten hier. Die Impfung ist also Pflicht.
    Deshalb kennt Jane Opio keine Gnade, wenn sie die Kinder impft. Und sie weiß: Masern sind nur das kleinste Problem. Dann holt sie ein dickes Buch hervor und bespricht sich mit dem zuständigen Arzt.

    Name, Alter und das Gewicht: Die Daten der unterernährten Kinder hat sie in ihr Buch eingetragen. Dann zählt sie zusammen.

    Es sieht so aus, als ob es mehr werden, sagt sie und ergänzt:

    Die meisten Kinder, die wir aus Tine, also von der Grenze bekommen, sind in keinem guten Zustand.
    Jane Opio füttert sie mit CSB Premix, einer Mischung aus Soya und Mais, angereichert mit ein wenig Protein und noch etwas Fett – in der Hoffnung, dass das hilft.
    Ich fühle mich dabei ziemlich elend. Aber ich will es nicht zeigen. Wenn ich anfangen würde zu heulen, wie würden sich die Flüchtlinge denn dann fühlen? Also versuche ich, fröhlich zu sein und ihnen ein Lächeln zu schenken, damit sie sich etwas mehr wie zu Hause fühlen.

    In Tine. Einer kleinen Grenzstadt zwischen dem Sudan und den Tschad. Mehrere hundert Flüchtlinge warten hier auf einen Konvoi des UN Flüchtlingshilfswerks, der sie in eines der acht Flüchtlingslager bringen soll.
    Helene Caux vom UNHCR schaut sich das Treiben an. Wie die Flüchtlinge Schlange stehen, um sich registrieren zu lassen. Wie sie glücklich Richtung Bus laufen oder sich enttäuscht wieder an die Seite stellen, weil sie keinen Platz mehr bekommen haben.

    Wir wollen die Flüchtlinge von der Grenze weg in die Flüchtlingslager bringen. Das ist unser Hauptziel im Moment. Wir können sie nicht hier lassen, weil das zu gefährlich ist.

    Genau deshalb will Fatma Jerro auch weg von der Grenze. Denn hier hat sie dasselbe erlebt wie in Darfur: Den Krieg.

    Als ich an der Grenze war, da kam eine Antonow. Sie hat Bomben abgeworfen. Dabei sind drei Männer und zwei Frauen gestorben. Andere wurden verletzt.

    Bevor Fatma Jerro in den Bus steigen kann, kontrollieren zwei tschadische Soldaten ihr Gepäck. Sie suchen nach Waffen, weil sie Angst haben, Rebellen könnten sich unter die Flüchtlinge mischen. Vor allem aber wollen sie Präsenz zeigen. Denn hier im Osten des Tschad bedeutet die Grenze nicht viel. Auch die Janjaweed kommen regelmäßig auf tschadisches Gebiet, um Vieh zu stehlen und die Flüchtlinge weiter zu verfolgen.
    Wenn der Metalldetektor an diesem Tag anschlägt, dann finden die tschadischen Soldaten nur Kochtöpfe. Töpfe und ein paar Tücher, das ist alles was Fatma Jerro retten konnte. Trotzdem strahlt sie über das ganze Gesicht, als sie in den Bus steigt.

    Ich bin sehr glücklich, sagt Fatma Jerro und lacht. Dann lehnt sie sich aus dem Fenster und hebt zaghaft die Hand. Zum letzten Gruß an diejenigen, die an der Grenze bleiben müssen. Müde, dünn und traumatisiert ist sie. Trotzdem huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Helene Caux hat das schon oft gesehen.

    Ich glaube, sie haben einen starken Überlebenswillen. Und ich denke, sie sind einfach dankbar dafür, dass sie noch am Leben sind. In einem Flüchtlingslager zu sein ist zwar nur eine Übergangslösung, aber da sind sie wenigstens sicher.
    Mühsam quälen sich die zwei Busse und Lastwagen des UNHCR durch den Sand. Mindestens fünf Stunden brauchen sie – für 50 Kilometer – so weit ist das nächste Flüchtlingslager von der Grenze entfernt.

    Helene Caux sitzt auf der Ladefläche eines Lastwagens und schaut zurück. Zuerst flaches Land, dann eine Bergkette am Horizont: Dort ist der Sudan, sagt sie und ergänzt:

    Das größte Problem für uns ist, dass die Flüchtlinge über eine 600 Kilometer lange Grenze verteilt sind, es ist also sehr schwer sie zu finden. Und es ist deshalb auch nicht einfach in Erfahrung zu bringen, wie viele da sind.
    Zwischen 30.000 und 60.000 könnten es sein, schätzen die Mitarbeiter vom UNHCR. Exakt wissen sie es aber nicht. Und genau das ist vielleicht ihr Problem, erklärt Helene Caux.

    Es ist unheimlich schwer, genug Aufmerksamkeit zu bekommen. Wir haben hier nicht die gleiche Krise wie in Ruanda oder im Kosovo, wo die Menschen in Massen über die Grenzen geflüchtet sind. Die hat man gesehen. Das hat geschockt. Hier haben wir kleine Gruppen von Flüchtlingen, die sehr verstreut sind. Es ist also sehr schwer, sich ein Bild vom Ausmaß der Krise zu machen.
    Was auf sie zu kommt, das wissen die Flüchtlinge auf dem Konvoi nicht. Sie wissen nur: Es wird besser. Auch wenn sich Helene Caux ganz andere Gedanken macht.
    Nein, eine Katastrophe ist es noch nicht, sagt die Mitarbeiterin vom UNHCR. Aber es könnte eine werden, wenn bald nicht mehr getan werde.

    Der Konvoi ist da. Die sudanesische Grenze ist schon lange nicht mehr zu sehen. Da schlagen einige Helfer die Ladeklappe auf und lassen die Flüchtlinge aussteigen.

    Jörn Marder von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen kennt das Prozedere. Viele Flüchtlinge hat er schon kommen sehen. Und viele werden wohl noch kommen. Obwohl die meisten Lager mit 12.000 bis 15.000 Menschen schon an ihrer Kapazitätsgrenze angelangt sind.

    Dadurch, dass wir eine so große Menschenmenge versammelt haben, ist es schwierig, die ausreichende Menschenmenge Wasser heranzuschaffen.

    In einigen Flüchtlingslagern läuft das Wasser wenigstens schon. Dank elektrischer Pumpen, anders sei es nicht zu machen, erklärt Tor Valla von einer norwegischen Hilfsorganisation. Immerhin muss 60 bis 70 Meter tief gebohrt werden.

    Diese Mission hier steht auf sehr wackeligen Füßen. Wir sind vollkommen von der Logistik abhängig. Wir bekommen unser Diesel aus der Hauptstadt des Tschad, aus Ndjamena. Das ist über 1000 Kilometer entfernt. Unsere LKWs brauchen ungefähr eine Woche für diese Strecke.

    Wenn die Regenzeit auch im Norden des Tschad beginnt, dann bedeutet das: Die Straßen sind unbefahrbar, es gibt weder Nahrungsmittel noch Diesel und damit auch nicht unbedingt Wasser. Und Jörn Marder von Ärzte ohne Grenzen macht sich noch über ganz andere Probleme Sorgen.

    Wir bereiten uns momentan auf eine Cholera Epidemie vor. Wir haben bereits Order losgeschickt für die Cholera Kits, was es eben braucht, um diese Krankheit bekämpfen zu können.

    Die Seuchengefahr ist groß. Denn immer noch gibt es in den meisten Lagern nicht genug sanitäre Anlagen. Bei mehreren Tausend Menschen, die dicht gedrängt an einem Ort leben, bedeutet das Lebensgefahr.

    Was mich ärgert an der ganzen Geschichte ist, dass die Problematik seit langem bekannt ist. Die Mittel hätten vor fünf, sechs Monaten zur Verfügung gestellt werden können. Jetzt werden in einer ungeheuren Kraftanstrengung die Leute in die Lager verpflanzt, die nicht fertig sind, die erst in letzter Minute geplant worden sind, weil es davor keine Mittel gegeben hat.
    Während die Frauen, sie machen immerhin 80 Prozent der Flüchtlinge aus, erst auf ihr Essen und dann auf das Wasser warten, rechnet Helene Caux vom UNHCR Gelder im Kopf zusammen. Schätzungsweise 200.000 Flüchtlinge müssen im Tschad versorgt werden. Dafür hat das UN-Flüchtlingshilfswerk knapp 56 Millionen US-Dollar angefordert. Gerade mal ein Drittel des Geldes ist bislang aber beim UNHCR angekommen.

    Natürlich hängt alles auch von der Situation in Darfur selbst ab. Dort gibt es in den Lagern mehr als eine Million Vertriebene. Ob sie nach Hause gehen, oder auch über die Grenze kommen? Wir wissen es nicht. Wir brauchen also mehr Geld, um die Flüchtlinge hier zu versorgen und wir brauchen mehr Geld, um uns gleichzeitig auf eine mögliche neue Flüchtlingswelle vorzubereiten.
    Während die Helfer im Tschad versuchen, zurechtzukommen, sind die Helfer in Darfur inzwischen wohl an ihrer Leistungsgrenze angelangt. Die Menschen dort können nicht mehr ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt werden und die Seuchengefahr sowie die Rate der unterernährten Kinder steigt täglich. Und das weil erstens auch dort das Geld fehlt, und zweitens die sudanesische Regierung trotz gegenteiliger Versprechen nach wie vor die Arbeit der humanitären Hilfsorganisationen be- bzw. verhindert. Dan Toole, der Leiter der UNICEF Nothilfe Programme, schlägt deshalb Alarm.

    Die Weltöffentlichkeit ist nach wie vor auf andere Sachen konzentriert. Es geht immer noch viel Geld in den Irak. Außerdem erwarten viele einen Friedensvertrag zwischen dem Südsudan und dem Norden. Auch daran sind viele Gelder gebunden.

    Diesen Friedensvertrag gibt es aber noch nicht. Es gibt verschiedene Abkommen und immer noch Hoffnung, viele glauben aber inzwischen: Eine endgültige Einigung wird noch auf sich warten lassen - vielleicht sogar für immer.

    Die Darfur-Krise könnte einen Frieden zwischen dem Norden und dem Süden verhindern. Es kann doch keinen wirklich Frieden im Sudan geben, solange sich in Darfur eine humanitäre Katastrophe abspielt.

    Im Flüchtlingslager. Bei der Nahrungsmittelverteilung. Fatuma Joubar hat ihre Bohnen und den Reis inzwischen bekommen. Nun macht sie sich auf den Heimweg – zu ihrer provisorischen Unterkunft aus Gestrüpp.
    Ich gehe nicht nach Darfur zurück, sagt Fatuma Joubar. Solange Präsident Al Bashir an der Regierung ist, gehe ich nicht zurück. Und wenn es noch 10 Jahre dauert. Und Abakar Atum ergänzt:

    Wenn es sicher ist, dann gehe ich zurück. Wenn alle Organisationen dieser Welt nach Darfur kommen, wenn die sudanesische Regierung zurücktritt, wenn sie die Janjaweed und die Soldaten abziehen, wenn wieder Gerechtigkeit und die Menschenrechte durchgesetzt werden, dann werden wir alle glücklich sein und zurück gehen.

    Während Abakar Atum und Fatuma Joubar zu ihrer Hütte gehen und sich Frieden wünschen, wissen sie genau: Der internationale Druck auf die sudanesische Regierung reicht bislang nicht aus. Die Androhung von Sanktionen durch den Weltsicherheitsrat kommt zu spät. Abakar Atum jedenfalls hat wenig Hoffnung auf eine baldige Rückkehr. Statt dessen zeigt er auf eine kleine Hütte aus Gestrüpp.

    Das ist mein Haus, sagt er. Dort lebt er nun - auf zwei mal zwei Metern - mit seiner Frau und den sechs Kindern. Und trotzdem dankt er seinem Gott: Er hat überlebt - bis jetzt jedenfalls.