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Heimkinder in Rumänien (4/5)
Von der Straße in die Geborgenheit

Die Kinder vom Bukarester Bahnhof hatten Glück: Eine junge Krankenschwester kam aus Deutschland, mit Spenden in der Tasche und dem festen Willen, anzupacken. Anfang der 90er-Jahre war das. So keimte, mitten im Elend, die Hoffnung auf ein besseres Leben.

Von Leila Knüppel und Manfred Götzke |
    Ein altes Schwarz-Weiß-Foto zeigt Kinderheimleiterin Sibylle Hüttemann mit Straßenkindern am Bukarester Nordbahnhof.
    Ein altes Schwarz-Weiß-Foto zeigt Kinderheimleiterin Sibylle Hüttemann mit Straßenkindern am Bukarester Nordbahnhof. (Manfred Götzke / Leila Knüppel)
    Hund Blacky muss noch aus dem Raum. Robert, der autistische Junge, der sich immer unter dem Tisch versteckt, darf natürlich bleiben. Und dann muss Sybille Hüttemann-Boca noch ganz schnell Anweisungen geben, wegen der Krankheit, die gerade hier im Kinderheim umgeht.
    "Das ist so eine Infektionskrankheit."
    Endlich wird es etwas ruhiger im Hausaufgaben- und Betreuerzimmer. Hüttemann stellt Ordner voll Fotos auf den großen Tisch. Bilder von "ihren" Kindern.
    "Das ist Bukarest. Nordbahnhof."
    Auf den älteren Schwarz-Weiß-Fotos sind Straßenkinder zu sehen.
    "Bobok, das ist unser Butterblümchen. Das war einer der Kleineren vom Bahnhof."
    Ein Junge, sieben Jahre, mit Mickey-Mouse-Shirt.
    Gestrandet am Bahnhof von Bukarest
    "Ein ganz schlimmes Schicksal. Da hat der Vater die Mutter mit dem Schürhaken erschlagen, und die Kinder waren dabei. Natürlich ist der Vater verhaftet worden und alle drei Kinder sind in Kinderheim gekommen. Und er war der, der so ein richtiger Kämpfer war, und ist ausgebüxt, so klein, wie er war. Und ist am Bahnhof gelandet. Naja, und als ich ihn kennengelernt habe, war er so ein kleiner Pimpf, immer so eine Zigarettenkippe im Mundwinkel gehabt, ganz cool und lässig. Und der hat Gepäckschließfächer an andere Kinder vermietet, für eine Zigarette, irgendwelche Süßigkeiten, und dann konnten die da nachts pennen."
    Neben Bobok auf dem Foto sitzt Sybille Hüttemann, damals noch sehr viel jünger – von den Straßenkindern kaum zu unterscheiden.
    "Das war Ende 1990, 91."
    Kurz nach dem politischen Umbruch. Die junge Krankenschwester hatte von den schrecklichen Zuständen in den Kinderheimen erfahren und war mit Spenden in der Tasche nach Rumänien gereist. Ein Bekannter erzählte ihr von den Kindern am Bukarester Bahnhof – fragte, ob sie nicht helfen könne.
    "Und dann sind wir zum Nordbahnhof gefahren. Auf dem Vorplatz stand dann eine große Gruppe von Kindern, und haben da ihre Späße gemacht, haben rumgejuxt, rumgeflachst. Das war für mich so ein Art Klickmoment, da ist so ein Schalter umgesprungen, wo ich gesagt habe, hier werde ich mit Sicherheit bleiben und hier werde ich auch etwas mit, für die Kinder machen."
    Im "Stern der Hoffnung"
    "Komm, wir gehen in den Essraum"
    Zeit für das Mittagessen. Gite, der Älteste, verteilt das Besteck. Robert – der autistische Junge – hat sich hinter den Ofen gesetzt, bekommt dort sein Essen, in einer Plastikschüssel. Er habe Angst vor Porzellan, erklärt die 17-jährige Christiana. Niemand wundert es hier, wenn jemand ein wenig anders ist. Während des Essens erzählt Hüttemann weiter – von Bukarest, damals.
    "Wir haben dann angefangen, die Kinder zu betreuen. Dann habe ich mich an die Caritas in Bukarest gewandt. Und ich hatte wirklich großes Glück, denn der Caritas-Direktor hat gesagt, sie hätten ein Gebäude, das könnten sie zur Verfügung stellen. Hab ich gesagt, o.k."
    In dem Haus organisierte Hüttemann eine Art "Notversorgung", mit Spenden aus Deutschland: Straßenkinder konnten einige Tage übernachten, duschen, essen. Etwa 65 Kinder fanden so - im Schichtsystem - Unterschlupf.
    "Es waren viele Kinder, die aus staatlichen Kinderheimen abgehauen sind und nach Bukarest gegangen sind. Ein Teil der Kinder waren Reste der Generation der sogenannten ungewollten Kinder hier in Rumänien. In der Ceausescu-Zeit war es ja so: Die Frauen mussten ja praktisch Kinder bekommen, Verhütungsmittel waren halt verboten."
    Kinderheimleiterin Sibylle Hüttemann (links) mit einigen "ihrer" Kinder; Alba Iulia, Rumänien.
    Kinderheimleiterin Sibylle Hüttemann (links) mit einigen "ihrer" Kinder; Alba Iulia, Rumänien. (Manfred Götzke / Leila Knüppel)
    Nach dem Mittag leert sich der Essraum. Nur die dreijährige Diana ist auf dem Sofa eingeschlafen. So friedlich war es damals, in Bukarest wohl selten. Jedenfalls hagelte es Beschwerden von den Nachbarn der "Notversorgungsstation". Die Caritas stellte Hüttemann strikte Bedingungen:
    "Wir müssten gucken, dass wir nur die kleineren Kinder behalten in dem Haus, keine Sinti und Roma und keine älteren Kinder, die schnüffeln und Drogen nehmen. Und dann bin ich schnell zu dem Schluss gekommen, dass ich das nicht akzeptiere. Ja, und so sind war dann eines Abends mit 65 Straßenkindern im Nordbahnhof in den Zug gestiegen und nach Alba Iulia gefahren. Mein damaliger Bekannter, jetziger Mann, der kommt aus Alba Iulia, und der konnte uns ein bisschen bei der ganzen Organisation hier helfen. Ja und dann sind wir eines Abends hier angekommen, mit 65 Straßenkindern, verlaust, Krätze, dreckig, speckig, gestunken. Tja."
    Skypen mit dem früheren Schützling
    "Jetzt sehe ich Dich, bleib ruhig sitzen!"
    Vasile Bobok ruft an. Hüttemanns "Butterblümchen" – der Straßenjunge von einst ist jetzt über 30. Obwohl er seit ein paar Jahren mit seiner Familie in London lebt, dort auf dem Bau arbeitet, skypen Hüttemann und er mehrmals in der Woche.
    "Soweit ich mich erinnere, war ich einer der Schlimmsten damals."
    Hüttemann: "Ja, sehr, sehr schlimm!"
    Bobok: "Sie hatte immer Angst, dass ich irgendwas kaputtmache."
    Zuerst hatten Sybille Hüttemann und ihr heutiger Mann, Ovidiu, ein Ferienhaus in den Bergen für die Kinder angemietet. Bis sie einen Wohnblock in Alba Iulia fanden. Schule, Wohnung, geregelter Tagesablauf. Für die Bukarester Straßenkinder eine große Umstellung.
    "Wir waren damals wild – und nicht alle haben es geschafft, sich zu ändern. Ich schon. Ich wollte bei Sibylle und ihrem Mann bleiben."
    Sybille: "Ich bin sehr stolz auf das, was Du erreicht hast!"
    Bobok: "Ich bin so froh, dass ich Euch habe. Ovidiu und Du, Ihr seid meine wahren Eltern, meine Vorbilder. Alles, was ich von Euch gelernt habe, möchte ich meinen Kindern weitergeben, damit sie einen besseren Weg im Leben einschlagen. Das wünsche ich mir von ganzem Herzen."