Donnerstag, 16. Mai 2024

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Heinrich Thies: "Wenn Hitler tot ist, tanzen wir". Das Leben der Hilde Heart.

Polen und Deutschland - die Atmosphäre zwischen beiden Ländern war schon einmal entspannter als in den vergangenen Wochen und Monaten. Nervosität bis hin zur Gereiztheit ist derzeit zu verspüren. Die Gründe: Sie hängen ausschließlich mit der jüngeren Vergangenheit zusammen - Stichwort: "Vertriebenenzentrum", Stichwort: "Preußische Treuhand" und die von dort betriebenen Restitutionsansprüche an Polen. Offenbar sind die Narben früherer, gegenseitiger Verletzungen nur oberflächlich verheilt gewesen, sind abrufbereit, sind immer noch Ängste und Ressentiments vorhanden. - "Wenn Hitler tot ist, tanzen wir - Das Leben der Hilde Heart", heißt ein Porträt, das jetzt im Verlag Hoffmann und Campe herausgekommen ist. Heinrich Thies zeichnet das Leben einer jungen Deutschen nach, deren Leben ins Stolpern gerät, als sie während des Zweiten Weltkriegs einen polnischen Zwangsarbeiter kennenlernt. - Markus Krzoska ist unser Rezensent:

Von Markus Krzoska | 02.08.2004
    Zur Alltagsgeschichte des Dritten Reiches ist in den letzten Jahren eine Reihe von Veröffentlichungen erschienen. Dies beinhaltet auch Erinnerungen von Opfern des NS-Regimes jeglicher Couleur. Das vorliegende Buch weicht in Stil und Inhalt etwas vom meist vorherrschenden Muster ab. Sein Autor ist hauptberuflich Reporter bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und vor drei Jahren schon durch ein Buch über die Lebensgeschichte seiner Mutter mit dem Titel "Geh aus, mein Herz, und suche Freud..." hervorgetreten, das allgemein große Beachtung gefunden hat. Auch diesmal widmet er sich einem Thema aus seiner unmittelbaren Heimat, der Lüneburger Heide. In der Form einer literarischen Biographie erzählt Thies die Geschichte einer jungen Frau, die aus einem normalen Leben in die Mühlen der NS-Justiz geriet und daran bis in die Gegenwart zu tragen hat.

    Bei einer Geburtstagsfeier auf einem Bauernhof im Oktober 1941 wird die neunzehnjährige Landarbeiterin Else – der Autor nennt sie Hilde – von einem polnischen Zwangsarbeiter zum Tanz aufgefordert. Einerseits geschmeichelt, andererseits der Gefahren bewusst, weist sie ihn mit dem Satz ab, der dem Buch seinen Titel gegeben hat. Eine Teilnehmerin der Feier denunziert sie bei der Gestapo. Hilde wird unter dem Vorwurf, eine Liebesbeziehung zu einem Polen unterhalten zu haben, verhaftet und ins KZ gebracht, der Zwangsarbeiter Eugeniusz später öffentlich gehenkt. Für das überzeugte BDM-Mädel mit einer Vorliebe für schöne Uniformen beginnt im KZ Ravensbrück ein ganz anderes Leben:

    Hilde krampfte sich der Magen zusammen, als sie sah, wie die Frauen vor ihr kahlrasiert wurden. Sie kniff die Augen zu, als sie selbst an die Reihe kam, ballte die Hände zu kleinen Fäusten. Während ihre rotbraunen Locken zu Boden fielen, erinnerte sie sich daran, wie sie sich einst die Zöpfe hatte abschneiden lassen. Aufregend war das gewesen. Diese Prozedur dagegen machte sie nur traurig.

    Die Schilderung des Lageralltags, der Arbeit in der Weberei, des glücklichen Überlebens einer Typhusinfektion dank der Hilfe einer tschechischen Hilfsärztin ist eindringlich, wenn es auch nicht wesentlich von Schilderungen in anderen Publikationen abweicht. Das Buch endet aber nicht mit der Freilassung angesichts der näherrückenden Front. Das eigentlich Interessante ist der Umgang mit dem Erlebten sowie die Reaktionen ihrer nächsten Umgebung in der Folgezeit. Die Befreiung ihres Heimatdorfes in der Heide durch die Alliierten schafft nur kurzzeitige Entlastung.

    Die Verbitterung fraß sich wie ein Krebsgeschwür in ihre Seele. Als sie sich auch wieder tagsüber aus dem Haus traute, spürte sie, wie ihr Verachtung entgegenschlug. Die früheren BDM-Kameradinnen schienen ihr regelrecht aus dem Weg zu gehen, sie zu schneiden wie eine Verräterin. Niemand sprach sie offen auf das Lager an. Aber sie merkte, dass hinter ihrem Rücken getuschelt wurde. Die Kinder zeigten mit den Fingern auf sie.

    Das Nachkriegsdeutschland erweist sich nicht gerade als der angemessene Ort, um sich mit dem Erlittenen auseinanderzusetzen. Da kommen Hilde die Kontakte zu den britischen Besatzungssoldaten sehr gelegen. In einen von ihnen verliebt sie sich und beschließt, ihm in seine Heimat zu folgen. Es folgen zahlreiche Komplikationen bis zur Heirat, dem Leben in England und schließlich der Rückkehr nach Norddeutschland infolge der Malaria-Erkrankung ihres Mannes, der er bald darauf erliegt. Auch das weitere Leben von Hilde wird im Buch thematisiert: Ihre Vereinsamung, die in einem Selbstmordversuch mündet, und das neue Glück an der Seite eines jüngeren Mannes, der aber auch unerwartet stirbt.
    Obwohl sie sich sehr darum bemüht, gelingt es Hilde nicht, die Schatten der Vergangenheit loszuwerden. Deutlich wird dies, als eine der Mithäftlinge aus Ravensbrück unvermittelt an ihrem Arbeitsplatz in einem Supermarkt auftaucht und den Kontakt sucht. Hilde will eigentlich mit der ehemaligen Prostituierten nichts zu tun haben, obwohl diese ein durchaus ähnliches Schicksal zu erleiden hatte wie sie, und wimmelt sie ab. Aber immer wieder tauchen Träume auf, die auf verschlüsselte Art und Weise an die nicht bewältigte Vergangenheit erinnern.

    Erst als die nun Achtundsiebzigjährige von außen mit ihrer Biographie konfrontiert wird, beginnt sie langsam, aber immer konsequenter, sich mit ihrem Leben in der Vergangenheit zu beschäftigen. Der Weg erweist sich naturgemäß als nicht problemlos. Die Erwartungshaltungen ihrer Umgebungen sind durchaus unterschiedlich. Sie muss sich mit der in der Gesellschaft seit jeher weit verbreiteten Auffassung beschäftigen, dass man das Vergangene doch am besten ruhen lassen solle. Auch die Gesundheit macht immer mehr Probleme. Dennoch entscheidet sich Hilde schließlich für den schwierigeren Weg.

    Der Autor bietet am Ende keine Bilderbuchlösung an, das ist eine der Stärken des Buches. Er lässt die Widersprüche stehen, die sich aus Hildes Schilderungen ergeben, Da ist ihr festes Beharren darauf, es habe nie ein Liebesverhältnis mit dem Zwangsarbeiter gegeben. Es fehlt ihr jede Erinnerung daran, dass dieser offenbar zunächst gemeinsam mit ihr in das Verdener Untersuchungsgefängnis und dann ins Lüneburger Gefängnis transportiert worden war. Und auch als eine Nichte des ermordeten Eugeniusz in Polen ausfindig gemacht werden kann, diese dann das Grab ihres ermordeten Onkels in Hamburg besucht und auch jene Hilde kennenlernen will, stellt Thies diese Begegnung ganz nüchtern und unverklärt dar:

    Befremden spiegelte sich in den Augen der Besucherin aus Polen, als Else Hunt ihr entgegenhumpelte. Es war nicht wie erwartet die gebeugte Greisin in Schwarz, die ihr da die Hand entgegenstreckte, sondern eine kleine, alte Dame in jugendlicher Verpuppung – mit Bubikopf und Turnschuhen und der Leuchtkraft eines Kanarienvogels [...] Der Katholikin in der engen Seidenbluse fehlten die Worte. Eugens Nichte machte auf die fünfundzwanzig Jahre ältere Deutsche den Eindruck einer Zirkusprinzessin. Erst später entlud sich die Verblüffung der Polin in befreiendem Lachen.

    Während die Schilderung von Hildes Leben in all seinen Wendungen souverän gelingt, erscheint die Einbettung in die jeweiligen Zeitläufte, die Thies am Anfang mancher Kapitel versucht, mitunter etwas holzschnittartig. Zu deutlich wird, dass er die jeweiligen Jahrgänge der Lokalzeitungen ausgewertet hat, literarische Kraft haben diese Passagen sicherlich nicht, sie passen aber vielleicht zu dem bodenständigen Milieu, von dem erzählt wird, und das sich bis zum heutigen Tage wohl nicht wesentlich geändert hat.

    In gewissem Sinne war also Hilde eine "ganz normale Deutsche", die jäh aus der Bahn eines Durchschnittslebens geworfen worden ist und zumindest zeitweise in eine Existenz geriet, vor der sie zeitlebens die meiste Angst hatte: eine Außenseiterin zu sein und nicht dazuzugehören. Vielleicht kann die positive Resonanz auf ihren Mut, sich jetzt, nach vielen Jahren ihrer Biographie zu stellen, doch noch dazu führen, dass sie sich am Ende ihres Lebens von ihrer Umgebung angenommener fühlen kann.

    Markus Krzoska besprach: Heinrich Thies: "Wenn Hitler tot ist, tanzen wir - Das Leben der Hilde Heart", erschienen im Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg.
    256 Seiten zum Preis von 17 Euro 90