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Heinz Strunk: "Jürgen"
Von einem Desaster zum nächsten

Jürgen ist einer jener Männer aus der Provinz, die weder gut aussehen noch über besondere Qualitäten verfügen. Seine Lebensphilosophie speist sich aus Ratgebern zur Selbstoptimierung, ohne Erfolge zu bringen. Autor Heinz Strunk vermag es wie kaum ein anderer, den Kosmos eines Verlierers zu schildern.

Von Holger Heimann | 09.06.2017
    Buchcover Heinz Strunk - Jürgen
    Buchcover Heinz Strunk - Jürgen (Rowohlt Verlag / imago stock - Christian Grube)
    Heinz Strunks im Vorjahr erschienener Bestseller "Der goldene Handschuh" ist das ganze Gegenteil von komisch. Kein Wunder – im Zentrum steht schließlich der Hamburger Serienmörder Fritz Honka. Doch der Tatsachenroman in der Tradition von Truman Capote bleibt vorerst eine Ausnahme im Schaffen von Strunk. Mit "Jürgen" kehrt er zurück zu einem Schreiben, bei dem Komik und Traurigkeit dicht beieinander liegen. Für den Autor läuft damit alles nach Plan.
    "Ich habe das sogar angekündigt, aber es ist ungehört verhallt, dass ich gesagt habe: Nach dem Goldenen Handschuh, dass ich meine Veröffentlichungsfrequenz verdoppele und dann aber in einem Jahr einen literarischen Titel herausbringe, also Der Handschuh war ja ein literarischer Titel, und im anderen Jahr eine Art Interimstitel beziehungsweise etwas, was eher wieder unterhaltend, humoristisch sein kann oder auch mal ein Gedichtband. Und ich nehme mir das einfach mal raus, das so machen zu können, wie ich das möchte. Ich habe schon ordentlich auf den Deckel gekriegt, so von wegen Rückfall in alte Zeiten, dass Der Handschuh gewissermaßen nur ein Ausrutscher gewesen ist, aber das ist mir relativ egal."
    Bemitleidenswerte Gestalten mit sehr beschränkten Ansichten
    Heinz Strunk fängt in "Jürgen" einmal mehr die Erfahrungswelt eines zu kurz gekommenen Außenseiters ein und parodiert sie, indem er die – zuallererst sexuellen – Nöte seines Protagonisten auf die Spitze treibt. Jürgen Dose heißt diesmal die Hauptfigur – einer der Künstlernamen von Mathias Halfpape, wie der Autor Heinz Strunk eigentlich heißt. Jürgen ist ein armes Würstchen, sein Leben ziemlich trostlos. Der Mittvierziger teilt sich die kleine Wohnung in Hamburg mit seiner pflegebedürftigen Mutter.
    "Mutter hatte vor Jahren einen schweren Unfall und ist seither bettlägerig. Um ihr einen Pflegeheimaufenthalt zu ersparen, habe ich sie zunächst bei mir aufgenommen. Was als Zwischenlösung geplant war, ist mittlerweile allerdings Dauerzustand geworden. Tja." (Zitat)
    Wenn er nicht bei der alten Dame zu Hause ist, arbeitet er als Parkwächter "im größten Parkhaus Europas". Der einzige Freund, der ab und an vorbeischaut, ist noch ärmer dran. Bernd Würmer sitzt – gebeutelt von einer ganzen Reihe von Schicksalsschlägen – im Rollstuhl und ist ein dauernörgelnder Misanthrop. Die beiden sind bemitleidenswerte Gestalten mit sehr beschränkten Ansichten. Heinz Strunk taucht tief ein in diese Welt.
    Menschen, die keine Möglichkeit haben, "ihren Traum zu leben"
    "Als Donald Trump gewählt wurde, gab es ja dies: ‚Wer um Gottes willen ist denn eigentlich schuld daran?’ Und da wurde ja sehr schnell der White Trash ausgemacht, der männliche. In Deutschland nennt man das nicht ‚White Trash’. Ich finde den Begriff auch etwas unglücklich. Dann wurden die auch so genannt: die Vergessenen, die Abgehängten. Jürgen und Bernd gehören eigentlich auch dazu. In der Provinz überwiegend sind das solche Männer, die weder besonders gut aussehen noch haben sie Talente oder einen besonders guten Job, sie sind auch nicht charmant, haben wenig Geschmack und frickeln da so vor sich hin. Da gibt es diesen unendlich dummen Satz: 'Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum’, der sich an solche Leute wie Jürgen und Bernd richtet. Aber der Satz ist ja gar nicht zu verwirklichen, weil diese Leute, an die sich der richtet, haben weder die Möglichkeit noch die Gelegenheit, irgendwelche Träume zu leben. Das kann man gelegentlich bei Goodbye Deutschland besichtigen, was dabei rauskam."
    Viel zu erzählen haben sich die beiden Freunde nicht, einig sind sie sich nur in einem: Sie suchen händeringend nach einer Frau. Jürgen hat alle erdenklichen Flirtratgeber durchgeackert und gibt permanent sein angelesenes Wissen zum Besten. Über Körpersprache etwa hat er jede Menge gelernt: Wie oft die Frau blinzelt, wie weit ihr Mund geöffnet ist, wie sie die Beine übereinandergeschlagen hat – alles wird zum Indikator für Interesse oder Ablehnung. Heinz Strunk parodiert mit boshaftem Genuss das prosperierende Geschäft mit den Sehnsüchten der Menschen.
    Selbstoptimierungsprosa als Versatzstücke eingebaut
    "Es war eigentlich so, das Buch war fertig, hatte aber nur 190 Seiten. Da hat mein Lektor gesagt, das ist zu kurz, bitte auf jeden Fall über 200. 250 Seiten finde ich immer ganz gut. Und das habe ich aber eingesehen. Dann bin ich auf die Idee gekommen, diese Ratgeberebene einzubauen. Das hat echt Spaß gemacht, Spaß zu lesen und das so einzuflechten."
    "Jürgen" hat jetzt über 250 Seiten. Mit der kühlen literarischen Eleganz des Vorgängers, mit dem Goldenen Handschuh also, will das Buch gar nicht konkurrieren. Der aus der Ich-Perspektive erzählte Roman bleibt notwendigerweise ganz im beschränkten Denkhorizont und Sprachduktus seines Protagonisten. Jürgens Lebensphilosophie speist sich aus allerlei Kalendersprüchen und der angelesenen Selbstoptimierungsprosa. Die vom Autor nachträglich eingearbeiteten Versatzstücke aus diversen Ratgebern, die am Ende des Buches in einer Literaturliste angeführt werden, wirken dabei keineswegs wie bloß angehängt. Sie sind vielmehr konstitutiv für Jürgens Weltsicht.
    "Einige Formulierungen, die musste ich wörtlich so übernehmen, weil die einfach so – also: 'Immer weiter machen, immer bohren, immer sägen – bis die Kiste fliegt.' Das habe ich aus so einem Buch, das habe ich wörtlich übernommen. Das muss man auch so lassen. Das ist einfach so verrückt geradezu."
    Eine ereignislose Existenz, aber zugleich ganz bequem
    Wer wie Jürgen derart darauf fixiert ist, den Anleitungen der Ratgeber möglichst strikt zu folgen, gibt natürlich nicht wirklich ein gutes Bild ab. So überrascht es nicht, dass das erste Treffen mit Manuela gründlich schief geht. Dabei legt sich Jürgen richtig ins Zeug und versucht angestrengt, eine Unterhaltung in Gang zu bringen – mit Fragen wie: "Wenn du eine Pizza wärst, was wäre dein Belag?" Manuela interessiert sich jedoch ohnehin nur mäßig für ihr Gegenüber. Mit ausgeprägtem Interesse spricht sie nur dem Wein zu. Als sie sich verabschieden, ist ihnen klar, dass es zu einem zweiten Treffen nicht kommen wird. Und damit sind beide ganz zufrieden. Denn eigentlich hat sich jeder in seiner überschaubaren Welt eingerichtet. Beider Existenz ist zwar ereignislos und fade, aber zugleich auch ganz bequem und risikoarm. Je trister das Leben, umso bunter blühen die Träume.
    "Wenn die Menschen, die unter ähnlich tristen Bedingungen leben würden, ihr Unglück – von außen gesehen – alle so empfinden würden, dann wäre die Welt ja furchtbar dran. Insofern ist es geradezu unabdingbar, dass man sich das irgendwie ein bisschen hübscher macht. Objektiv und subjektiv unterscheiden sich ja doch gewaltig. Es gibt ja ganz viele einfache Leute, wo man denkt, so möchte ich nicht leben, aber die sind total zufrieden mit allem. Und andere wiederum, die man möglicherweise beneidet, sind kreuzunglücklich oder depressiv."
    Im Buch geht es jetzt erst richtig zur Sache. Dem missglückten Treffen mit Manuela folgt ein noch desaströseres Speed Dating und schließlich eine Reise nach Polen mit dem dubiosen Veranstalter 'Eurolove'. Jenseits der Grenze warten auf Jürgen, Bernd und ein paar andere armselige Gestalten angeblich umwerfende Traumfrauen. Und also sitzen bald alle im Kleintransporter und fahren los nach Breslau. Jeder in der Reisegruppe ist derart sexhungrig, dass etwaige Zweifel an den großspurigen Ankündigungen von 'Eurolove' gar nicht erst aufkommen. Der windige Reisebegleiter Herr Schindelmeister redet den Verzagten ein, dass sie nur an sich glauben müssen.
    Ein fein ausgeprägtes Sensorium für Verlierer
    "Habt keine Angst davor, hundert Prozent ihr selbst zu sein. Spielt die Hauptrolle in eurem eigenen Actionfilm. Denkt an euren USP. Das ist, englisch, eure Unique Selling Proposition, euer Alleinstellungsmerkmal. Der Punkt, an dem ihr einmalig und unersetzbar seid. Ihr habt nichts zu verlieren, ihr könnt nur gewinnen. Seid also mutig. 99 Prozent der Kerle haben die Hosen voll. Bist du der Mister ein Prozent, wirst du Abenteuer erleben, die sonst nur für Filmstars reserviert sind. Express yourself." (Zitat)
    Heinz Strunk lässt sein Alter Ego in diesem Roman von einem Desaster ins nächste stolpern. Die Episoden des Scheiterns ähneln sich. Manche mögen die überschaubare Story deshalb als vorhersehbar abstempeln, aber Wiederholung gehört nun einmal zu Jürgens Leben. Er ist ein gutmütiger Trottel, der aus seinem Korsett nicht herauskommt. Entmutigen lässt sich Jürgen keineswegs. Denn die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Seine forcierte Selbstaufmunterungssuada wird zur prägenden Tonspur des Romans. Jürgens Welt ist so klein wie durchschaubar. In der Literatur wird sie eher selten so ungefiltert zum Thema. Heinz Strunk hingegen führt weit hinein in ein Milieu der Verlierer, für das dieser Autor ein fein ausgeprägtes Sensorium hat wie kaum einer sonst kaum einer.
    Heinz Strunk: "Jürgen", Rowohlt Verlag, 256 Seiten, 19,95 Euro.