Montag, 13. Mai 2024

Archiv


Heißer Draht zum Elysée

Grundsätzlich gilt in Frankreich Pressefreiheit. Und doch häufen sich die Beschwerden französischer Journalisten über massive Angriffe auf das in der Verfassung garantierte Recht auf freie Berichterstattung. Kenner der französischen Medienszene halten diese Entwicklung jedoch nicht für ein neues Phänomen der Ära Sarkozy: Der Zensor hatte in Frankreich schon immer ein leichtes Spiel.

Mit Reportagen von Margit Hillmann, am Mikrofon: Simonetta Dibbern | 31.05.2008
    Die französische Medienszene ist in Bewegung geraten: durch erhebliche Umstrukturierungen und die Konzentration der Presselandschaft, das Kapital der Medien ist inzwischen in der Hand weniger mächtiger Großindustrieller. Das liegt zum einen am Kostendruck und am rückgängigen Anzeigenmarkt. Es liegt aber auch an wachsendem Einfluss von außen, wie das Beispiel von "Le Monde" zeigt, wo Dutzende von Redakteuren um ihren Arbeitsplatz fürchten. Dort sitzt der Bruder Sarkozys im Aufsichtsrat.

    Nicht für alle Entwicklungen ist Nicolas Sarkozy verantwortlich, doch er prägt die Medien: indem er ihnen Stoff bietet. Und indem er die Fäden zieht. Seine Nähe zu den Medien und die Nähe der Medien zur Macht haben Tradition: Presse und Politik waren in Paris schon immer eng verbunden. Während der Blütezeit der französischen Presse Ende des 19. Jahrhunderts etwa schrieben viele bedeutende Politiker selbst für große Zeitungen – und knapp 100 Jahre später hat Charles de Gaulle die Rolle der Medien in der Verfassung festgelegt: sie sollten im Sinne des Wortes "staatstragend" sein, also die Politik der jeweiligen Regierung unterstützen. Die Medien sind die Stimme Frankreichs, sagte auch sein Nachfolger, Georges Pompidou.

    Frankreichs Medien verstehen sich nicht als vierte Gewalt. Und so gehören investigative Recherchen oder kontroverse Interviews auch nicht zur Ausbildung junger Journalisten. Das "Centre de Formation des Journalistes" in Paris, kurz: CFJ, ist eine Kaderschmiede mit Karrieregarantie: Fast alle Redakteure der staatlichen Medien haben die CFJ durchlaufen.


    Centre de Formation des journalistes

    In einem Kelleraum unter künstlichem Neonlicht sitzt eine Handvoll Studenten an Computern. Ein Mittvierziger in kleinkariertem Hemd und ausgebeulter, grauer Kordhose - schlendert zwischen den Tischen umher. Er ist britischer Journalist und unterrichtet die Schüler im Nachrichtenschreiben auf Englisch. Der Gastdozent bleibt bei einer rotwangigen und nervös wirkenden Schülerin stehen und liest, was sie geschrieben hat.

    " Ich bin dabei Agenturmeldungen für Radiokurznachrichten auf Englisch zu übersetzen."Reicht das?", fragt sie. Er nickt, dann er gibt er ihr noch ein paar Tipps: "Nennen Sie die Dinge beim Namen"; und "Denken Sie daran, Sie schreiben fürs Radio, der Text muss ins Ohr gehen!"

    In einer Ecke des Raumes sitzt ein junger Redakteur von Radio France mit einem Schüler zusammen.

    Sie gehen die letzen Agenturmeldungen durch.

    "Dir bleiben noch 15 Minuten", erinnert ihn der Dozent. Anschließend muss Jean-Sébastien ins hauseigene Hörfunk-Studio und eine von ihm selbst zusammengestellte Radiosendung mit internationalen Nachrichten moderieren. - Eine fiktive Nachrichtensendung, aber brandaktuell und unter realistischen Bedingungen produziert, erklärt der "Radio France"-Journalist.

    " Zum Job des Moderators gehört es, die Nachrichten auszuwählen und zu schreiben; er muss Titel für die Schlagzeilen finden und dann – je nach Wichtigkeit und Aktualität – die Reihenfolge der Nachrichten festlegen. "

    In einem kleinen funktional eingerichteten Büro im dritten Stock sitzt Christophe Deloire. Der lässig-elegant gekleidete 36-Jährige ist seit drei Monaten Direktor des CFJ. Er lehnt sich in seinen Stuhl zurück, schlägt die Beine übereinander. So viel Praxisnähe wie möglich – das sei das Erfolgsrezept der Schule, sagt er.

    " Unsere Studenten kommen nicht, um Vorlesungen über Geschichte oder die Philosophie der Wissenschaften zu hören. Sie kommen, weil sie den Beruf des Journalisten erlernen wollen. Sie sollen nach der dreijährigen Ausbildung voll einsatzbereit sein, in der Lage, eine professionelle Reportage zu liefern, für Fernsehen, Radio, Zeitung oder die neuen Medien. "

    Die Journalistenschule genießt den Ruf, die landesweit beste Ausbildung anzubieten. Tatsächlich liest sich die Liste der ehemaligen CFJ-Schüler wie ein ‚who is who" der einflussreichsten Journalisten Frankreichs. Der Direktor zählt sie auf, wie ein Leistungssportler seine Trophäen.

    " Die Moderatoren der beiden meistgesehenen Nachrichtenmagazine des französischen Fernsehens sind Ehemalige des CFJ. Ebenso die Chefredakteure von der Wochenzeitung ‚Le Point’ und den Tageszeitungen ‚Liberation’ und ‚Le Parisien’ – um nur einige zu nennen. Ich bin natürlich sehr stolz darauf, dass diese brillanten Journalisten an unserer Schule ausgebildet wurden. Ich finde, sie geben unseren Studenten ein gutes Vorbild. Es sind wirklich gute Journalisten. "

    Inzwischen hat Jean-Sébastien seine Sendung unter Livebedingungen aufgenommen und hört sie gemeinsam mit seinem Lehrer ab. Der erklärt ihm, wo er Fehler gemacht hat

    Zuviel über Afrika, eine veralte Meldung; er weist seinen Schüler hin auf den Unterschied zwischen ‚Bürgerkrieg’ und ‚Unruhen’; und dann ein unentschuldbarer Schnitzer: die PKK ist nicht pakistanisch. Es ist eine kurdische Organisation!

    Jean-Sébastien hört aufmerksam zu, Fragen stellt er so gut wie keine. Der 27-jährige Student ist von der hohen Qualität der Ausbildung überzeugt: "Wir lernen hier das Handwerk eines modernen, Journalismus."

    Und was lernen sie über das in Frankreich traditionell enge Verhältnis zwischen Politikern und Journalisten, über Themen wie Informantenschutz und das Zugangsrecht auf Informationen?

    Jean-Sébastien scheint irritiert. Er denkt nach und antwortet: "Nicht viel".

    " Weil die Ausbildung hier sehr praxisorientiert ist. Wir lernen, wie Informationen präsentiert werden, den Umgang mit der Technik und so weiter. Manche Gastdozenten fragen uns hin und wieder, wenn wir von einem Interview wiederkommen: ‚Warum hast du nicht die und die Frage gestellt? Dass hättest du tun müssen’. Aber ich glaube nicht, dass das Sinn der Ausbildung am CFJ ist."
    Doch ohnehin glaubt der künftige Journalist nicht, dass die Pressefreiheit in Frankreich ein Problem ist.

    " Ich glaube nicht, dass der Zugang zu Informationen in Frankreich strikter kontrolliert wird, als in Deutschland, Großbritannien, Italien oder sonst einem großen demokratischen Land. Frankreich ist nicht China. "

    Eine junge CFJ-Studentin mit Schwerpunkt Fernsehen steht draußen vor der Tür und raucht eine Zigarette. Auf die Frage, was sie von Pressefreiheit und Arbeitskonditionen für Journalisten in Frankreich hält, antwortet sie prompt und sehr viel kritischer:

    " Selbstzensur ist unter französischen Journalisten sehr verbreitet. Leider wird darüber viel zu wenig gesprochen. Natürlich kommt die Zensur auch von oben. Bei Medien, deren Besitzer Industrielle mit klaren wirtschaftspolitischen Interessen sind. - Wie zum Beispiel Serge Dassault, einflussreicher Medienbesitzer und Waffenhändler. "

    Die Studentin mit dem sommersprossigem Gesicht ist fest entschlossen: Sie will später im Beruf keinen Maulkorb akzeptieren. Sie will eine kompromisslose Journalistin werden, brenzlige Themen und unbequeme Fragen nicht aussparen.

    " Unsere englischen Gastdozenten haben uns gezeigt, wie bei ihnen Politiker interviewt werden. Das ist ein enormer Unterschied! Bei uns liegen die Journalisten fast auf den Knien, wenn sie Sarkozy interviewen. Die Engländer stellen ihre Fragen wenn es sein muss 15 Mal, bis der Politiker geantwortet hat. Für mich ist der englische Journalismus ein Vorbild."

    Sie drückt ihre Zigarette aus und geht zurück in ihren Kurs.

    Dass der Journalismus seinen Ursprung in Frankreich hat, ist bereits am Begriff selbst abzulesen: abgeleitet von Journal beziehungsweise jour, Französisch für: Tag. Journalisten arbeiten nicht für die Ewigkeit, sondern: für den Tag. Im Jahr 1631 erschien in Paris eines der ersten Periodika: "La Gazette". Auch die erste Nachrichtenagentur entstand in Frankreich, 1835. Und mit dem "Petit Journal" erschien dann 1863 das erste Massenblatt, das dank der neu entwickelten Rotationsdrucktechnik bald in Millionenauflage verkauft wurde.

    Der Schriftsteller Honoré de Balzac hat die Macht der Medien schon früh erkannt: In seinem Roman "Die verlorenen Illusionen" (entstanden zwischen 1837 und 1843) erzählt er die Geschichte von Lucien, einem Poeten, der sich – aus Geldnot – als Journalist versucht und in die Netze der medialen Verstrickungen gerät. Sein Lehrmeister ist der Theaterkritiker Etienne Lousteau.

    Aus dem Roman: "Das Gewissen, mein Lieber, ist ein Stock, mit dem man auf seinen Nachbarn losschlägt, aber nicht auf sich selbst. Zeigen Sie ein oder zwei Monate lang Härte und Geist, und die Schauspielerinnen werden Sie mit Einladungen überhäufen, die Liebhaber Ihnen den Hof machen, und bei Flicotaux werden Sie nur an den Tagen speisen, wenn Ihnen die dreißig Sou in der Tasche fehlen und Sie einmal nicht eingeladen sind. Um fünf Uhr im Luxembourg wußten Sie nicht, was anfangen, und jetzt stehen Sie schon im Begriff, eine von den hundert bevorzugten Persönlichkeiten zu werden, die die französische Meinung bilden. Wenn Sie Rache zu üben haben, können Sie Ihren Freund oder Ihren Feind mit einem Satz, der jeden Morgen in unserer Zeitung erscheint, rädern. Sie brauchen mir nur zu sagen: Lousteau, laß uns diesen Kerl da vernichten! Sie werden Ihr Opfer dann noch einmal umbringen mit einem großen Artikel in der Wochenzeitung. Und wenn die Angelegenheit für Sie bedeutsam ist, so wird Finot, dem Sie sich nützlich erwiesen haben, Sie einen letzten tödlichen Schlag führen lassen, in einer großen Zeitung mit zehn- oder zwölftausend Abonnenten."

    Staatspräsident Charles de Gaulle hatte in der Verfassung der 5. Republik die Macht des französischen Präsidenten festgeschrieben: dazu gehörte auch die Kontrolle der Medien. De Gaulle wusste um die Macht des Wortes – und er wusste mit der Macht der Bilder umzugehen. Nicolas Sarkozy hat die gaullistische Tradition neu belebt. Und sie auf seine Weise bereichert: mit Futter für die Boulevardblätter.

    Dass auch das Privatleben des französischen Staatschefs eine Rolle spielt, das ist neu in der französischen Presse. Doch die Inszenierung der Pressekonferenzen und des traditionellen Präsidenteninterviews, das zur besten Sendezeit ausgestrahlt wird, läuft nach denselben zeremoniellen Spielregeln ab wie Anfang der 60er Jahre. Weder von den meisten beteiligten Redakteuren und Journalisten noch von den Zuschauern werden diese Regeln in Frage gestellt – nur langsam wächst die Kritik an Staatsnähe und -hörigkeit.



    Der Medienkritiker Daniel Schneidermann


    Daniel Schneidermann steht hinterm Schreibtisch und telefoniert. Er ist groß und schlank, hat volles graues Haar, wache Augen und – ein ansteckendes Lachen.

    Doch in der nächsten Sekunde ist er schon wieder ernst. Medienkritik, sagt er, ist eine wichtige Arbeit.

    " Die Medien sind heute eine Macht, eine enorme Macht. Und ich glaube, dass auch über die Macht der Medien kritisch berichtet und recherchiert werden muss. - Genauso kritisch wie über die Politik. "

    Der Journalist setzt sich an seinen Computer und zeigt, woran er gerade arbeitet: Am 90-minütigen Fernsehinterview mit Staatspräsident Nicolas Sarkozy. Es wurde am Vorabend zur Primetime live und zeitgleich auf TF1 und France 2 ausgestrahlt, den beiden größten Fernsehsendern Frankreichs.

    Schneidermann sucht eine bestimmte Stelle im Video. Dann stoppt er das Video plötzlich und seufzt. Er habe zuerst gezögert, überhaupt etwas über das Interview zu schreiben, erzählt er.

    Denn die französischen Medien haben schon Tage vorher völlig unangemessen und übertrieben über das Interview mit dem Staatschef berichtet, beschwert er sich.

    " Alle haben sie nur davon geredet. Die Zeitungen waren voll davon: was wird er sagen, was wird er nicht sagen, welche Farbe für die Dekoration. Und es wurde die Cousine vom Dekorateur interviewt, um zu erfahren, welche Farbe… Ich hab gesagt: Erbarmen! Nicht auszuhalten. Aber dann ist während des Interviews doch etwas sehr Interessantes passiert. "

    Schneidermann startet das Video und erklärt, dass Sarkozy an dieser Stelle nach seiner Meinung befragt wird, zu illegalen Einwanderern, die seit Jahren in Frankreich arbeiten und sogar Steuern und Sozialabgaben zahlen. Ob der Staat in diesen Fällen nicht eine Aufenthaltsgenehmigung erteilen sollte.

    Nicolas Sarkozy antwortet, spricht jedoch von der Staatsbürgerschaft. "Sehen Sie", sagt Schneidermann, "Sarkozy verwechselt Aufenthaltsgenehmigung und Staatsbürgerschaft." imal wird er zum Thema befragt, und dreimal sagt der Präsident, dass er gegen die französische Staatsbürgerschaft für illegale Einwanderer ist. Und der Journalist, der ihn befragt, korrigiert ihn nicht. Das ist unglaublich! "

    Ob Sarkozy die Begriffe aus taktischen Gründen verwechselt, weiß der Medienkritiker nicht. Was ihn interessiert, ist das Verhalten des Journalisten. Warum reagiert der nicht?

    " Ich hoffe und glaube auch, dass der Journalist den Unterschied kennt zwischen Aufenthaltsgenehmigung und Staatsbürgerschaft. Ich glaube, es ist die ungeheure Anspannung rund um diese pompöse Veranstaltung im Elysée. Und dieses Dekor, überall roter Samt, Gold, kostbare Gemälde und Teppiche. Selbst ein erfahrener Journalist kann damit überfordert sein. "

    Und dann spricht der Medienkritiker über die Tradition des Präsidenten-Interviews und die Rolle, die die Journalisten dabei spielen. "Unsere Verfassung macht aus dem Staatsoberhaupt den mit Abstand mächtigsten Mann im Land", sagt er. "Und wenn der Präsident dem Volk etwas zu sagen hat, bestimmt er, wie das geschieht". Seit de Gaulle wählen die französischen Präsidenten die Journalisten aus, die ihn im Fernsehen interviewen, weiß der Medienspezialist. Und Sarkozy setze diese Tradition fort:

    " Wer wählt die Journalisten aus? Sarkozy, natürlich. Das ist die monarchistische Tradition in Frankreich. Unsere Verfassung, die der 5. Republik, hat in Frankreich eine monarchische Republik installiert. Frankreich sieht aus wie eine Republik, hat aber tatsächlich viel von einer Monarchie. "

    Dass die französischen Journalisten mitziehen und während des Präsidenteninterviews in der Regel kaum mehr als wohlerzogene Stichwortgeber sind, - auch dafür hat Medienkritiker Daniel Schneidermann eine Erklärung: Das Präsidenteninterview gilt als Krönung der Karriere eines erfolgreichen Journalisten in Frankreich.

    " Und es ist ganz klar, sobald ein Journalist sich allzu kritisch verhält, hat er dieses Privileg verspielt. Plaudert er etwa aus der Schule und verrät: Der Elysée hat mich gebeten, die und die Frage zu stellen, und jene Frage nicht - dann wird er den Präsidenten nie wieder im Elysée interviewen. "

    Der eigentliche Skandal ist, dass diese Methoden allen Journalisten bekannt sind, aber kaum jemand sie öffentlich kritisiert, meint der Medienkritiker. Und er weiß, wovon er spricht: er eckt regelmäßig an, wenn er Kollegen kritisiert. 2003 wurde der Journalist von der Tageszeitung Le Monde entlassen. Er hatte in einem Artikel ein Enthüllungsbuch über die Nähe der Zeitung zu Politikern und Wirtschaftsbossen Frankreichs verteidigt. 2007 wurde sein Medienmagazin "Arrêt sur Images" von heute auf morgen aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramm gestrichen. In beiden Fällen wurde ihm der Vorwurf gemacht, dass er Journalisten des eigenen Hauses attackiert habe.

    " In den Chefetagen der Medien geht man mit dieser Kritik sehr unentspannt um. Sie befinden sich immer öfter in der Defensive: Sinkende Leser- und Zuschauerzahlen und nicht zuletzt die Konkurrenz der neuen Medien im Internet machen ihnen zu schaffen. Die veröffentlichen häufig Informationen, die in der traditionellen Presse nicht erscheinen. Manchmal sind es falsche Meldungen, häufig aber auch solide Informationen. Und die traditionellen Medien spüren, dass ihnen eine Revolution bevorsteht - psychologisch, professionell, wie sie die Medien in Frankreich noch nie erlebt haben. "
    Plötzlich fällt dem Medienkritiker ein, dass er seinen Artikel über das Präsidenteninterview noch gar nicht ins Internet gestellt hat.

    Das vom öffentlich-rechtlichen Fernsehsender verbannte Medienmagazin "Arrêt sur Images" läuft jetzt im Internet. Daniel Scheidermann und sein Team haben sich dazu entschlossen, nachdem eine von Fernsehzuschauern und Kollegen organisierte Petition gegen die Absetzung des Magazins scheiterte. Wir haben täglich 20.000 Besucher auf unseren Internetseiten, sagt Daniel Schneidermann und eine Mischung aus Stolz und Genugtuung zeichnet sich auf sein Gesicht. Dann klickt er ein letztes Mal mit seiner Maus und der Artikel erscheint auf der Internetseite unter dem Titel "Sarko antwortetet dreimal daneben".

    Frankreichs Medien pflegen nicht das offene Wort, sie rühren selten an Tabus: vergleichbar investigative Magazine wie "Monitor" im Fernsehen oder den "Spiegel" gibt es nicht. Kritische Gedanken werden in der Regel nicht ausgesprochen - sie stehen, so will es die französische Tradition: eher zwischen den Zeilen.

    Eine Ausnahme ist "Le canard enchaîné" – das satirische Wochenblatt wird von Lesern ernstgenommen und von Politkern gefürchtet, seit über 90 Jahren. Im Jahr 1915 gegründet, ist Le canard eine der ältesten Zeitungen Frankreichs und: mit einer Auflage von 400.000 Exemplaren eine der erfolgreichsten. Unabhängig, werbefrei und unbestechlich ist "Le canard enchaîné", was auf deutsch soviel heißt wie : Ente in Ketten. Jeden Mittwoch erscheint das achtseitige Blatt, in schwarz und rot auf einfaches Zeitungspapier gedruckt. An Themen für Artikel, Rubriken und Karikaturen hat es noch nie gefehlt.


    "Le Canard Enchaîné"

    Hinter der schweren eichenen Eingangstür zum "Canard Enchaîné"befindet sich ein großer Flur. Von der hohen Decke hängt ein verstaubter Kronleuchter herab; ein zerschlissenes braunes Skailedersofa, dem die Hälfte der Sitzkissen fehlt, säumt den Weg zum Sekretariat. Die Tür steht offen. Ein Mann vom Paketdienst mit Motorradhelm auf dem Kopf wartet, dass ihm dort jemand seinen großen Briefumschlag abnimmt. Eine Eilsache. Die Sekretärin nimmt ihn entgegen und zeichnet den Lieferschein ab.

    Dann bringt sie die Post ein Stockwerk höher, in die Redaktion.

    Der erste Raum ist hell und nur mit dem Notwendigsten eingerichtet: Regale und ein halbes Dutzend Schreibtische. Doch nur drei Arbeitsplätze sind besetzt. Freitags ist es bei uns eher ruhig, erklärt Louis-Marie Houreau, Mitte 50 und Redakteur des "Canard Enchainé". Er schiebt seine Lesebrille auf die Nasenspitze und beobachtet neugierig seinen Kollegen Alain. Der sitzt hinter seinem Schreibtisch, den ein kunstvoll geschichteter Riesenberg von Papieren bedeckt. Wie ein Mikadospieler zieht der grauhaarige Mann mit spitzen Fingern ein Blatt aus dem Haufen und wirft es in den Papierkorb.

    "Alain räumt gerade seinen Schreibtisch auf", stichelt Houreau. Sein Kollege schielt über Papier- und Zeitungsstapel hinweg und kontert entrüstet: Der ist aufgeräumt, so aufgeräumt wie nie! Und das Aufräumen habe sich auch gelohnt, lobt er.

    " Wenn ich aufräume, finde auch jedes Mal Stoff für mindestens zwei, drei Artikel. "

    Das Papierchaos auf seinem Schreibtisch sei in Wirklichkeit eine Art Sparkonto, eine Anlage auf Zeit.

    Es ist der typische "Canard Enchainé"-Ton. Überall lauern Scherze und Witze, alles wird mit Ironie behandelt: Von der Staatsaffäre bis zur skurrilen Geschichte am Rande. - Wie die des ehrenwerten Richters Hontang aus Südfrankreich. Louis-Marie Houreau, der sich hauptsächlich um Justizthemen kümmert, hat die Episode aus den Kulissen der französischen Republik recherchiert und geschrieben. Er hievt einen prall gefüllten Ordner auf seinen Schreibtisch, schlägt ihn in der Mitte auf und erzählt.

    " Richter Hontang… war auf einen Kongress in Deutschland und hat dort eine Kreditkarte aus der Tasche einer Brüssler Kollegin gestohlen. Dann ist er abends mit der Kreditkarte in ein Bordell mit osteuropäischen Prostituierten und hat die Rechnung mit der geklauten Bankkarte bezahlt. "

    Der "Canard Enchaîné" wurde vom Richter sofort auf 30.000 Euro Schadenersatz verklagt. "Er hat die Fakten bestritten, sich auf die Unschuldsvermutung bezogen und die erste Instanz gewonnen", erzählt der Redakteur und rückt wieder seine Brille zurecht.

    " Im Berufungsverfahren wurde das Urteil aufgehoben. Das hier ist das endgültige Urteil mit Datum von letzter Woche. Wir haben gewonnen. Die Prostituierten haben ihn vor Gericht erkannt. "

    Und wie hat der Journalist die Geschichte entdeckt? "Eine sehr schlechte Frage", antwortet er und lacht. Beim "Canard Enchaîné" gilt die Regel: Niemals die Identität der Informanten preisgeben. Sie sitzen in Ministerien, Verwaltungen, bei der Armee oder in Chefetagen der Unternehmen und riskieren nicht selten ihren Job, wenn sie dem "Canard Enchaîné" heikle Interna verraten. Doch hin und wieder versucht die französische Justiz uns zur Herausgabe unserer Quellen zu zwingen, sagt Redakteur Houreau. Und wieder lächelt der Redakteur mit der sanften Stimme amüsiert in sich hinein. Er erinnert sich an die Aktion eines französischen Untersuchungsrichters, der im vergangenen Jahr die Redaktionsräume des Canard durchsuchen wollte und kläglich an einer List der Redakteure scheiterte.

    Es ging um die Clearstream-Affaire, erzählt der Journalist, eine Politintrige zwischen französischen Ministern, zu der der das Blatt geheime Dokumente veröffentlicht hatte. Der Richter stand morgens um Acht vor der Tür und wollte Rechercheunterlagen der Redaktion beschlagnahmen.

    " Wir haben dem Untersuchungsrichter zunächst erzählt, dass wir den Schlüssel noch nicht haben. Eine Viertelstunde später, als die Lüge nicht mehr glaubwürdig war, haben wir gesagt, dass wir den Schlüssel haben, ihm aber nicht öffnen wollen, weil die Durchsuchung gegen die Pressefreiheit und den Informantenschutz verstoße. In der Zwischenzeit hatten wir Kollegen und Freunde sämtlicher großer Medien benachrichtigt. Rund 50 Journalisten mit ihren Kameras und Mikrophonen standen schließlich mit uns und dem Richter im Treppenhaus. Er hat dann aufgegeben, als er begriffen hat, dass er die Türen gewaltsam öffnen müsste vor einem Heer von Kameras und Mikrophonen. "

    Brigitte Rossigneux, ein große Blonde mit kurzen Haaren und kräftiger Stimme, kommt ins Büro. Die Journalistin ist seit 1982 beim "Canard Enchaîné"und zuständig für Verteidigung und Polizei. Sie bekommt ihre Informationen fast ausschließlich aus geheimen Quellen. - "Von wirklich couragierten Franzosen mit Gewissen", sagt Brigitte Rossigneux und macht eine kurze Pause, als wolle sie den Satz wirken lassen. Dann fährt sie fort:

    " Im vergangenen Jahr zum Beispiel habe ich die Geschichte eines Polizeioffiziers erzählt. Der wurde während des französischen Wahlkampfs um das Präsidentenamt angewiesen, negative Informationen über einen Berater von Ségolène Royal zu sammeln, um seinen und Royals Ruf zu schädigen. Der Artikel wurde im Canard veröffentlicht. Sie haben dann einen Polizeioffizier - der kein strammer Sarkozy-Anhänger ist - verdächtigt, dass er mir die Informationen zugespielt hat. Sie haben ihn, ohne jeden Beweis, aus dem Dienst entfernt. Ohne jeden Beweis! Er arbeitet nicht mehr, hat seit einem Jahr Berufsverbot. "

    Die "Canard Enchaîné"-Journalistin spricht schnörkellos, kein Ringen nach passenden Formulierungen, kein zeitraubendes Drumherumreden. Und so lässt sie denn auch keinen Zweifel daran, was sie von der Pressefreiheit in Frankreich hält.

    " Seit dem der Angeber Sarkozy da ist, ist es der Horror. Abteilungsleiter in Behörden und Ministerien bekommen schriftliche Anweisungen, dass sie nicht auf Anfragen von Journalisten antworten sollen. Das ist aktuell die Pressefreiheit! Minister, die sagen: "Hören Sie, am Telefon können wir nicht reden." Vor kurzem hat mir sogar eine sehr hohe Persönlichkeit des französischen Staates gesagt: Nicht am Telefon, Madame Rossigneux. Und dass mir ein Mann in seiner Position das sagt, das ist völlig verrückt! Die Anruflisten der Handys werden kontrolliert und sie wissen, wer mit wem gesprochen hat. Es ist mir bereits mehrere Male mit meinen Informanten passiert. Die haben jetzt eine entsetzliche Angst mit der Presse zu reden. Das macht unsere Arbeit sehr schwierig. "

    Die Journalistin wirft einen Blick auf ihre Uhr. Sie hat noch eine wichtige Verabredung. Doch bevor sie geht noch ein paar Worte zu ihren Berufskollegen. Sie zieht verächtlich ihre Mundwinkel nach unten und holt Luft.

    " Wenn ich mir Nicolas Sarkozys Pressekonferenzen ansehe, schäme ich mich Journalistin zu sein. Wenn ich all diese Idioten sehe, wie sie brav lachen, weil Sarkozy einen schlechten Witze macht! Er behandelt sie wie Hunde und sie folgen ihm, wohin er will. Das hat in Frankreich Tradition. Die französische Presse verhält sich gegenüber den Machthabern im Lande immer sehr respektvoll. Immer. "

    Die Sekretärin ruft an. Der Besuch ist da. Brigitte Rossigneux legt auf und entschuldigt sich, "die Leute warten schon", sagt sie. Noch schell ein fester Händedruck und ein deutsches ‚Wiedersehen’ und schon ist sie aus der Tür.

    Zwar ist seit dem 29. Juli 1881 die Pressefreiheit in der französischen Verfassung verankert. Aber anders als in Deutschland gibt es keine gesetzlich verbürgte Meinungsfreiheit und kein uneingeschränktes Recht auf Information. Wer exklusiv eine schmerzhafte Nachricht über eine Person des öffentlichen Lebens verbreitet, muß sich schnell rechtfertigen, wenn er seine Quelle nicht preisgeben will. Er macht sich verdächtig und kann im schlimmsten Fall der Verleumdung bezichtigt werden.

    In ihrer Jahresliste zur Pressefreiheit 2007 hat die Organisation "Reporter ohne Grenzen" Frankreich unter anderem deswegen nur den Platz 31 eingeräumt: hinter Ländern wie Costa Rica und Ghana.

    Im erläuternden Bericht wird unter anderem der Fall von Guillaume Dasquié beschrieben. In einem "Le Monde"-Artikel im April 2007 über die Hintergründe der Terroranschläge vom 11. September hatte der freiberufliche Journalist aus Geheimunterlagen des französischen Auslandsnachrichtendienstes zitiert. Und wurde daraufhin vom französischen Staat verklagt. Das Ermittlungsverfahren gegen ihn ist noch nicht abgeschlossen.


    Der Journalist Guillaume Dasquié über Informantenschutz und Pressefreiheit

    Guillaume Dasquié öffnet die Tür. Er ist klein und zierlich, hat feine, fast feminine Gesichtszüge und wirkt wie ein junger Student. Dabei ist der Mann ist 42 Jahre alt, Familienvater mit zwei Kindern und ein erfahrener Journalist mit den Spezialgebieten Terrorismus und Geheimdienste. "Kommen Sie herein", sagt er höflich und macht den Weg frei in ein sonniges, geräumiges Wohnzimmer. Rechts steht ein großer Esstisch, links ein schwarzes Sofa mit Couchtisch; kaum Bilder oder andere Dekoration; nichts liegt herum und nur die beiden Kinderstühle neben den Fenstern verraten, dass hier auch Kinder leben. Nachdem der Journalist aus der Küche etwas zu Trinken geholt hat, setzt er sich auf die Couch, nimmt einen Schluck Wasser und erzählt.

    " Die Geschichte beginnt am 5. Dezember, morgens gegen acht Uhr. Es klingelt, ich öffne die Wohnungstür und eine halbe Fußballmannschaft drängt in unsere Wohnung: drei Männer und drei Frauen. Sie tragen Armbinden der Polizei, kugelsichere Westen, Handschellen am Gürtel und Pistolen. Und sie sagen mir, dass ich verhaftet bin, wegen Gefährdung der nationalen Sicherheit. "

    Die Beamten klärten den Journalisten auf: Es ginge um seinen Artikel in der "Le Monde" und den darin veröffentlichten Auszügen aus geheimen Dokumenten des französischen Auslandsgeheimdienstes.
    Und sie seien nicht nur gekommen, um ihn zu verhaften. Sie hätten auch den Auftrag, die Wohnung der Familie Dasquié nach den geheimen Dokumenten zu durchsuchen. Sie haben alles durchwühlt, erinnert sich der Journalist. Er steht auf und geht hinüber zu den beiden weißen Bücherregalen.

    "Sehen Sie, hier stehen nur Romane", sagt er und tappt mit der flachen Hand auf eines der Regale.

    " Die Beamten haben sämtliche Bücher aus den Regalen genommen und sie einzeln, Seite für Seite durchgeblättert. Sie sind sogar ins Kinderzimmer gegangen und haben dort die Spielzeugkisten durchsucht, um zu sehen, ob ich da vielleicht geheime Dokumente versteckt habe. Dabei lagen alle meine Arbeitsunterlagen im Schreibtisch und den Regalen darüber. Dort ist alles untergebracht, was ich für meine Arbeit als Journalist benutze. "

    Zuerst sei er über den Umfang der Polizeiaktion und über seine vorläufige Verhaftung wirklich schockiert gewesen, erzählt Guillaume Dasquié seine Geschichte weiter. Aber die Beamten hätten sich dann doch im Grossen und Ganzen korrekt verhalten, sagt er.

    So sei er denn auch eher zuversichtlich gewesen, als die Beamten ihn nach der Durchsuchung seiner Wohnung ins Auto setzten und losfuhren. Er habe noch geglaubt, dass er nur ein paar Fragen beantworten müsse und dann sofort wieder auf freien Fuß gesetzt werden würde. "Doch da ging die Geschichte erst richtig los", sagt Guillaume Dasquié und lächelt gequält. Die Beamten brachten ihn in einen Pariser Vorort, - zum neuen Gebäude des DST, dem französischen Inlandsnachrichtendienst.

    " Haben Sie den Sciencefictionfilm "Gattaca" gesehen? Genauso so sah es dort aus. Das Gebäude ist hypermodern, die Verhörräume sind weiß, kein Tageslicht, klinischsauber und ultramodern ausgestattet, kaum Möbel, überall nur Beton und weiße Wände. "

    Die Geheimdienstler waren fest entschlossen, die undichte Stelle in ihrem Haus zu finden und nahmen Guillaume Dasquié in die Zange. "Dabei haben sie keine körperliche Gewalt angewandt", erzählt der Journalist "sie arbeiten mit psychischen Druck".

    " Anfangs wurde ich von zwei Geheimdienstbeamten verhört. Am zweiten Tag meiner Haft waren es teilweise fünf, sechs Beamte, die mich gleichzeitig verhört haben. Sie wollten unbedingt wissen, wie ich an die Dokumente gekommen war und drohten mir dann mit Untersuchungshaft, die in Frankreich bekanntlich extrem lange dauern kann. "

    Die hätten durchaus die Mittel gehabt, ihre Drohung wahr zu machen, ist der Journalist noch heute überzeugt. Denn die ganze Aktion wurde vom stellvertretenden Direktor des französischen Inlandsnachrichtendiensts geleitet, in Absprache mit der für Terrorismus-Angelegenheiten zuständigen Pariser Staatsanwaltschaft. "Extrem mächtige Beamte", sagt der Journalist und zieht seine Augenbrauen hoch.

    Schließlich, nach fast 48 Stunden Haft und endloslangen Verhören sei er mit seinen Nerven am Ende gewesen und habe dem Druck stückchenweise nachgegeben, gesteht Guillaume Dasquié ein. Er verriet dem DST, dass die geheimen Dokumente vom Chef des französischen Auslandsgeheimdienstes selbst herausgegeben wurden und nach Jahren und über Umwege bei seinem Informanten gelandet seien. Den Namen seines Informanten habe er aber nicht preisgegeben, betont der Journalist, als müsse er seine Ehre retten. "Sie haben auch nach wie vor keine Möglichkeit ihn ausfindig zu machen", ist er sicher.

    Während Guillaume Dasquié den Ablauf der Verhöre schildert, schluckt er immer wieder angestrengt. Und auch wenn er es zu verbergen sucht, ist zu spüren, dass die bloße Erinnerung an die beiden Dezembertage ihm noch immer zu schaffen macht.

    Noch heute kann er kaum glauben, zu welchen Methoden der französische Staat bereit ist, um einen Journalisten in die Knie zu zwingen und ihm den Name seines Informanten abzupressen. Und er ist pessimistisch was die Zukunft betrifft: Je selbstbewusster Journalisten auf ihre Rechte pochen, umso brutaler werden die Abwehrmethoden des französischen Staates sein.

    " Wir befinden uns – was die Pressefreiheit und den Informantenschutz betrifft – in einer Gesellschaft, die bereits gekippt ist. Eine europäische Gesellschaft, in der schwere Verletzungen der freiheitlichen Grundrechte einer Demokratie geduldet werden. "

    Die Angelegenheit ist für den Journalisten noch längst nicht ausgestanden. Das Ermittlungsverfahren gegen ihn, wegen Besitz und Veröffentlichung der geheimen Staatsdokumente, läuft noch. Außerdem steht er offiziell unter ‚Kontrolle der Justiz’ und darf von den zuständigen Ermittlungsbehörden jederzeit abgehört und beobachtet werden. "Doch das belastet mich nicht wirklich", gibt sich Guillaume Dasquié gelassen. Das sei wohl eher eine Last für die Beamten, sagt er lächelnd. Schließlich habe er sich nichts vorzuwerfen, fügt er hinzu. Er habe lediglich sein Job als Journalist getan und werde dies auch weiterhin tun. Dann schlägt er sich auf die Knie: So, jetzt muss ich aber dringend los, meine Kinder abholen.

    Aus dem Roman "Verlorene Illusionen": Mein Lieber, ein Journalist ist ein Akrobat, du mußt dich an die Verrenkungen gewöhnen. Da ich ein guter Kerl bin, will ich Dir verraten, wie man es machen muß. Also aufgepaßt. Zuerst findest Du das Buch gut, und wenn es dir Spaß macht, sagst du bei dieser Gelegenheit, was du davon hältst. Das Publikum wird denken, dieser Kritiker ist nicht eifersüchtig, ohne Zweifel urteilt er unparteiisch. Das Publikum hält dich von da an für einen Mann, der seinem Gewissen folgt. Nachdem du die Achtung des Lesers erworben hast, bedauerst du, den Weg tadeln zu müssen, auf den solche Bücher unsere Literatur drängen. Du setzt auseinander, wie unerbittlich in Frankreich die Sprache ist, nenne sie ein Glanzlicht, das auf den Gedanken aufgesetzt wird, ergehe dich in Sentenzen wie: Ein großer Schriftsteller ist in Frankreich immer ein großer Mann, die Sprache zwingt ihn dazu, immer seinen Gedanken herauszuarbeiten, bei anderen Völkern ist es nicht so. (...) Im Schatten der großen Namen Voltaire, Diderot und Lesage kannst du Nathan vernichten, dessen Werk ungeachtet aller hohen Schönheiten in Frankreich einer ideenlosen Literatur Bürgerrecht zu verleihen sucht. Du verstehst, jetzt handelt es sich nicht mehr um Nathan und sein Buch, sondern um den Ruhm des Landes. Die Pflicht aller ehrenhaften und mutigen Schriftsteller ist es, sich den ausländischen Importen heftig zu widersetzen. Hierbei schmeichelst du den Abonnenten.
    Das sind deine Zutaten. Würze mir diese Erwägungen mit Geist, schärfe sie mit einem Schuß Essig, und Dauriat schmort in der Bratpfanne den Artikel. Aber vergiß nicht, am Schluß den Autor als einen Mann zu beklagen, der einem Irrtum aufgesessen ist und dem, wenn er diesen Weg verläßt, die Literatur der Gegenwart noch schöne Werke verdanken wird.


    Ein Großteil der französischen Bevölkerung hat den etablierten Medien noch nie so recht getraut – und das Mißtrauen ist in den letzten Monaten noch gewachsen. Abzulesen ist das unter anderem an den zahlreichen Web-Blogs im Internet, die längst die Leserbrief- und Meinungsseiten in den Druckmedien abgelöst haben. Und auch wer sich informieren will, nutzt zunehmend das Netz. Zum Beispiel die Onlinezeitung "Rue89".com. Gegründet von vier ehemaligen Journalisten der linken "Libération" im Mai 2007. Nur wenige Tage später machten sie Schlagzeilen: Mit einem Bericht über die Selbstzensur bei der Sonntagszeitung "Le journal du Dimanche". Arnaud Lagardère, der Besitzer der Zeitung und ein Freund von Nicolas Sarkozy, hatte mit seinem Anruf beim Chefredakteur dafür gesorgt, daß ein Artikel über Cecilia Sarkozy, die nicht wählen gegangen war, aus dem Blatt gestrichen wurde.

    Nicht die Nachricht war der Skandal – sondern die Verstrickung von Geld, Macht und Medien der Ära Sarkozy, die mit dieser Art der Zensur erstmals offen zu Tage trat. Seitdem setzt die Internetzeitung "Rue89".com neue Maßstäbe für kritische Berichterstattung in Frankreich. Als unabhängiges Informationsportal und als demokratisches Forum.



    "Die Straße gehört euch" - Die Internetzeitung "Rue89".com setzt auf aktive Beteiligung der Leser

    Noch eine Viertelstunde, dann ist Konferenzbeginn, sagt eine junge Frau mit auffallend glänzenden, lockigen Haaren und es klingt wie ein Countdown. Die Redaktionskonferenz am Montagnachmittag ist ein wichtiger Termin: Es wird besprochen und festgelegt, was in der kommenden Woche auf den Seiten der Internetzeitung erscheinen wird. Ein Mittdreißiger in Jeans und dezenten Hemd durchquert mit großen Schritten den lang gestreckten Redaktionsraum. Er stellt sich kurz vor: Arnaud Aubron, Journalist, Webmaster und einer der vier Gründer von "Rue89". Und dann erzählt er, wer sonst noch in der Redaktion arbeitet. Zum harten Kern des Redaktionsteams zählen etwa 15 Mitarbeiter, sagt er.

    Während er sie mit Namen aufzählt, kommt ein Mann zur Tür herein und sieht sich neugierig um. Er hat auf den Internetseiten gelesen, dass "Rue89" ihre Leser einlädt, an den Montagskonferenzen teilzunehmen. Eine junge Mitarbeiterin nickt und bringt ihm sofort einen Klappstuhl.

    " Ich wohne hier im 20. Arrondissement, gleich um die Ecke. Und ich hatte mal Lust zu gucken, wie es in der Redaktion aussieht und wie die Journalisten hier so arbeiten. "

    Es gehört zum Konzept der Internetzeitung, die Leser in die Redaktionsarbeit einzubeziehen. Mit Slogans wie "La Rue est à vous" - die Straße gehört Euch! fordert "Rue89" sie auf, erschienene Artikel zu kommentieren, selbst Themen vorzuschlagen und interessante Internetlinks, Photos oder Videos an die Redaktion zu schicken. Und damit auch alle Leser – ganz gleich, ob sie in Toulouse, Lille oder Rennes sitzen - an der wöchentlichen Redaktionskonferenz teilnehmen können, bietet die "Rue89" einen Konferenzchat an. Heute kümmert sich Arnaud Aubron um die Betreuung des Chats. Er hat seinen Laptop bereits auf den Knien.

    " Die Leser machen nicht zu Hunderten bei der Konferenz mit. Aber es sind doch immer ein paar Leute, die dabei sein wollen. Ich gebe in den Chatraum ein, worüber hier gerade gesprochen wird, was im Einzelnen gesagt wird; sie schreiben dazu zeitgleich ihre Meinungen; teilen mit, was sie persönlich interessieren würde und reagieren auf unsere Themenvorschläge. "

    Inzwischen wurden Bürostühle kreisförmig aufgestellt und ein gutes Dutzend Mitarbeiter hat Platz genommen. Es sind auffallend junge Frauen und Männer: zwischen 20 und 30 Jahre alt. - Einzige Ausnahme ist ein Brillenträger mit graumeliertem Haar, Chefredakteur und Mitgründer der Internetzeitung, Pascal Riché. Er leitet heute die Redaktionskonferenz. Während er in die Runde spricht, zeichnet er Kringel in seinen Notizblock.

    Er teilt mit, dass in "Rue89" künftig die klassischen Kulturkritiken wegfallen werden. "Ihr wisst schon: Konzert sowieso, die und die Theateraufführung hat uns gefallen oder nicht." Eine junge Redakteurin verzieht das Gesicht, sie ist enttäuscht. Ihr Nachbar, im Gegenteil, kommentiert die Ankündigung mit einem "Bravo!". Der Chefredakteur begründet die Entscheidung mit dem Profil der Internetzeitung. "Wir sind ein Ort der politischen und gesellschaftlichen Debatte", sagt er. Die Leser hätten demzufolge die Erwartung, dass "Rue89" kulturelle Ereignisse ebenfalls unter politisch-gesellschaftlichen Blickpunkten betrachte. Die Mitarbeiter scheinen überzeugt. Bis auf die junge Frau, die nach wie vor schmollt, machen sie nun Vorschläge, wie sich die neue Regel umsetzen ließe. Nach fünf Minuten Diskussion gibt der Chefredakteur ein neues Stichwort.

    Also, was haben wir für diese Woche? Einer der Journalisten hält eine aufgeklappte "Le Monde" hoch. "Die Kollegen haben heute die Prinzipienerklärung der Sozialisten veröffentlicht", sagt er, "darüber sollten wir auch was machen". Wieder wird lebhaft und ausdauernd diskutiert. Und wieder gibt jeder seine persönliche Meinung ab: über den Inhalt der Prinzipienerklärung, über die Sozialisten, über die Krise der Partei. Routine scheint in dieser Redaktion ein Fremdwort. Egal um was es gerade geht, die Konferenzteilnehmer haben zu allem jede Menge zu sagen. Und kehrt zwischendurch etwas Ruhe ein, dann nutzt Arnaud Aubron die Gelegenheit und zitiert die Bemerkungen der virtuellen Konferenzteilnehmer aus dem Chatraum.

    Bis alle Programmpunkte abgehakt sind, sind schließlich rund anderthalb Stunden vergangen. Doch dass sich die Konferenz derart in die Länge zieht, stört hier niemanden. Im Gegenteil, sagt Augustin Scalbert, der nach der Konferenz draußen auf einer kleinen Bank sitzt und frische Luft schnappt. Er genieße die Redefreiheit, die Möglichkeit, alles zu diskutieren.

    " Wenn Sie in den klassischen großen Redaktionen arbeiten, sind Sie immer mit einer starren Hierarchie konfrontiert. Hier sind wir schon mal weniger zahlreich, und die Ansprüche der Gründer von "Rue89" sind völlig anders. Sie suchen nach anderen Formen des Journalismus; sie gehen mit allem offener um. Ich hab hier eine Freiheit, die ich vorher – während meiner sieben Jahre bei der Tageszeitung "L’Est Republicain" nicht annähernd gekannt habe. "

    Die Redaktion könne sich die redaktionelle Freiheit auch leisten. fährt er fort. Bei "Rue89" seien nämlich Journalisten Kapitän an Bord; sie könnten entscheiden, wie und worüber berichtet wird. Im Gegensatz zu den traditionellen Medien, die inzwischen alle, mehr oder weniger, unter der Kontrolle der großen Medienkonzerne und deren wirtschaftlichen Interessen stünden, empört sich der junge Journalist. Er nennt Le Figaro, Le Monde, Les Echos; französische Unternehmer wie Bouygues, Lagardère oder Bolloré. "Es sind französische Wirtschaftsbarone, die enorm viel Geld mit Aufträgen vom Staat verdienen und sich mit ihrem Kapital nach und nach in sämtliche wichtigen Medien einkauft haben", kritisiert er. Und dann wird sein Ton wird noch schärfer.

    " Eine vergleichbare Situation gibt es nur in Italien mit Berlusconi. Die Franzosen kritisieren die italienischen Pressestrukturen auch ständig als mafiaähnliches System. Aber die Parallelen zu Frankreich werden dabei geflissentlich übersehen. Tut mir leid, aber in Frankreich sieht es nicht besser aus. Die Kapitalkonzentration in der Medienlandschaft und ist auch für die Pressefreiheit in Frankreich eine enorme Gefahr. "

    Der Besucher, der an der Redaktionskonferenz teilgenommen hat, kommt aus der Tür. Er bleibt kurz stehen und zieht seine Jacke über. Und welchen Eindruck nimmt er mit? "Rue89" bemühe sich wirklich, eine Alternative zu den traditionellen Medien anzubieten, hat er festgestellt.

    " Vielleicht, weil sie jung sind, wie ich jetzt gesehen habe. Deswegen haben Sie vielleicht andere Interessen und auch eine andere Neugier. "

    Dann zieht er eine Ballonmütze aus seiner Jackentasche, setzt sie auf, nickt kurz zum Abschied und schlendert über den kleinen Hof, in Richtung Straße.