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Held der DDR

Wolfgang Seiffert – Wanderer zwischen den deutschen Welten, zwischen Deutschland und Russland – hat mehr erlebt als andere in 80 Lebensjahren. Das Erlebte hat er jetzt zu Papier gebracht.

09.10.2006
    Ein Lied aus dem Repertoire des Ostberliner Oktoberklubs. Agitation gegen die "imperialistische Supermacht USA" gehörte zu den Pflichtübungen in der Deutschen Demokratischen Republik. So wie in den Anfangsjahren der DDR das Trommeln für ein Deutschland, ein ungeteiltes Deutschland. Die Gelehrten streiten sich bis heute, was Stalin mit Deutschland vorhatte. Fakt ist, Mitglieder der Freien Deutschen Jugend gingen Anfang der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik für die Einheit Deutschlands auf die Straße – und manche FDJ-Aktivisten zahlten dafür einen hohen Preis. Sie wurden ihrer Freiheit beraubt und wanderten ins Gefängnis. Ein Demonstrant wurde von der Polizei erschossen.

    "In den Jahren 1950 bis 1951 beherrschte ein gewisser Aktionismus die FDJ-Tätigkeit. Die Lage in der DDR wurde so unkritisch wiedergegeben, wie sie uns die DDR-Führung darstellte. Politische Losungen der DDR wurden einfach nachgeplappert. Die antikommunistische Grundstimmung der westdeutschen Bevölkerung wurde selten zur Kenntnis genommen. Doch alle diese Fehler und Mängel können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hauptursache für den Niedergang der westdeutschen FDJ der politische Wille des Dr. Adenauer und seiner politischen Freunde gewesen war, die westdeutsche Republik in die westliche Allianz zu integrieren, und die Gegner dieser Politik mit allen Mitteln auszuschalten. Opfer waren nicht nur die Mitglieder der FDJ, Opfer waren vor allem die 18 Millionen Menschen in der DDR. Sie hätten schon damals die Wiedervereinigung erleben können."

    Das behauptet Wolfgang Seiffert, der als junger FDJ-Funktionär in der Bundesrepublik Anfang der fünfziger Jahre verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Er machte in der DDR als Jurist Karriere und kehrte in den siebziger Jahren nach Westdeutschland zurück. Wolfgang Seiffert – Wanderer zwischen den deutschen Welten, zwischen Deutschland und Russland – hat mehr erlebt als andere in 80 Lebensjahren. Und das Erlebte hat er jetzt zu Papier gebracht.

    Henning von Löwis:
    Wolfgang Seiffert, "Selbstbestimmt", der Titel Ihrer Lebenserinnerungen, "Ein Leben im Spannungsfeld von geteiltem Deutschland und russischer Politik" – war das wirklich alles selbstbestimmt, auch als Sie 1950 als FDJ-Funktionär nach Westdeutschland gingen?

    Seiffert:
    Als ich nach Westdeutschland ging, war ich noch kein FDJ-Funktionär, sondern ich kam aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft, bin zu meinen Eltern in die Nähe von Osnabrück, wo die wohnten, und dort habe ich mich dann entschlossen, Mitglied der Freien Deutschen Jugend der damaligen Bundesrepublik zu werden und habe mich in Hannover bei der Landesleitung der FDJ gemeldet. Von da an habe ich für die FDJ und in der FDJ der Bundesrepublik gearbeitet.

    v. Löwis:
    Wenn man Ihr Buch liest, gewinnt man den Eindruck, da kämpft ein junger deutscher Patriot für die Wiedervereinigung Deutschlands, und er wird Opfer eines Regimes, das auf die Spaltung setzt.

    Seiffert:
    Das ist etwas zeitlich verkürzt, aber im Prinzip richtig. Ich war von Anfang an überzeugt, dass die Einheit Deutschlands – soweit das noch möglich war – erhalten oder wiederhergestellt wird, und dass man in dieser Frage durchaus mit der sowjetischen Seite auf einen Nenner kommen konnte. Und habe mich auch in der Bundesrepublik in diesem Sinne politisch betätigt und fand in diesen ersten Jahren 1950, 1953, 1955, auch Unterstützung in der politischen Führung der DDR. 1953 allerdings wurden, nachdem die FDJ verboten worden war in der Bundesrepublik, einige ihrer führenden Funktionäre verhaftet, das war auch ich. Ich war damals Chefredakteur der Zeitung "Das junge Deutschland" und wurde dann später, 1955, nach zwei Jahren Untersuchungshaft, vom Bundesgerichtshof zu vier Jahren Gefängnis verurteilt mit der Begründung, wir hätten ein Unternehmen des Hochverrats vorbereitet.

    v. Löwis:
    Am 11. Mai 1952 waren Sie ja in Essen Zeitzeuge, Tatzeuge, als Philipp Müller von der Polizei erschossen wurde. War das ein politischer Mord? Kann man das sagen?

    Seiffert:
    Ich glaube, ja. Wir waren ungefähr 30.000 junge Leute, die gegen die Remilitarisierung, wie das damals hieß, und für die Einheit Deutschlands demonstriert haben, und ich erinnere mich ganz genau, dass wir von der Polizei vor dem Gelände der Gruga, also der Gartenbauausstellung, abgedrängt wurden. Dann wurde geschossen, und als ehemaliger Soldat wusste ich sofort, dass es hier scharfe Munition war, was da verwendet wurde, und zehn Meter vor mir fiel ein junger Mann, von hinten von der Polizei getroffen, nieder, wurde von der Polizei auf einen Lkw geworfen, und später – ich wusste natürlich nicht, wer das ist – habe ich dann erfahren, er heißt Philipp Müller, ist ein Mitglied der FDJ aus München.

    v. Löwis:
    1956 flohen Sie aus dem Gefängnis und wurden dann zu einem "Helden der DDR". Auf dem Titel Ihres Buches das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" vom 7. Juni 1955 mit der Schlagzeile: "Empörung in ganz Deutschland. Die Forderung in Ost und West: Heraus mit Jupp Angenfort und Wolfgang Seiffert aus Adenauers Kerkern". Wolfgang Seiffert, ein Held des deutschen Freiheitskampfes. Haben Sie sich damals als Held gefühlt?

    Seiffert:
    Überhaupt nicht. Ich war zwar empört über diese Verurteilung und Verfolgung, denn was wollten wir? Wir wollten, dass die Einheit Deutschlands nicht gefährdet wird, und deswegen sollte man fragen, wie die militärische Bewaffnung Deutschlands zurückstellen, bis die Einheit Deutschlands wiederhergestellt ist, und dann konnte man sicherlich auch eine Armee haben.

    v. Löwis:
    Der große Gegenspieler von Adenauer hieß Ulbricht. Sie schreiben, Ulbricht war ein deutscher Stalinist von Format. War Ulbricht auch ein deutscher Patriot?

    Seiffert:
    Ich glaube, ja, denn er war in der SED-Führung derjenige, der immer die Einheit Deutschlands im Auge hatte und davon sprach, dass die DDR eine Funktion habe, nämlich eine nationale Mission. Das hieß praktisch nichts anderes als die Wiederherstellung der deutschen Einheit. Darüber hat er viel geschrieben. Er war äußerlich, ich habe ihn ein paar Mal kennen gelernt, er war nicht sehr sympathisch, aber seine politische Konzeption war zwar auf Kommunismus ausgerichtet, aber er verstand – und hat auch daran festgehalten, auch in der Verfassung der DDR von 1968, die man ja als sein politisches Testament betrachten kann -, stand in der Präambel, dass die Wiedervereinigung Deutschlands – dann kam natürlich der Satz "auf sozialistischer Grundlage" – angestrebt wird.

    v. Löwis:
    Zitat Wolfgang Seiffert: "Nach ihm hat kein anderer Politiker der DDR wieder sein Niveau erreicht." Das klingt nach Sympathie, nach Sympathie für Walter Ulbricht.

    Seiffert:
    Ja, Sympathie für seine politische Position und für seine politische Leistung, denn er war der einzige wirkliche niveauvolle Gegenspieler von Adenauer. Und was danach in der DDR kam – ich kannte zum Beispiel Erich Honecker, seinen Nachfolger, viel länger und viel besser als Ulbricht –, aber mir war der Niveau-Unterschied gerade deshalb von Anfang an klar, und das hat sich ja auch gezeigt. Er hat dieses politische Niveau, das sein Vorgänger Ulbricht hatte, nie erreicht.

    v. Löwis:
    Sie hatten ja mehr oder minder enge Kontakte mit den Honeckers. Was war das für ein Mann, der Saarländer Honecker? Ging es ihm in erster Linie um persönliche Macht und Machterhaltung?

    Seiffert:
    Da muss man vielleicht zeitlich unterscheiden. In den Anfängen der Sowjetischen Besatzungszone, bzw. ab 1949 der DDR, ging es dem Honecker auch darum, ein anderes Deutschland zu errichten, als es in der Vergangenheit unter Hitler existiert hat. Insofern ging es ihm um die Sache und nicht um seine persönliche Macht. Aber mit dem Aufstieg vom FDJ-Vorsitzenden der DDR zum Politbüro-Mitglied – und als Politbüro-Mitglied hat er ja die Funktion des Sicherheitssekretärs gehabt – und in der Situation der politischen Zuspitzung im Kalten Krieg ist er doch mehr und mehr zurückgefallen auf die Position, wir müssen unsere politische Macht hier in diesem Teil Deutschlands erhalten. Damit hat das auch meines Erachtens auf die Person Honeckers insofern abgefärbt, als er persönliche Machterhaltung betrieb und weitergehende Dinge beiseite schob.

    v. Löwis:
    Herr Seiffert, Sie machten Karriere in der DDR als Jurist, erhielten 1977 den Vaterländischen Verdienstorden in Bronze und sagten 1978 der DDR ade und gingen als Professor nach Kiel. Da fragt sich jeder: Ging das mit rechten Dingen zu?

    Seiffert:
    Der Hauptgrund war für mich, dass Honecker aus der Präambel der Verfassung der DDR das Ziel der Wiedervereinigung streichen ließ. Und ich war ja für das Ziel der Wiedervereinigung in der Bundesrepublik nicht nur eingetreten, sondern habe auch in Kauf genommen, dass ich dafür ins Gefängnis gekommen bin. Ich betrachtete das als einen politischen Verrat und habe daraufhin die Gelegenheit genutzt, in die Bundesrepublik zu kommen.

    v. Löwis:
    Sie haben die DDR verlassen, sind Sie je in der Bundesrepublik wirklich angekommen? Einem Staat, in dem ja viele damals von Wiedervereinigung nichts wissen wollten.

    Seiffert:
    Ich war unangenehm berührt von der weit verbreiteten antinationalen Haltung vieler politischer Kräfte in der Bundesrepublik. Das hat mich aber nicht gehindert, meine Meinung zu vertreten und auch mit solchen Vertretern offen zu diskutieren und hatte mich eigentlich erst wieder neu politisiert, so dass ich nicht nur meine wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität in Kiel durchgeführt habe, sondern mich auch für das Ziel der Wiedervereinigung eingesetzt habe.

    v. Löwis:
    Und die DDR – war das, ist das eine Art Hass-Liebe? Am Ende Ihres Buches stimmen Sie ein Loblied auf die DDR an, Zitat: "Was von ihr auf Dauer bleibt, ist der 40 Jahre währende Versuch, es in Deutschland auf allen Gebieten grundlegend anders zu machen". War das "andere Deutschland" das bessere Deutschland, nur mit den falschen Leuten?

    Seiffert:
    Es war so, dass vieles, was in der DDR gemacht wurde, zum Ziel hatte, wirklich ein neues, ein anderes Deutschland zustande zu bringen. Aber meine These lautet eigentlich genauso genommen, es geht auch anders, aber nicht so. Das ist der Beweis, den die DDR erbracht hat. Wenn sie zum Beispiel an dem "Neuen ökonomischen System", das unter Ulbricht eingeführt wurde, festgehalten hätten, dann hätte die Möglichkeit bestanden, in einem Wiedervereinigungsprozess die DDR als politische und ökonomische Größe einzubringen, und dann hätte sie auf die Ausgestaltung der Wiedervereinigung in anderer Weise Einfluss nehmen können, als das dann tatsächlich geschehen ist. Unter Ulbricht wurde das System eingeführt, unter Honecker wurde es beseitigt, und das war ein irreparabler Fehler, der praktisch dazu beigetragen hat, dass die DDR ökonomisch nach unten ging. Und hinzu kam, dass sie das Ziel der Wiedervereinigung – wiederum unter Honecker – gestrichen hat. Manche, die mein Buch gelesen haben und früher in der Führung der DDR waren, sagen, das sei aber von Breschnew, also von Moskau aus verlangt worden. Das mag sein, aber welcher deutsche Politiker kann sich einem solchen Druck beugen und nachgeben und sagen, die Wiedervereinigung Deutschlands kommt nicht mehr in Frage. Ein solcher Separatismus ist antideutsch, und den musste man sich auch von den Sowjets nicht aufzwingen lassen.

    v. Löwis:
    Wolfgang Seiffert, das Fazit, am Ende einer Wanderung zwischen den Welten – Zitat: "Ich bin in jeder Hinsicht ein verdammter Deutscher geblieben". Was heißt das konkret im Klartext?

    Seiffert:
    Das heißt, dass bei aller Betonung, dass wir mit Russland, sagen wir mal so, wie es heute wieder heißt, mit Russland eigentlich eine Interessensgemeinschaft haben, und dass das für die deutschen Interessen wichtig und notwendig ist, bedeutet aber nicht, dass man seine eigene nationale Identität in Frage stellt, sondern ich bin ein Deutscher geblieben, aber habe auch erkannt, welche Chancen eine engere Zusammenarbeit mit Russland für Deutschland bedeuten kann.

    Wolfgang Seiffert: Selbstbestimmt. Ein Leben im Spannungsfeld von geteiltem Deutschland und russischer Politik. Ares Verlag, Graz 2006, 216 S., 19,90 Euro, ISBN 3-902475-20-X, ISBN 978-3-902475-20-6