Dienstag, 21. Mai 2024

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Heldentöchter

Die Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus ist in der Bundesrepublik und in der DDR erst spät und nur zögernd wahrgenommen worden, die Auswirkungen, die die Aktivitäten auf das Leben der Kinder von Widerständlern hatten, so gut wie gar nicht. In ihrem Buch "Heldentöchter" porträtiert Antje Dertinger zwölf Frauen, deren frühe Lebensjahre gekennzeichnet sind von der gleichen familiären Situation: der Vater, die Mutter oder auch beide haben aktiv Widerstand geleistet. Die Kindheit unterm Hakenkreuz sah für diese Kinder, die heute im Großmutteralter sind, anders aus als für die meisten ihrer Altersgenossen. Die Herkunft dieser Kinder war sehr unterschiedlich - was das soziale Milieu angeht und auch die Gesinnung der Eltern. Erwin Gehrts, der Vater von Dr. Barbara Gehrts, gehörte der Widerstands-Organisation an, die die Nazis "Rote Kapelle" nannten und als bolschewistischen Spionagering denunzierten. Erwin Gehrts war ein Konservativer, der seine Wurzeln im Protestantismus hatte, hochdekorierter Flieger im ersten Weltkrieg, Natur- und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete als Journalist, bis ihn die Nazis mit Berufsverbot belegten. Durch alte Beziehungen bekam er 1935 eine Stelle als Luftwaffenoberst im Reichsluftfahrtministerium, das von Göring geleitet wurde.

Ingrid von Saldern | 01.01.1980
    Durch einen Freund im Ministerium, Oberleutnant der Luftwaffe Harro Schulze-Boysen, kam Erwin Gehrts zur "Roten Kapelle". Seine Tochter Barbara war bei Kriegsbeginn 9 Jahre alt, 12 bei der Hinrichtung ihres Vaters. Sie und ihr 5 Jahre älterer Bruder waren sich des Doppellebens, das sie führten - nach außen normale Kinder der Nazi-Zeit, in deren Elternhaus offen gegen Hitler Stellung bezogen wurde - nur vage bewußt. Zur Gewißheit wurde es erst, als die Gestapo den Vater von zu Hause abholte. Barbara Gehrts erinnert sich: "Wir waren bei der HJ. Unser Vater hat uns nicht gezwungen, aber es war völlig selbstverständlich, daß wir gehen - das war 'ne Art von Mimikry, nehme ich an. Und es war ein Glück, daß wir in der HJ waren, denn meine Mutter bekam ja gesagt, als sie da vernommen wurde - sie wurde einbestellt in der Gestapo, nachdem mein Vater geholt worden war -, ob wir eben im nationalsozialistischen Sinne erzogen würden. Und das konnte sie, ohne zu lügen, wirklich nachweisen. Und dann kam ja als Erwiderung: sonst müßten wir dafür sorgen. Und von daher war das nachträglich 'ne Bestätigung, daß man da sehr schön weiter mitzumachen hat."

    Schon bald nach seiner Verhaftung wurde Erwin Gehrts hingerichtet. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin hat die Erlebnisse ihrer eigenen Jugend zu einem Jugendbuch ausgearbeitet, um dem Vergessen auch der Arbeit der Widerständler entgegenzuwirken. Sie ist trotz all des Schmerzes über seinen frühen Tod stolz darauf, daß ihr Vater auf der richtigen Seite stand - so wie alle in Antje Dertingers Buch vorgestellten Frauen, wenngleich die Aktivitäten des deutschen Widerstandes auch nach dem Krieg durchaus nicht immer und überall Anerkennung fanden.

    "Ich wohnte seinerzeit in Freiburg", erzählt sie, "in einem Haus eines Historiker, ein Ordinarius für Geschichte, in einer Studentenbude unterm Dach, und eines Tages ließ er mich herunterbitten. Und als Studentin hat man ja immer das Gefühl,wenn man da wohnt und sich gewisse Freiheiten nimmt, daß man in irgendeiner Form dann gesagt kriegt: so geht es hier bei mir nicht. Und ich seh ihn noch am Schreibtisch sitzen, ein älterer Herr, und seh die Lampe - er ließ mich Platz nehmen und eröffnete das Gespräch, aus dem gar kein Gespräch wurde, indem er mir sagte: ‘Ihr Vater war ja ein Spion und Landesverräter.’ Und ich war völlig fassungslos, ich habe nichts sagen können. Ich hab meinen Vater nicht mal verteidigt und hab mich hinterher geschämt, daß ich ihn nicht mal verteidigt habe."

    Als Kind hörte Konstanza Prinzessin zu Löwenstein von ihren Eltern, die Emigration sei die zweitbeste Lösung. Ehrenhafter wäre es gewesen, im KZ umgekommen zu sein. Ihr Vater Hubertus Prinz zu Löwenstein war Jurist. Bereits 1931 stand in dem Nazi-Blatt "Angriff" ein von Goebbeis unterzeichneter Hetzartikel gegen den Staatsrechtier und Publizisten, der 1933 mit seiner Frau in die USA emigrierte. Dank zahlreicher Kontakte bekam er an verschiedenen Hochschulen Lehrauftäge. Die beiden Töchter Elisabeth und Konstanza wurden in Amerika geboren. Konstanza Prinzessin zu Löwenstein ist die jüngste der in Antje Dertingers Buch portraitierten Frauen. Es ging der Familie vergleichsweise gut, litt sie doch nicht unter einer persönlichen Bedrohung durch das NS-Regime. Wohl aber an der Sehnsucht nach Deutschland, und die hat die Kinderjahre in Amerika geprägt. Als sie dann 1946 endlich ins Gelobte Land kamen - das war schon ein Schock: "Also, diese ewige Sehnsucht nach Deutschland, die Deutschen Heldensagen, die wir in Amerika hörten, das wunderschöne Deutschland, und dann kamen wir eben in Bremen an, und wir hatten die letzten Monate in New York gelebt, und da war Licht, und das war schön gewesen, und plötzlich standen wir in diesem zerbombten Bremen. Also, das hatte ich nicht erwartet, da hatten meine Eltern uns 'was anderes versprochen. Ich wurde eben manchmal beschimpft und als vollgefressene Ami-Sau bezeichnet. Da waren schon auch Brüche und Verletzungen, aber nach wie vor bin ich der Meinung, das wurde durch die Familie sehr gut aufgefangen. Die Trauer meiner Eltern habe ich gespürt, aber die enorme Geborgenheit durch meine Mutter, meinen Vater und meinen Onkel haben das alles erträglich gemacht."

    Eine Familie von Widerständlern, die keinen Toten zu beklagen hat, ist in dem Buch "Heldentöchter" die Ausnahme. Prinzessin Konstanza zu Löwenstein über das Projekt: "Dieses Buch ist für mich 'ne Offenbarung. Es relativiert natürlich die eigenen Dinge sehr. Wenn ich mir anschaue, welche Leben die anderen gehabt haben, dann kann ich immer nur sagen: meine Kindheit war wunderbar. Das Leben meiner Eltern war sicher schwieriger, als man es in diesem Buch lesen kann - es waren mehr Ängste, größere Nöte, aber ich glaube, manche der Väter und Mütter, die in dem Buch beschrieben sind, hatten weitaus schwierigere Leben und sind dann ja auch umgebracht worden. Als ich dann diese anderen Geschichten gelesen hab, saß ich im Flugzeug und hab geweint, denn die Vorstellung, wie anderen Kindern, Töchtern, es ergangen ist, was die Mütter, die Töchter erlebt haben, das ist - auch in der Form, in der es beschrieben ist - so, daß es traurig machte."

    Katharina Christiansen, die Tochter des Sozialdemokraten Julius Leber, war vier, als ihr Vater 1933 das erste Mal verhaftet wurde und für vier Jahre ins KZ kam, 15 als er hingerichtet wurde. Er hinterließ eine Frau und zwei Kinder. Die Verbindung zur Tochter, die sich selbst als "Vaterkind" bezeichnet, war von klein auf besonders innig. "Zu mir war er ganz entzückend, zu mir war er ganz süß", erinnert sich Christiansen. "Mmich hat er so gern gemocht. Zu meinem Bruder war er z. B. nicht so nett, den hat er nicht so gern gemocht. Ich sagte ja, ich bin das Vaterkind gewesen. Hat immer gesagt: schade, daß meine Tochter kein Sohn ist. Das wär doch toll." Daß so ein Vater zum Idealbild wird, an das andere Männer schwer heranreichen, verwundert nicht. Zwei Ehen hat Katharina Christiansen hinter sich, und beide sieht sie als "wahnsinnige Pleite" an: "Ich habe ganz nette Beziehungen hinterher gehabt, und ich glaube, daß ich einfach besser zurechtkomme mit einem nicht verheirateten Mann, der auch nicht gleich so mein Leben bestimmt, sondern der einfach da ist, wenn ich ihn brauche, und umgekehrt. Daß also nicht der Vater so allmächtig wird und er auch nicht so viel leisten muß, um diesen Vater aus dem Felde zu räumen."

    Dieser Vater, ein Bauernjunge aus dem Elsaß, war promovierter Nationalökonom, Chefredakteur des sozialdemokratisch orientierten "Lübecker Volksboten", SPD-Abgeordneter im Reichstag und sehr früh schon erklärter Gegner des Nationalsozialismus. Verhaftungen, Umzug nach Berlin, Kontakte zum Kreisauer Kreis und zu den Widerständiern des 20. Juli, die in Julius Leber den deutschen Innenminister sahen - in ihrem Deutschland, das nach Hitlers Ermordung entstehen sollte. Für die Familie bedeutete das Sippenhaft; Katharina und ihr jüngerer Bruder kamen in das Haus eines SS-Mannes, der das Mädchen vor dem KZ Ravensbrück bewahrte. Anfang 1945 wurde Julius Leber hingerichtet. Dennoch ist Katharina Christiansen, mit dem Buchtitel "Heldentöchter" nicht ganz einverstanden: "Ich hab ihn ja nie als Held empfunden. Er machte ja nur das, was unbedingt notwendig war. Er kam aus dem KZ und hatte erlebt, was da passiert war. Er konnte doch nicht einfach sagen, jetzt mach ich gar nichts oder geh vielleicht ins Elsaß mit meinen Kindern. Das hat er ja nicht gemacht, weil er das ja nicht mitansehen konnte, was da in Deutschland passiert ist, und darum möcht ich nicht sagen, daß er ein Held ist. Wenn er das nicht gemacht hätte, das hätte ich sehr gemein gefunden. Aber hinterher wurde er dann doch plötzlich der Held, und zwar erschaffen von meiner Mutter. Aber daß er ein Held ist, und daß er so hochstilisiert wurde, das tat mir weh. Denn das Schönste war an ihm, daß er so lebendig war, daß er so lebensnah war und daß alles so echt gewesen ist."

    Als würde ihr der Vater ein zweites Mal genommen - so empfand Katharina Christiansen die publizistische Arbeit, mit der ihre Mutter in den 50er und 60er Jahren Aufmerksamkeit und Erfolg erlangte. Sie selbst hat ein anderes Bild von diesem, wie sie sagt, schlitzohrigen, pragmatischen Mann, der ihr als Kind das Mogeln beibrachte, witzig und sehr menschlich, also keineswegs edelmütig und heldenhaft war. Erst vor kurzem hat sie selbst begonnen, nachzuforschen, wofür sie keine innere Sperre verantwortlich macht, sondern äußere Gründe: mußte sie doch für sich und ihre beiden Kinder mit journalistischer Arbeit Geld verdienen: "Ich hab mich irgendwann mal hingesetzt und ein bißchen nachrecherchiert. Es sind so viele Ungereimtheiten aufgetaucht, die meine Mutter auch verkehrt erzählt hat, die auch falsch in die Annalen der Geschichte eingegangen sind . Da fing ich an zu recherchieren, und dann kam mit einem Mal das Heulen doch über mich. Ich hab irgendwie herausbekommen, daß mein Großvater sich das Leben genommen hat wegen diesem Hitier, und dann hab ich recherchiert und dann hab ich so viel gefunden, was da noch gewesen ist, und dann ist mir gleich wieder der Atem gestockt."

    Die Nachforschungen und eine möglicherweise daraus entstehende Publikation plant sie für sich und ihre Familie. Wenn es überhaupt eine politische Motivation für ein solches Vorhaben gibt, bleibt diese im Hintergrund, denn sehr optimistisch ist Katharina Christiansen nicht: "Das haben ja andere versucht mit sehr viel Mühe, die Deutschen zu Demokraten zu erziehen; sie haben's ja nur teilweise geschafft, und ob ich's denn noch schaffe, das bleibt dahingestellt."

    Antje Dertinger zeigt mit ihrem Buch neue Aspekte der Geschichtsschreibung, nah an den Menschen, mit denen sie sich beschäftigt, und dennoch von allgemeiner Bedeutung. Ob Arbeiterkind oder Prinzessin, ob kommunistisch, sozialdemokratisch oder konservativ, protestantisch, katholisch oder atheistisch - die Eltern dieser Frauen lebten für Deutschland und verloren zumeist ihr Leben durch die Nationalsozialisten. Diese zwölf portraitierten Frauen werden dem Leser nahegebracht, und die historische Epoche bleibt nicht ein Stück abstrakter Zeitgeschichte, sondern wird in diesen Lebensgeschichten lebendig.