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Helga Hirsch: "Ich habe keine Schuhe nicht" - Geschichten von Menschen zwischen Oder und Weichsel

Mit einem Titel, der beim ersten halblauten Lesen merkwürdig, zumindest aber ungewöhnlich klingt, wollen wir beginnen. "Ich habe keine Schuhe nicht." Die Aussage ist zu verstehen. Der Sprachduktus aber lässt stutzen. Er klingt fremdartig, fast wie "rückübersetzt" ins Deutsche. Der Untertitel des schmalen Bandes verstärkt diese Vermutung: "Geschichten von Menschen zwischen Oder und Weichsel", so präzisiert die Autorin Helga Hirsch ihre Portrait-Sammlung von Menschen mit besonderen Schicksalen in außergewöhnlichen aber auch während sogenannter "normalen" Zeiten. "Normal" für andere...

Joanna Wiorkiewicz |
    In fast jedem Menschen lässt sich lesen wie in einem offenen Buch. Und über viele ließe sich ein Buch schreiben. Diese Feststellung ist banal, aber innerhalb bestimmter Generationen sorgt die Geschichte dafür, dass solch ein Buch dicker und spannender wird als zu anderen Zeiten. Helga Hirschs Buch "Ich habe keine Schuhe nicht", ist nicht besonders dick, obwohl sie darin von acht äußerst ungewöhnlichen Lebensgeschichten erzählt. Es ist ein Beweis für die ungewöhnliche Erzählkunst der Autorin, die sich trotz der Fülle des Stoffes um einen lapidaren Stil bemüht. "Geschichten von Menschen zwischen Oder und Weichsel" - wie der Untertitel präzisiert. Geschichten von Polen, die Deutsche sind, Juden, die Polen sind und Deutschen, die zeitweise Polen und zeitweise Deutsche sind. Die Polen sind nicht die echten Polen, die Juden dagegen sind echte Juden, und die Deutschen sind auch nicht echt, weil sie alle Strophen des Loreley-Liedes auswendig kennen. Wie Jerzy Hauptmann alias Krajewski, der sich heute, mit zweiundachtzig Jahren, als Amerikaner polnischer Herkunft ausgibt, obwohl er sich vor 50 Jahren noch als Pole deutscher Herkunft verstand.

    " Bei uns in Lodz", sagt er, als wäre er erst vor einigen Monaten ausgereist, "bei uns in Lodz war die Identität keine Frage der Abstammung, sondern des Gefühls. Deswegen kann ich den deutschen Namen Hauptmann tragen und dennoch ein Pole sein. Deswegen bin ich evangelisch-lutherisch und dennoch kein Deutscher. Und deswegen konnten mich meine Eltern, obwohl sie sich als Deutsche fühlten, 1920 auf den polnischen Vornamen Jerzy taufen, denn die nationale Zugehörigkeit hatte für sie keinen entscheidenden Stellenwert".

    Dieser Gedanke taucht wiederholt auch in den anderen Biographien des Bandes auf und beim Lesen bleibt hartnäckig der Eindruck, dass diese Erkenntnis für die Autorin selbst ziemlich verwunderlich klingt. Helga Hirsch untersucht in ihrem Buch das nationale Selbstbewusstsein acht ausgewählter Zeitzeugen zwischen Weichsel und Oder, in der Zeitspanne um und nach dem Zweiten Weltkrieg. Es sind ausnahmlos Zeugen der Geschichte, die buchstäblich im Wortsinn von ihrer Umgebung als Grenzgänger betrachtet und im Gleichklang mit den wechselnden politischen Umständen auch entsprechend behandelt worden waren. Hirsch katalogisiert Wunden und Verletzungen, bittere Enttäuschungen und dramatische Schicksalsschläge, die ihre Helden von allen Seiten erlitten haben und versucht nachzuvollziehen, wo die jeweiligen Schmerzgrenzen dieser Menschen liegen.

    "Erst kam der Antrag: fünf Einwohner der polnischen Stadt Turek schlugen vor, dem ehemaligen Mitbürger Teodor Sygmunt Müller aus Anlass der 650-Jahr-Feier der Stadt die Ehrenbürgerschaft zu verleihen. Dann kam die Ablehnung: nach heftigen Protesten einiger Einwohner stimmten elf Stadträte gegen den Antrag, sechs enthielten sich, niemand stimmte dafür. Seitdem dauert die Diskussion:"Wenn bestimmte Kreise seit 1991 versuchen, aus Teodor Müller einen Helden des antifaschistischen Untergrunds zu machen", so der Tureker Bürger Jan Wesolowski, "dann frage ich: Wer sind angesichts dessen jene Tureker, deren Gebeine bei der alten Kirche ruhen? War es doch ebenjenes Hitler-Regime, an dem sich Teodor Müller in Turek aktiv beteiligt hat, das sie ermordete!" Wer also war Teodor Sygmunt Müller? Ein Deutscher, oder Pole? Ein polnischer Patriot oder ein Kollaborateur der Deutschen? Ein Schindler, der Polen schützte, oder ein deutscher Agent, der sie der Besatzungsmacht auslieferte?

    Ich bin nicht ganz sicher, ob die Autorin die Zäsur bei Kriegsausbruch deutlich genug erkannt hat. Das Schicksal, das mit Teodor Zygmunt Müller wie mit einem biblischen Hiob gespielt hat, schlug nicht wie der Blitz aus heiterem Himmel ein. Es wurde geraume Zeit vorher auf Erden vorbereitet. Die nationale Zugehörigkeit ist zweifellos auch eine Frage des Glaubens. Und der Glaube verlangt nicht selten nach Prüfungen. Der immer freundliche, hilfsbereite junge Ingenieur Teodor Müller, der aus Loyalität am Vorabend des Krieges sogar sein Auto beim örtlichen polnischen Polizeikommandanten für militärische Zwecke ablieferte, wurde von selben Polizeioffizier nur einen Tag später als mutmaßlicher deutscher Kollaborateur verhaftet. So begannen die Schrecken des Krieges für ihn und nicht weniger schrecklich ging es für Müller bis zum Kriegsende weiter. Sogar Müllers Teilnahme an Aktionen der polnischen Untergrundarmee während des Krieges konnten sein Los nicht mildern:

    "Zum dritten Mal saß Teodor in derselben Zelle - nachdem er erst Gefangener der Polen und dann der Deutschen gewesen war, nun als Gefangener der Sowjets. Hatten ihn die Polen der Zusammenarbeit mit den Deutschen und die Deutschen der Zusammenarbeit mit den Polen verdächtigt, so beschuldigten ihn die Sowjets zur Abwechslung nicht des Landesverrates, sonder der Kollaboration mit dem Klassenfeind - dem "widerlichen Zwerg der Reaktion" der Heimatarmee"

    Enteignet, durch die Gefängnisse und Lager gezerrt, musste Teodor Müller noch viele Jahre nach dem Krieg um seine vollständige Rehabilitierung bangen.

    "1957 stellte Teodor Müller seinen ersten Ausreiseantrag. Das Leben in dem Land, das sich seiner Zuneigung so verweigert hatte, erschien ihm nicht mehr lebenswert. Doch er musste 18 Jahre warten. Erst am 20.März 1975 konnte er mit seiner Familie Polen verlassen. Da war er sechsundsechzig Jahre alt und bereits seit achtzehn Jahre Invalide."

    Die Geschichten, die Helga Hirsch erzählt, zeigen, wie undankbar, wie grausam eine Heimat zu ihren Söhnen sein kann. In diesem Falle, um es genauer zu sagen - die polnische Heimat. In der Tat. Ähnliches können unzählige andere - aufgeschriebene und noch nicht aufgeschriebene -Lebensgeschichten bestätigen. Undankbarkeit - sie ist womöglich ohnehin eine Grundeigenschaft der meisten Heimatländer, zumal in Zeiten, in denen sich die Mühlsteine der Geschichte ganz besonders heftig drehen. Dann opfern Heimatländer menschliche Schicksale nicht selten nach Millionen gezählt. Die Gruppe der geborenen Grenzgänger aber trifft es dabei sowieso immer und überall als erste. In Polen war dies vielleicht noch häufiger zu regiestrieren, da Polen, anders als Deutschland, vom Beginn seiner Eigenstaatlichkeit vom Mittelalter an bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs tatsächlich multinational zusammengesetzt war. Das Buch von Helga Hirsch könnte unendlich fortgesetzt werden, in immer neuen Geschichten, die in der Quitessenz aber immer wieder auch dasselbe erzählen würden - erstens: dass wir stets fast hilflos dem Kollektiv-Wahn ausgeliefert sind. Und zweitens: dass diejenigen, die den vorgegebenen Rahmen zu sprengen versuchen, in erster Linie vor allem sich selbst gefährden. Sogar heute noch, im sich zögernd vereinenden Europa sind gerade die geborenen"Grenzgänger" weiterhin eine ganz eigene, eine eher unbeliebte Spezies. Doch die hier präsentierten Geschichten geben Mut für den Alltag und zeigen, dass Vertrauen dem Fremden gegenüber ein Gut ist, das schon in frühester Kindheit gesät und ein ganzes Leben lang intensiv praktiziert werden sollte. Das sind sicherlich simple Wahrheiten. Aber sie waren und sie bleiben eben Wahrheiten - und zwar nicht nur für Polen. Wie von Helga Hirsch im übrigen an vielen Stellen in leider etwas oberlehrehaftem Ton formuliert wird. Deswegen am Ende lieber eine Schlussfolgerung der Autorin aus dem Vorwort ihres Buches:

    "Es ist illusorisch, von einem schnellen Absterben des Nationalstaates auszugehen, und es wäre illusorisch und fahrlässig zugleich, wenn wir das "Gleichsein mit den anderen" nicht als tief verankerten Wunsch des Individuums nach Zugehörigkeit respektieren. Gleichzeitig aber wird die Zahl der Grenzgänger zunehmen, die verwurzelt in ihrer Herkunftsgruppe, nach Neuem, Bereicherndem, nach besseren Lebensbedinungen und sozialem Aufstieg im Fremden streben. Denn je sicherer wir uns fühlen, desto bereitwilliger öffnen wir uns dem Unbekannten."

    Helga Hirsch: "Ich habe keine Schuhe nicht - Geschichten von Menschen zwischen Oder und Weichsel" ist erschienen im Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg, hat 195 Seiten - und kostet 17,90 Euro.