Freitag, 29. März 2024

Archiv

Helmut Krausser
Lesereisen durch Deutschland

In seinem Buch berichtet Helmut Krausser von vier Lesereisen quer durch Deutschland und bezieht sich außerdem auf seine Poetikvorlesung "Pathos und Präzision". Für den Rezensenten Jochen Schimmang ist das Hauptmovens von Kraussers Reisenotizen: Ressentiment.

Von Jochen Schimmang | 28.07.2014
    Mehrere Bücher liegen auf drei Stapeln nebeneinander.
    Die Reisenotizen von Helmut Krausser berichten von Reisen durch Deutschland in den Jahren 2006, 2008, 2010 und 2012. (picture-alliance / dpa / Romain Fellens)
    Ein Blurb ist ein bestelltes Lob eines bekannten Autors auf das neue Buch eines anderen, das man dann auf die Umschlagseite vier druckt. Werbesprüche sind natürlich wirksamer, wenn sie nicht von der PR-Abteilung des Verlages, sondern von einem anerkannten Autor stammen, der das Buch nicht unbedingt gelesen haben muss. Helmut Krausser erzählt in seinem neuen Buch "Deutschlandreisen" an einer Stelle, wie er selbst von einem Verlag um einen solchen Blurb gebeten wurde, das aber abgelehnt hat, nachdem er einen gründlichen Blick in das Manuskript geworfen hatte. Das ehrt ihn.
    Auf dem Buchrücken von Kraussers neuem Buch findet sich ein Loblied von Daniel Kehlmann. Diese Tagebücher, heißt es da, werde man lesen, solange Menschen sich für deutsche Literatur interessieren. Mit Verlaub und bei allem Respekt vor Kehlmann: Das glaube ich eher nicht. Schon heute nämlich ist die Lektüre dieses Buches streckenweise schwer erträglich. Das hat einen präzisen Grund. Geschrieben sind diese Notizen weitgehend aus dem Geist des Ressentiments.
    Formal sind Kraussers neue Tagebücher ein Zwitter. Sie berichten einerseits von vier Lesereisen quer durch Deutschland in den Jahren 2006, 2008, 2010 und 2012. Zum anderen enthalten sie in drei Teilen die Poetikvorlesung "Pathos und Präzision", die Krausser im November und Dezember 2007 an der Ludwig-Maximilians-Universität München gehalten hat, übrigens für ein entschieden zu geringes Honorar, wie er selbst in der Vorlesung betont, was man ihm ohne Weiteres glauben darf.
    Kraussers Poetikvorlesung
    In dieser Poetikvorlesung, so könnte man es formulieren, gibt er sich Mühe. Er versucht, das Pathos vom Schwulst zu scheiden, er versucht, auf die Geschichte und Funktion des Pathos einzugehen, er berichtet aus der Werkstatt und von seinen Lektüreerfahrungen - was man halt in Poetikvorlesungen so tut. Wir kennen das auch von anderen Autoren und Autorinnen, und meistens gibt das dann eine hübsche kleine Monographie, wo man alles nochmal nachlesen kann. Krausser bemüht sich auch, den Studenten die Mechanismen des Literaturbetriebs zu erklären, was für Angehörige des Betriebs langweilig, für die aber, die erst dort hinein wollen, ganz interessant sein mag. Dass etwa der Deutsche Buchpreis ein Glücksspiel ist und die Literaturkritik "ein anarchisch-narzisstischer Betrieb, der bedingungslosen Wert auf Narrenfreiheit legt", dem mag man durchaus zustimmen. Dass nur der Autor Wesentliches über seinen Text zu sagen habe und alle anderen Parasiten seien, halte ich eher für eine gewagte These, aber man kann sie ja diskutieren. Und schließlich findet sich in dieser Poetikvorlesung auch die Poetologie dargelegt, gemäß der Krausser seine Tagebücher schreibt:
    "Ich weiß über mich selbst gut Bescheid, und mein Selbstvermarktungsschema beinhaltet derlei Selbstentblößungen, die ich für notwendig halte, weil sie von zu vielen Kollegen der Welt vorenthalten werden. Künstlern vorzuwerfen, sie würden zu weit gehen, ist ähnlich sinnvoll, wie Bäume als zu standortverliebt zu verurteilen."
    Helmut Krausser ist ja ein glühender Vertreter der Kunstreligion, und der Künstler hat im Gegensatz zu anderen Menschen das Recht, sein Hemd aufzureißen und Brust und Herz zu entblößen. Und das heißt auch, auf die anderen zu schimpfen, die ihm nicht das Wasser reichen können, aber dennoch vom Betrieb verhätschelt werden. Das geht gleich auf der ersten Seite des Buches los:
    "München. Diese überzuckerte Stadt (...) Im Flieger sitzen, neben vielen anderen, der Schauspieler Herbert Knaup und die Literaturpreisempfängerin Herta Müller."
    Das ist notiert im Jahr 2006, da hatte Herta Müller noch nicht einmal den Nobelpreis bekommen. Für den bekommt sie später in diesem Tagebuch noch einmal extra ihr Fett weg. Nun ist gar nicht zu bestreiten, dass man Herta Müller im deutschen Literaturbetrieb mit allen möglichen Preisen überschüttet hat, den Büchnerpreis ausgenommen. Man kann sich auch über die Auswahllogik bei Literaturpreisen ärgern, die gemeinhin der Regel folgt, dass der Teufel immer auf den größten Haufen scheißt. Und man kann selbstverständlich über die literarische Qualität der Ausgewählten diskutieren. Das sollte man dann aber auch tun. Wer dagegen im Ressentiment verharrt, kann das gern in sein Tagebuch schreiben, sollte es aber dann nicht veröffentlichen.
    Literaturpreis
    Ressentiment jedoch ist das Hauptmovens von Kraussers Reisenotizen. So kann er sich kaum erklären, warum er 2010 einen bestimmten Literaturpreis nicht erhält, auf dessen Shortlist er steht, denn die Bücher seiner Konkurrenten sind nach seiner Einschätzung doch "eher subkanonisch". Es handelt sich um den Preis der Literatour Nord, auch wenn Krausser das nicht benennt, für den Autoren innerhalb einer Woche eine Lesereise durch sechs verschiedene Städte machen müssen. Also kann es nur daran liegen, dass er sich bei der abschließenden Lesung mit dem Hannoveraner Professor nicht verstanden hat, der der Juryvorsitzende ist. Dass dieser Professor alle Autoren so behandelt, auch die subkanonischen, das kann Krausser sich nicht vorstellen.
    So geht das dann durchs ganze Buch und alle Städte und Städtchen. Manchmal, wenn Krausser von sich absieht und anderswohin guckt, stellt man überrascht fest, dass dieser Autor auch der Empathie fähig ist, und manchmal gelingen ihm erstaunlich zarte Szenen. Die schönste findet sich kurz vor Ende des Buches, wenn er den Text von Abbas Megahit "Dancing Queen" in ein sehr sensibles und trauriges Bild übersetzt. Aber das geschieht auf Seite 291, und ich bezweifle, dass sich sehr viele Leser bis dorthin vorkämpfen werden.
    Helmut Krausser: "Deutschlandreisen", DuMont Verlag, Köln 2014, 299 Seiten, 15,99 Euro.