Das erste Ensemblestück, "Mouvement (- vor der Erstarrung)" ist zwischen 1982 und 1984 im Auftrag des Ensemble InterContemporain entstanden und von diesem 1984 unter Péter Eötvös auch uraufgeführt worden. Am Tag danach hat das Ensemble Modern das Stück in einem Konzert des Deutschlandfunk zur Deutschen Erstaufführung gebracht. Seitdem ist es vom Ensemble Modern unter verschiedenen Dirigenten wie Eötvös, Ingo Metzmacher und Lothar Zagrosek vielfach gespielt und unter Eötvös in einer Studioproduktion auf einer Harmonia Mundi-Platte veröffentlicht worden. Und inzwischen ist es zu einem Schlüsselwerk der Literatur für Ensembles der neuen Musik geworden. So wird es wohl auch von dem Ensemble Klangforum Wien und der jungen Wiener Schallplattenfirma Kairos Production gesehen. Mit einigen Stücken, wie diesem und mit dem Trio Allegro sostenuto ist Lachenmann wirklich zu einem Klassiker der Musik der achtziger Jahre geworden, wenn auch keineswegs ein "Geheiligter" wie das der ehemalige Ferneyhough-Schüler und Komplexist Claus-Steffen Mahnkopf kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein weiteres Mal polemisch behauptet hat. * Musikbeispiel: Helmut Lachenmann - aus: Mouvement (- vor der Erstarrung) Diese Schlüsselstelle des Stücks, an der der Komponist dem Instrumentalklang ein heterogenes Element hinzufügt und damit gegenüberstellt, den zeitlich und dynamisch genau regulierbaren Klang von Klingeln, klingt heute vergleichsweise brav und integriert, ganz gleich, ob man die älteren Aufnahmen von 1985 oder die vorliegende neue mit dem Klangforum Wien hört. Beide sind unter den Augen und Ohren des Komponisten entstanden. Heute kann man sich gelegentlich auch andere Interpretationen des Stücks wünschen.
Das zweite Ensemblestück der Kompaktplatte, "... zwei Gefühle ...", Musik mit Leonardo für zwei Sprecher und Ensemble, ist 1992 entstanden als eine Art Vorstudie zu dem Musiktheaterprojekt "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern", in dessen erster Fassung das Stück auch implementiert ist, und wurde vom Ensemble Modern in einem Konzert der Alten Oper Frankfurt uraufgeführt. Das Klangforum Wien hat es 1995 zum ersten Mal auf einer digitalen Kompaktplatte der französischen Firma MPO auf dem Accord-Label veröffentlicht und zwar mit dem gleichen Dirigenten Hans Zender und wiederum mit dem Komponisten in beiden Sprecherrollen von Texten Leonardo da Vincis, den "quasi sich ergänzenden Bewußtseins-Hälften eines imaginären Wanderers und still staunenden Lesers", wie das Lachenmann in seiner kleinen Einführung beschrieben hat. Die Sprecherpartien scheinen im Playback-Verfahren nachträglich hinzugefügt zu sein; an manchen Stellen klingen sie auch wie aus einem anderen Raum oder gar aus einem Nicht-Raum kommend. * Musikbeispiel: Helmut Lachenmann - aus: "... zwei Gefühle ..." Vergleicht man die Sprachbehandlung in diesem Stück und in dieser wie der älteren Aufnahme vom Komponisten dadurch autorisiert, daß er die Sprecherstimmen selbst realisiert hat, mit der der beiden Kompositionen "Consolation" I und II von 1967 und 1968 auf Texte aus "Masse Mensch" von Ernst Toller und aus dem Wessobrunner Gebet, so fällt auf, daß hier die Texte wesentlich weiter in ihre Silben und Buchstaben aufgelöst sind, also semantisch weitgehend unverständlich bleiben. Interpretiert werden diese Stücke von der Schola Heidelberg unter Walter Nußbaum; bei "Consolation I" zusammen mit dem Schlagzeug-"ensemble aisthesis". * Musikbeispiel: Helmut Lachenmann - aus: Consolation I Consolation I und II waren in Lachenmanns Werkliste für mehr als zwanzig Jahre die letzten beiden Stücke, denen ein Text zugrundelag, die zwei sozusagen existentiellen Texte "Mensch, das bist Du / Erkenn Dich doch / Das bist Du" und "Da noch nirgends nichts war an Enden und Wenden / Da war der eine allmächtige Gott". Es schien zunächst so, als ob diese Stücke zum letzten Mal Lachenmanns Herkunft aus einem protestantischen Pfarrhaus, aus einem christlich geprägten Hintergrund, aus der Situation der Endsechziger Jahre ausleuchtet. Erst die "... zwei Gefühle ..." von 1992 und dann das Musiktheaterstück "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" von 1997 zeigen, daß dieser Zusammenhang, wenn auch in weiter getriebener Form, auch über die Phase der klangenergetischen Stücke einer instrumentalen "musique conrète" hinweg, existent ist.
Nun, diese bei der jungen Plattenfirma Kairos in Wien kürzlich erschienene Lachenmann-Platte vor allem mit dem Klangforum Wien unter Hans Zender und mit der Schola Heidelberg und dem ensemble aisthesis unter Walter Nußbaum macht vier größer besetzte Instrumental- und Vokal-Ensemble-Arbeiten von Lachenmann zugänglich oder doch wieder zugänglich nahezu ohne Vermittlungen zu leichter zugänglichen Ebenen - nicht einmal die beiden Textfragmente von Leonardo stehen im Plattenbüchel, das sich im übrigen nur an die offiziellen gereinigten Einführungstexte des Komponisten hält und dabei weder die Auftraggeber der Stücke, noch die Uraufführungsdaten nennt. Ob das aber nicht doch letztlich kontraproduktiv ist, die Platte mit einer derart strengen Porträtfotographie zu schmücken, wie dem von Philippe Gontier, das darf doch bezweifelt werden. Stilisierung ist offenbar angesagt. Das Kairos-Label, dessen Initiator, Peter Oswald, lange Zeit der Manager des Klangforum Wien war, kann es sich offenbar leisten, ganz im Sinne des Meisters auf jeden Querfeldeinkontakt zu verzichten. Gut so! * Musikbeispiel: Helmut Lachenmann - aus: Consolation II