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Helmut Lachenmann - MOUVEMENT...ZWEI GEFÜHLE...CONSOLATION I. CONSOLATION II

* Musikbeispiel: Helmut Lachenmann - aus: Mouvement (- vor der Erstarrung) Wenn eine Schallplattenfirma eine ihrer Platten einem Komponisten der neuen Musik widmet, kann das auf sehr unterschiedliche Weise und mit sehr unterschiedlichen Absichten geschehen, zum Beispiel um einen Komponisten bekannt zu machen, um mit einem bereits bekannten oder gar berühmten Komponisten sich in einem mehr oder weniger umkämpften Markt zu positionieren oder auch um einen nicht einfachen Komponisten einer breiteren Schar von Kennern und Liebhabern neuer Musik zu vermitteln. Fast jeder Komponist auch noch so schwieriger serieller, postserieller, komplexer oder gar "komplexistischer" Musik ist nicht als Komponist besonders schwieriger Musik vom Himmel gefallen. Manche arbeiten neben ihren Stücken für den Konzertsaal aus Passion oder um zu überleben für die Bühne, den Film, das Hörspiel oder das Tanztheater und die meisten wenden sich nach einer Phase zunehmender Souveränität ihrer Handschrift später auch wieder einfacheren und nachvollziehbareren Strukturierungen zu, wenn auch mit einem veränderten Zugriff. Helmut Lachenmann hat einmal Anfang der siebziger Jahre von den Querfeldeinkontakten der Komponisten gesprochen und damit allzu einfache und gängige Wege zu den Hörern gegeißelt. Produktive Kontakte der verschiedensten Art, aus denen kompositorische Arbeiten hervorgehen, aber erlebt fast jeder Komponist im Laufe seines Lebens. Bei Lachenmann selbst wäre darum ein ihm gewidmetes Konzertprogramm oder eine Stückfolge auf einer Platte, die wirklich Aufschluß vermittelt, etwa mit Hilfe seiner Klaviermusik - Lachenmann ist selbst ein guter Klavierspieler - von frühen Schubert-Variationen über die ersten Klang- und Nachklangstücke wie "Echo andante" und "Wiegenmusik" bis zur "Studie" von 1980 mit dem Titel "Guero", der andeutet, das das Stück mit ein, zwei Fingern auf der Tastatur entlanggleitend wie das Schlagzeuginstrument Guero gespielt wird. Im Zentrum seiner Komposition "Klangschatten - mein Saitenspiel" von 1972 spielen drei Flügel eine Hauptrolle. Die sieben kleinen Stücke für Klavier "Ein Kinderspiel" von 1982 geben blitzartige Zugänge zu Konstellationen früherer Klaviermusik und einen Eindruck von Lachenmanns skurrilem Humor. Und "Ausklang" für Klavier und Orchester erscheint als ein in Grenzen abgeklärtes Klavierkonzert, das nahezu alle Funde noch einmal aufgreift und in höchster Souveränität handhabt, so daß man meint, das alles schon einmal - bei Lachenmann natürlich - gehört zu haben.

Reinhard Oehlschlägel |
    Ein anderer einleuchtender Weg könnte über das Schlagzeug gegangen werden, ohne daß ich das hier ausführen kann. Die vorliegende digitale Kompaktplatte, aus der das kleine Beispiel zu Beginn stammt, geht einen ganz anderen Weg. Sie vereint vier Arbeiten von Lachenmann, zwei jeweils über zwanzigminütige Ensemblestücke aus der Zeit zwischen 1982 und 1992 und zwei kleinere Vokalensemblestücke mit und ohne Schlagzeug von 1967 und 1968 auf Texte von Ernst Toller und eine neuhochdeutsche Fassung des Wessobrunner Gebets mit dem Titel "Consolation": Tröstung. Hier wird kein Zugang gängiger Herkunft zur Musik Lachenmanns gesucht, sondern doch wohl etwas anderes. Nur was?

    Das erste Ensemblestück, "Mouvement (- vor der Erstarrung)" ist zwischen 1982 und 1984 im Auftrag des Ensemble InterContemporain entstanden und von diesem 1984 unter Péter Eötvös auch uraufgeführt worden. Am Tag danach hat das Ensemble Modern das Stück in einem Konzert des Deutschlandfunk zur Deutschen Erstaufführung gebracht. Seitdem ist es vom Ensemble Modern unter verschiedenen Dirigenten wie Eötvös, Ingo Metzmacher und Lothar Zagrosek vielfach gespielt und unter Eötvös in einer Studioproduktion auf einer Harmonia Mundi-Platte veröffentlicht worden. Und inzwischen ist es zu einem Schlüsselwerk der Literatur für Ensembles der neuen Musik geworden. So wird es wohl auch von dem Ensemble Klangforum Wien und der jungen Wiener Schallplattenfirma Kairos Production gesehen. Mit einigen Stücken, wie diesem und mit dem Trio Allegro sostenuto ist Lachenmann wirklich zu einem Klassiker der Musik der achtziger Jahre geworden, wenn auch keineswegs ein "Geheiligter" wie das der ehemalige Ferneyhough-Schüler und Komplexist Claus-Steffen Mahnkopf kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein weiteres Mal polemisch behauptet hat. * Musikbeispiel: Helmut Lachenmann - aus: Mouvement (- vor der Erstarrung) Diese Schlüsselstelle des Stücks, an der der Komponist dem Instrumentalklang ein heterogenes Element hinzufügt und damit gegenüberstellt, den zeitlich und dynamisch genau regulierbaren Klang von Klingeln, klingt heute vergleichsweise brav und integriert, ganz gleich, ob man die älteren Aufnahmen von 1985 oder die vorliegende neue mit dem Klangforum Wien hört. Beide sind unter den Augen und Ohren des Komponisten entstanden. Heute kann man sich gelegentlich auch andere Interpretationen des Stücks wünschen.

    Das zweite Ensemblestück der Kompaktplatte, "... zwei Gefühle ...", Musik mit Leonardo für zwei Sprecher und Ensemble, ist 1992 entstanden als eine Art Vorstudie zu dem Musiktheaterprojekt "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern", in dessen erster Fassung das Stück auch implementiert ist, und wurde vom Ensemble Modern in einem Konzert der Alten Oper Frankfurt uraufgeführt. Das Klangforum Wien hat es 1995 zum ersten Mal auf einer digitalen Kompaktplatte der französischen Firma MPO auf dem Accord-Label veröffentlicht und zwar mit dem gleichen Dirigenten Hans Zender und wiederum mit dem Komponisten in beiden Sprecherrollen von Texten Leonardo da Vincis, den "quasi sich ergänzenden Bewußtseins-Hälften eines imaginären Wanderers und still staunenden Lesers", wie das Lachenmann in seiner kleinen Einführung beschrieben hat. Die Sprecherpartien scheinen im Playback-Verfahren nachträglich hinzugefügt zu sein; an manchen Stellen klingen sie auch wie aus einem anderen Raum oder gar aus einem Nicht-Raum kommend. * Musikbeispiel: Helmut Lachenmann - aus: "... zwei Gefühle ..." Vergleicht man die Sprachbehandlung in diesem Stück und in dieser wie der älteren Aufnahme vom Komponisten dadurch autorisiert, daß er die Sprecherstimmen selbst realisiert hat, mit der der beiden Kompositionen "Consolation" I und II von 1967 und 1968 auf Texte aus "Masse Mensch" von Ernst Toller und aus dem Wessobrunner Gebet, so fällt auf, daß hier die Texte wesentlich weiter in ihre Silben und Buchstaben aufgelöst sind, also semantisch weitgehend unverständlich bleiben. Interpretiert werden diese Stücke von der Schola Heidelberg unter Walter Nußbaum; bei "Consolation I" zusammen mit dem Schlagzeug-"ensemble aisthesis". * Musikbeispiel: Helmut Lachenmann - aus: Consolation I Consolation I und II waren in Lachenmanns Werkliste für mehr als zwanzig Jahre die letzten beiden Stücke, denen ein Text zugrundelag, die zwei sozusagen existentiellen Texte "Mensch, das bist Du / Erkenn Dich doch / Das bist Du" und "Da noch nirgends nichts war an Enden und Wenden / Da war der eine allmächtige Gott". Es schien zunächst so, als ob diese Stücke zum letzten Mal Lachenmanns Herkunft aus einem protestantischen Pfarrhaus, aus einem christlich geprägten Hintergrund, aus der Situation der Endsechziger Jahre ausleuchtet. Erst die "... zwei Gefühle ..." von 1992 und dann das Musiktheaterstück "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" von 1997 zeigen, daß dieser Zusammenhang, wenn auch in weiter getriebener Form, auch über die Phase der klangenergetischen Stücke einer instrumentalen "musique conrète" hinweg, existent ist.

    Nun, diese bei der jungen Plattenfirma Kairos in Wien kürzlich erschienene Lachenmann-Platte vor allem mit dem Klangforum Wien unter Hans Zender und mit der Schola Heidelberg und dem ensemble aisthesis unter Walter Nußbaum macht vier größer besetzte Instrumental- und Vokal-Ensemble-Arbeiten von Lachenmann zugänglich oder doch wieder zugänglich nahezu ohne Vermittlungen zu leichter zugänglichen Ebenen - nicht einmal die beiden Textfragmente von Leonardo stehen im Plattenbüchel, das sich im übrigen nur an die offiziellen gereinigten Einführungstexte des Komponisten hält und dabei weder die Auftraggeber der Stücke, noch die Uraufführungsdaten nennt. Ob das aber nicht doch letztlich kontraproduktiv ist, die Platte mit einer derart strengen Porträtfotographie zu schmücken, wie dem von Philippe Gontier, das darf doch bezweifelt werden. Stilisierung ist offenbar angesagt. Das Kairos-Label, dessen Initiator, Peter Oswald, lange Zeit der Manager des Klangforum Wien war, kann es sich offenbar leisten, ganz im Sinne des Meisters auf jeden Querfeldeinkontakt zu verzichten. Gut so! * Musikbeispiel: Helmut Lachenmann - aus: Consolation II