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Helmut Walser Smith: Die Geschichte des Schlachters

Von Mord und Antisemitismus handelt ein weiteres Buch, das ich Ihnen heute vorstellen möchte. Diesmal spielt die Geschichte in einer deutschen Kleinstadt, genauer in Konitz, im damaligen Westpreußen, im Jahr 1900. Der grausame Mord am 18-jährigen Gymnasiasten Ernst Winter versetzte die nichtjüdische deutsche Bevölkerung der Gegend, 30 Jahre, bevor der Nationalsozialismus an die Macht gelangte, in einen Rausch, in dem sich Vernichtungswünsche Bahn zu brechen versuchten. Der US-amerikanische Historiker Helmut Walser Smith hat in einer sozial- und kulturgeschichtlichen Studie die Geschichte dieses Mordes und dessen an Ressentiments gescheiterten Aufklärung untersucht.

Khosrow Nosratian |
    Am Sonntagabend, dem 11. März 1900, ereignete sich in Konitz, einer Kleinstadt in Westpreußen, das heute zu Polen gehört, ein Mord. Zunächst hatte niemand die Tat bemerkt. Doch dann wurde der 18-jährige Gymnasiast Ernst Winter vermisst. Zwei Tage später wurden Körperteile des Ermordeten entdeckt. Sie waren mit einer Säge abgetrennt, mit einem Messer aufgeschlitzt und anschließend in Packpapier verschnürt und an verschiedenen Orten in der Stadt deponiert worden, hier der obere Torso, da der linke Arm, dort der Kopf. Die näheren Umstände des Mordes versetzten die Stadt in Unruhe, ebenso aber auch der anschwellende Lärm judenfeindlicher Beschuldigungen. Ein unüberhörbarer Chor von Stimmen klagte die Konitzer Juden an, sie hätten diesen Mord begangen.

    Helmut Walser Smith hat anhand des Mordfalles eine profunde Studie zum Antisemitismus im wilhelminischen Deutschland geliefert. Sein Buch "Die Geschichte des Schlachters" untersucht die frühen Wegweiser zur kommenden Vernichtung von Millionen Menschen in einem lokalgeschichtlichen Brennspiegel. Die umfassende Rekonstruktion stellt den Prozess dar, in dem eine christliche Kleinstadt das friedliche Nebeneinander gewachsener Nachbarschaften zerstörte. Zunächst liest sich der Text wie ein spannender Kriminalroman. Doch die interdisziplinär angelegte Mikrogeschichte brilliert durch den überlegten Einsatz kulturwissenschaftlicher Lehrstücke aus Anthropologie, Psychologie und Linguistik. Darin verrät sich ein ausgeprägtes Interesse an Ordnungsfiguren und Modellanalysen. Es erlaubt dem Autor, die Chronik der Ereignisse zum Muster des modernen Antisemitismus zu verdichten.

    Die Verbindung von enzyklopädischem Reichtum und typologischem Zugriff charakterisiert diese Untersuchung. Die verschachtelte Komposition wächst sich zu einem Gesamtbild der europäischen Judenverfolgung aus. Das Spurenlesen kreuz und quer dient der Suche nach einem "einheimischen Wissen", von dem der Autor sogleich einräumt, dass es hypothetisch bleiben wird.

    Von jener Welt durch die Geschichte und eine andere Perspektive getrennt, bleiben wir auf die Unbestimmtheit der Interpretation verpflichtet. Doch wenn man alle diese verschiedenen Geschichten wie die Teile eines Puzzles zusammenfügt, ergibt sich eine Allegorie auf die Gemeinschaft und die Grenzlinien, die von Menschen zwischen sich und ihren Nachbarn gezogen werden.

    Was geschah im beschaulichen Konitz der Jahrhundertwende wirklich? Nach dem Verbrechen brodelte die Gerüchteküche. Das Stadtgespräch verband vage Beobachtungen, leichtfertige Verdächtigungen und gezielte Verleumdungen zu einer unheilvollen Mixtur. Die Legende vom "jüdischen Ritualmord" bildete den ideologischen Kern der antisemitischen Vorurteile. Rasch beherrschte diese Legende das Meinungsbild der Menge. Man erzählte sich Geschichten, in denen der Weg von der Vermutung zur Behauptung, von der Vorstellung zur Gewissheit immer kürzer wurde. Die Erkundung jenes "einheimischen Wissens", die der Autor wie ein sorgsamer Archivar des zeitgenössischen Bewusstseins betreibt, zeigt überdeutlich, dass sich die Wahrnehmung der fanatisierten Einwohnerschaft in aktualisiertem Aberglauben erschöpfte. Die denunziatorische Funktion im Fadenkreuz der antisemitischen Fahndung hat Walser Smith sehr genau bestimmt.

    Die meisten sahen in ihrer Phantasie kleine Ausschnitte der ganzen Geschichte. Doch sobald man sie zusammensetzte, bildeten die vielen kleinen Bruchstücke ein eindrucksvolles Gebäude aus ineinander verschlungenen und verwickelten Fiktionen.

    Die chirurgische Präzision der Bluttat ließ auf anatomische Kenntnisse schließen, wie sie ein Metzger hat. Die Kleinstadt Konitz verfügte über zwei Schlachter, den Juden Adolph Lewy, ein armer, einfacher Mann, und den Christen Gustav Hoffmann, elf Jahre lang Stadtrat, gutsituiert, mit gutem Leumund. Als auch dieser 'ehrbare Bürger' zur Vernehmung einbestellt wurde, löste das bei den Konitzer Antisemiten helle Empörung aus. Pogromstimmung verbreitete sich, wilde Krawalle fanden statt, Lynchjustiz drohte. Man belagerte das Haus des Schlachters Lewy, warf Steine in die Fenster der ortsansässigen Juden und stürmte die Synagoge. Das Gotteshaus wurde in Trümmer gelegt. Erst das herbeigerufene Bataillon einer nahegelegenen Kaserne machte dem Aufruhr mit Waffengewalt ein Ende. Ein Bericht an den preußischen Innenminister erklärte:

    Drei Monate lang ist die Bevölkerung mit allen Waffen des Fanatismus gegen die Juden aufgehetzt worden. Viele glauben, wirklich gutes Werk zu tun und ihre Kinder vor dem Schicksale Winters zu schützen.

    Walser Smith sieht nun in der Architektur des Antisemitismus einen theatralen "Plot", der eine Grenze markiert, die Zugehörige und Ausgeschlossene teilt. Eine Gemeinschaft definiert sich über solche Abgrenzungen. Es ist die Dramaturgie des Plots, jede Erzählung einer strengen Regie zu unterwerfen, die möglichen Identifizierungen zu polarisieren und Worte wie Taten mit einer entschiedenen Stoßrichtung auszustatten.

    Indem sie Lewy als einen finsteren, verschlossenen, heimlichtuerischen und grausamen Menschen zeigt, erscheint sein Gegenspieler Hoffmann implizit als strahlend hell, wahrhaftig, offen und unschuldig.

    Die strenge Dichotomie bezeugt das Faible des Autors für den typologisierenden Zugriff, den Kontrapunkt zur unbestimmten Interpretation. Für ihn organisierte eben jene 'implizite' Regelstruktur des "einheimischen Wissens" in Konitz den Auftakt zu der weit gewaltsameren "Aufkündigung der Solidarität", die das Nazi-Regime wenige Jahrzehnte später praktizierte.

    Indem sie Beschuldigungen erhoben, bekräftigten Menschen ihre Zugehörigkeit, verbündeten sich mit den Mächtigen gegen die Ohnmächtigen und zerschnitten alle Bande, die sie mit den Juden ihrer Heimatstadt verbunden haben mochten. Wenn die Beschuldigungen in Konitz eine Vorahnung des Zusammenbruchs menschlicher Solidarität im 'Dritten Reich' waren, dann erzählen sie auch eine allgemeinere Geschichte von der Fragilität zwischenmenschlicher Beziehungen.

    Khosrow Nosratian besprach: "Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt" von Helmut Walser Smith, erschienen im Wallstein Verlag. Das Buch hat 301 Seiten und kostet 29 Euro.