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Henrik Bispinck u.a.(Hg.):Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus.

Zu unserem letzten Buchtitel für heute, mit dem wir gleichsam einen Bogen schlagen wollen zurück zur bevorstehenden EU-Osterweiterung in wenigen Tagen.

Von Christoph von Marschall |
    Die anderen heute vorgestellten Neuerscheinungen machen klar, dass nach all den Kriegen, nach all den Leiden, die den Generationen der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte nicht erspart geblieben sind, jetzt die Chance besteht, so genannte "Erbfeindschaften" zu überwinden und zu begraben. Dass die Ostmitteleuropäer schon gleich nach Ende des Zweiten Weltkrieges mit ihrem mal offenen, mal verdeckten Widerstandswillen gegen die Sowjet-Vorherrschaft dazu beigetragen haben, dürfte kaum ernsthaft bezweifelt werden. Eine zusammenfassende Untersuchung zu diesem Thema, so deutet es der Titel zumindest an, legt in den kommenden Tagen der Ch. Links Verlag vor: "Aufstände im Ostblock - Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus." - Henrik Bispinck und andere zeichnen als Herausgeber verantwortlich. - Christoph von Marschall hat bereits in dem Band geblättert. Diese Anmerkungen hat er uns danach als Rezension übermittelt:

    Am 1. Mai wird die Europäische Union nach Osten erweitert. Im Rückblick wirkt es noch immer wie ein Wunder, dass die kommunistischen Diktaturen und die Teilung Europas 1989 friedlich überwunden werden konnten – trotz der atomaren Hochrüstung und der enormen Repressionspotenziale, die die Regime mehrfach genutzt hatten, um Protestbewegungen gewaltsam zu unterdrücken. Voller Erwartungen greift man da zu einem Buch, das die Krisengeschichte des realen Sozialismus und die Aufstände in den einzelnen Ländern darzustellen verspricht. Wie wurde dieses Wunder möglich? Wie stark beeinflusste der Widerstand in Bruderländern die einzelnen Völker und ihre Regime, wo gab es Parallelen, wie schwer wiegen die nationalen Besonderheiten? Es ist eine große Aufgabe, die sich die Herausgeber gestellt haben:

    Nach dem Untergang der Sowjetunion und dem Ende der Vorherrschaft Moskaus über weite Teile Europas sind die Protestbewegungen zu einem zentralen Bezugspunkt für die nationale Identität der Ungarn, Polen, Tschechen und Slowaken geworden. ... Andererseits war in der Umbruchsituation von 1989 auch die Erfahrung präsent, dass alle diese Erhebungen vom 17. Juni 1953 über den ungarischen Volksaufstand von 1956 und den Prager Frühling 1968 bis hin zur Solidarnosc-Bewegung in Polen 1980/81 gewaltsam beendet wurden.

    Das ist die Crux dieses Sammelbandes: Der Titel und die Einleitung wecken Erwartungen, die das Buch allzu lange nicht einlösen kann, bis weit jenseits seiner Mitte. Es ist eigentlich der Tagungsband zu einer Konferenz über den "17. Juni 1953 und die Krisengeschichte des realsozialistischen Systems". Die Beiträge wurden zwar, wie die Herausgeber betonen, um internationale Aspekte erweitert. Aber es macht eben einen Unterschied, ob man einen Titel mit dem Ziel plant, alle Aufstände im Ostblock vergleichend zu behandeln und in ihrer sehr unterschiedlichen Bedeutung einzuordnen, oder die Beiträge einer Konferenz, die nur den Aufstand von 1953 behandelt, ausbaut. Über zu weite Strecken muss der Leser mit einer doppelten Einengung leben: geographisch auf die Ostzone und spätere DDR sowie strukturell auf Arbeiterproteste. Die Unterschiede in der Intensität des Aufbegehrens bleiben lange weitgehend außer Acht: Polen befand sich mehrfach über Jahre fast im Daueraufstand, im Vergleich dazu war es in der DDR und der Tschechoslowakei überraschend ruhig. Und viel zu wenig erfährt man da über die Rolle der Kirchen, der Studenten, der Bauern, der Intelligenz.

    Auch in dieser ersten Hälfte finden sich lehrreiche Kapitel wie Henrik Bispincks Vergleich zur Bedeutung der Ausreisewellen 1953 und 1989: 1953 hatte der massive Anstieg der Fluchtzahlen nur indirekte Auswirkungen auf den Gang der Dinge, 1989 motivierte er die Dagebliebenen zu verstärktem Protest. Hochinteressant, ja streckenweise elektrisierend ist Hans-Hermann Hertles Untersuchung zur Rolle der West-Medien. 1953 wurde insbesondere der Berliner Sender RIAS zum "kollektiven Organisator" des Widerstands. Im Herbst 1989 dagegen fungierten die West-Medien lange nur als Transmissionsriemen der friedlichen Revolution. Den Mauerfall kurz darauf, am 9. November, hätte es hingegen ohne sie nicht gegeben. Die DDR-Führung beabsichtigte überhaupt keine Grenzöffnung an diesem Abend, erst die sachlich eigentlich falsche Berichterstattung des West-Fernsehens löste laut Hertle den Massensturm auf die Übergänge aus.

    Ein ausgesprochenes Lesevergnügen sind gleich eingangs Karl Schlögels Betrachtungen über geschichtliche Wahrnehmung, mit denen er einmal mehr seine große Begabung für historische Essays beweist:

    Es ist kein Zufall, dass wir viel, sehr viel über den 17. Juni in Berlin und in der DDR, oder über Posen oder Budapest oder Prag wissen, und nichts, fast nichts über die Aufstände in Workuta, in Dschesgaskan, Tajschet, Norilsk Kingir, die fast zeitgleich stattfanden. Geschichtliche Ereignisse haben einen Ort, und die Ereignisse, von denen wir sprechen, haben zu tun mit der Geopolitik der Systemkonkurrenz.

    Erst im letzten Viertel wird der Anspruch des Buches eingelöst: In den Kapiteln über Polen von Krzysztof Ruchniewicz, Ungarn von Arpad von Klimo und Alexander Kunst sowie die Tschechoslowakei von Oldrich Tuma. Beispielhaft macht das Ruchniewicz. Er stellt die neueren Untersuchungen zur Geschichte der Oppositionsbewegungen in Polen vor, die naturgemäß erst nach dem Sturz der Diktatur möglich wurden, fächert die Breite des Widerstands auf - sowohl auf der Zeitachse als auch in der Gesellschaft: Arbeiter, Kirche, Bauern, Studenten, Intellektuelle im KOR, dem so genannten "Komitee zur Verteidigung der Arbeiter" :

    Das KOR war keine genuin politische Vereinigung, sondern eher eine bürgerliche Bewegung des moralischen Widerstands, wodurch eine Brücke zwischen Intelligenz und Arbeitern geschlagen werden konnte.

    Hier bekommt das Aufbegehren das von Karl Schlögel geforderte Gesicht. Dazu gibt es vergleichende Seitenblicke, etwa auf die Kirche in der DDR und die Charta 77 in der Tschechoslowakei. Man wünscht sich mehr solcher nationalen Fallstudien, nebeneinander gestellt in ihren Parallelen und Unterschieden. So versöhnt das Buch am Ende doch noch. Es weist einen Weg zu einem immer noch fehlenden Gesamtbild der Aufstände im untergegangenen Ostblock.

    Christoph von Marschall besprach: "Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus", erschienen im Ch. Links Verlag, Berlin. 250 Seiten zum Preis von 24.90