Dienstag, 21. Mai 2024

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Henry Armin Herzog: Und der Himmel vergoß keine Tränen

Guten Abend und herzlich willkommen. Am Mikrophon ist heute abend Karin Beindorff. Die Autobiographie eines polnisch-jüdischen Partisanen ist hier heute Thema, ebenso wie ein neues Buch des Historikers Eric Hobsbawm und ein neues Werk über den Philosophen Hans Blumenberg. Der Lange Weg der SPD zur Macht wird behandelt und der Blick eines Zeitungskorrespondenten auf seine Erfahrungen auf dem afrikanischen Kontinent.

Lothar Baier | 19.06.2000
    Jeden Tag stieg eine unserer Einheiten ins Tal hinab, legte sich auf die Lauer, bis deutsche Fahrzeuge vorbeikamen, feuerte auf sie und zog sich danach wieder in die Berge zurück. Jedes Mal, wenn ich an diesen Aktionen teilnahm, fühlte ich mich großartig, denn immer, wenn meine Kugeln ihr Ziel erreichten, zahlte ich damit eine weitere Rate meiner Schulden ab. Wenn wir Deutsche gefangen nahmen, behandelten wir sie nach der Art der russischen Kommissare: Wir zwangen sie, sich auszuziehen, nackt in den Schnee hinauszulaufen und erschossen sie. Es tat mir gut, sie um Gnade betteln zu hören und sie dann niederzuschießen, so wie sie wehrlose Juden im Ghetto erschossen hatten.

    Die Schulden des jungen polnischen Juden Armin Henry Herzog bestehen darin, dass er im Gegensatz zu Eltern, zwei Brüdern und zahllosen Freunden der deutschen Mordindustrie entkommen ist. Russische Partisanen in der Slowakei geben ihm nach der Flucht aus Nazilagern die Möglichkeit, sich an den Peinigern blutig zu rächen, ohne seine jüdischen Wurzeln dabei verleugnen zu müssen. 40 Jahre lang hat der in die USA emigrierte und heute in Israel lebende Herzog über seine Erlebnisse geschwiegen. Nun sind seine Erinnerungen an den Widerstand aus Verzweiflung unter dem Titel 'Und der Himmel vergoß keine Tränen' als Buch erschienen: Lothar Baier hat sie gelesen.

    Autobiographische Berichte vom Überleben des nationalsozialistischen Massenmords füllen allmählich eine ansehnliche Bibliothek. Die Überlebensgeschichte des aus Krakau stammenden Henry Armin Herzog, die jetzt unter dem Titel "Und der Himmel vergoß keine Tränen" erschienen ist, fällt in mancherlei Hinsicht aus dem Rahmen bekanntgewordener Literatur heraus. Die Frage nach dem Sinn des Weiterlebens, die Jean Améry und viele andere, der Vernichtung Entkommene, ein Leben lang quälte, hat sich dem Autor dieses 1995 in den USA publizierten autobiographischen Berichts, seinen Worten nach zu schließen, niemals gestellt. Solcher Sinn war für ihn evident: Es war der Gedanke, eines Tages Vergeltung zu üben für all das, was Nazitäter und ihre Kollaborateure an ihm, an seiner Familie und an seinen Leidensgenossen verbrochen hatten.

    Der jüdische Arbeiter Armin Herzog war zweiundzwanzig Jahre alt, als die deutschen Armeen im September 1939 Polen überfielen. Bis 1942 konnte die Familie im Ghetto der östlich von Krakau gelegenen Industriestadt Rzeszów zusammenbleiben, dann wurden die Eltern ins Vernichtungslager Belzec abtransportiert und dort ermordet. Die Spur der beiden jüngeren Brüder verlor sich im Konzentrationslager Plaszów bei Krakau. Nur die Schwester Fela war in prekärer Sicherheit, versteckt von einer polnischen Familie, die mit der polnischen Untergrundbewegung in Verbindung stand.

    Armin Herzog, der sich später in den USA den zweiten Vornamen Henry zulegte, gelang es dank kräftiger Konstitution und körperlichem Geschick, sich bei Arbeiten unentbehrlich zu machen, die von der deutschen Besatzungsmacht als kriegswichtig eingestuft wurden. Ende 1943 jedoch drohte die Liquidierung des gesamten Ghettos. Herzog und seine Schwester entschlossen sich zur Flucht in die benachbarte Slowakei. Die Flucht verlief glatt, jenseits der Grenze zu Ungarn aber wurden die Geschwister von der Polizei aufgegriffen und in verschiedenen Gefängnissen und Lagern eingesperrt. Die Schwester Fela konnte schließlich in Budapest untertauchen. Armin Herzog flüchtete erneut und schlug sich in die Berge der Slowakei durch. Dort traf er auf eine Partisanengruppe, die von der Roten Armee aus der Luft versorgt und von russischen Offizieren kommandiert wurde. Der Flüchtling wurde von ihr aufgenommen und zum Kämpfer ausgebildet. Als Partisan beteiligte sich Herzog zwischen Herbst 1944 und Frühjahr 1945 an Sabotageaktionen und an Überfällen auf versprengte Einheiten der nach Westen zurückflutenden Wehrmacht.

    Nach Kriegsende kehrte Herzog nur noch besuchsweise oder zur Abwicklung von Schwarzmarktgeschäften nach Polen zurück. Der dort nach wie vor virulente Antisemitismus, der sich wie in der Stadt Kielce in Progromen gegen überlebende polnische Juden entlud, hielt ihn davon ab, sich im Land wieder niederzulassen. Deutschen Boden wollte er erst recht nicht betreten. Von der Tschechoslowakei aus betrieb Herzog die Auswanderung in die USA, wo seit der Vorkriegszeit Verwandte lebten. 1948 traf er in New York ein. 1995, im Alter von fast 80 Jahren, siedelte Herzog noch einmal um, und zwar nach Israel.

    Zur deutschen Ausgabe der erst spät, Anfang der neunziger Jahre, entstandenen Autobiographie Henry Armin Herzogs hat Wolf Biermann ein Vorwort geschrieben. Ein rechtes Biermann-Vorwort, das heißt einen Text, dessen schmuckvolle Eitelkeiten den Eindruck erwecken, der Autor habe hauptsächlich vor dem Spiegel gearbeitet. Zwischendurch allerdings muß der Vorwortverfasser auch ins zu erläuternde Buch geschaut haben. "Für die meisten Leser in Deutschland", heißt es einmal, "wird dieses hier nicht das erste Buch über den Holocaust sein. Für mich aber ist es der allererste Bericht eines Überlebenden, in dem ohne Falsch und schlechtes Gewissen die Rache gefeiert wird." Biermanns Aussage trifft durchaus zu: vom Überfall der Partisanen auf einen Wehrmachtskonvoi berichtend, kann Herzog schreiben: "Diese Deutschen umzubringen machte mich glücklicher als jemals zuvor." Aus dem Zusammenhang gerissen, mag der Satz schockierend klingen; doch wer zuvor gelesen hat, wie oft der Autor deutsche Mordkommandos im Ghetto hatte wüten sehen, ohne dass die geringste Chance zur Gegenwehr bestand, wird Herzogs Verlangen nach Rache subjektiv nachvollziehen können: Endlich sich nicht mehr wehrlos der erdrückenden Übermacht ausgeliefert sehen, die von deutschen Uniformen symbolisiert wird, sondern bewaffnet zurückschlagen.

    Von gelungenen Fluchten aus Ghetto oder Todeslager berichten mehrere Bücher; etwa "Die Falle mit dem grünen Zaun" von Richard Glazar, einem Prager Juden, der aus Treblinka ausbrach, sich quer durch Polen bis nach Deutschland durchschlug und bei Kriegsende in seine Heimatstadt zurückkehren konnte. Bemerkenswert an Herzogs Geschichte ist der Übergang der Flucht vor der Vernichtung in den militärischen Widerstand gegen die Mörder und Unterdrücker. Das Ungewöhnliche dieser Überlebensgeschichte spiegelt sich leider nicht in der Art ihrer Aufzeichnung. Der Stil von Herzogs Autobiographie ist nah an dem eines militärischen Rapports, in dem nur das zählt, was in die Rubrik der sogenannten "besonderen Vorkommnisse" gehört. Unklare Gefühle, widerstreitende Empfindungen, scheinbar nebensächliche Beobachtungen, das alles kommt in diesem nur zwischen Schwarz und Weiß unterscheidenden Bericht nicht zur Sprache. Ein "handfester Kerl wie Armin Herzog", schreibt Wolf Biermann geradezu proletkultisch verzückt, zerbricht sich über vieles eben nicht den Kopf.

    Dem Kampfgeist des Partisanen ist das wahrscheinlich zugute gekommen, nicht unbedingt aber der Einprägsamkeit von Herzogs Aufzeichnungen. Ist die erschütternde und packende Geschichte von Einsperrung, Flucht und Kampf einmal zur Kenntnis genommen, lädt sie kaum zum Zurückblättern ein. Das Buch hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck: Gut, dass Herzogs Geschichte von Überleben durch Vergeltung aufgeschrieben und veröffentlicht wurde, doch mangels beunruhigend nachwirkender Fragen beschäftigt sie nach der Lektüre nicht weiter und darf als Buch neben anderen Büchern ihren Platz im Bücherschrank finden. Die deutsche Übersetzung ist im Großen und Ganzen verläßlich, irritiert zuweilen jedoch durch einen Mangel an sprachlicher Sensibilität. So, als wäre der Ausdruck "Einsatzgruppe" in Deutschland nicht furchtbar eindeutig besetzt, werden jüdische Kämpfer, die von der Royal Air Force mit dem Fallschirm über der Slowakei abgesetzt wurden, in aller Unschuld einer "palästinensischen Einsatzgruppe" zugeordnet

    Lothar Baier besprach: Armin Henry Herzog: Und der Himmel vergoß keine Tränen, Aus Verzweiflung in den Widerstand. Das Buch ist im Verlag Kiepenheuer und Witsch erschienen, hat 448 Seiten und kostet 48 Mark.