Gegenwärtig durchlebt die Westfälische Ordnung eine Systemkrise. Ihre Grundzüge werden infrage gestellt, eine allgemein anerkannte Alternative dazu muss jedoch erst noch gefunden werden. Das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten wurde zugunsten eines Konzepts der universalen humanitären Intervention oder der internationalen Rechtsprechung aufgegeben, und zwar nicht nur seitens der Vereinigten Staaten, sondern auch von vielen westeuropäischen Ländern. Gleichzeitig erlebt das bislang dominante Konzept des Nationalstaats selbst eine Metamorphose. Der vorherrschenden Philosophie entsprechend betrachtet sich jeder Staat gleichzeitig auch als Nation, doch nicht alle sind es in dem Sinne, wie der Begriff im 19. Jahrhundert verstanden wurde, nämlich als sprachliche und kulturelle Einheit.
Von den 'Großmächten’ zu Beginn des neuen Jahrtausends sieht Kissinger diese Bedingung nur bei den Demokratien Europas sowie bei Japan erfüllt. In China und Russland verbinde sich ein nationaler und kultureller Kern mit multi-ethnischen Merkmalen, und in den Vereinigten Staaten würden zunehmend nationale Identität und Multi-Ethnizität gleichgesetzt. Überall auf der Welt schließen sich die Nationalstaaten nach dem Beispiel der Europäischen Union zu größeren Einheiten zusammen. Den Mangel an angestammter Identität versuchen sie dabei bisweilen durch Gegnerschaft wettzumachen. Besorgt analysiert Kissinger, dass an die Stelle alter Gegensätze neue Rivalitäten treten können. Der Blick Amerikas auf Tun und Treiben der Europäer fällt nicht immer freundlich aus. Und dies hängt vor allem mit den Halbherzigkeiten und unaufgelösten Widersprüchen europäischer
Politik zusammen, gerade wenn es darum geht, einen eigenen Beitrag zur Sicherheit zu leisten. Einen natürlichen Gegensatz zwischen atlantischer und europäischer Sicherheit kann Kissinger nicht erkennen, auch nicht die Gefahr der Abkoppelung im Falle eines größeren Sicherheitsengagements der Europäer. Kissinger:
Wenn die Europäische Union als Ganzes behandelt werden will, folgt daraus, dass eine Verknüpfung zwischen der Sicherheit derjenigen ihrer Mitglieder, die nicht der NATO angehören, und der Militärstruktur der Europäischen Union hergestellt werden muss. Wenn es eine Region gibt, für deren Verteidigung die von der Europäischen Verteidigungsinitiative vorgesehenen Eingreiftruppe angemessen ist, liegt sie genau in solchen Staaten. Auch geht es in einer wohlverstandenen atlantischen Partnerschaft nicht an, dass die NATO Bedrohungen der Sicherheit von Mitgliedstaaten der Europäischen Union ignoriert, ob sie nun formell Mitglieder der Allianz sind oder nicht. Angesichts der häufigen Beschwörungen einer europäischen Identität ist es doch etwas seltsam, dass die Europäische Union darauf besteht, dass die Mitgliedschaft in ihr mit keinerlei Sicherheitsgarantien verbunden ist. Um ihren Namen wirklich zu verdienen, muss die Europäische Union irgendwann bereit sein, mit Gewalt Angriffe auf die Sicherheit jedes ihrer Mitglieder zurückzuschlagen, ebenso wie dies heute jeder ihrer Nationalstaaten für sich tun muss. Und wenn die Europäische Union verpflichtet ist, eines ihrer Mitglieder zu verteidigen, ob es nun der NATO angehört oder nicht, werden die Vereinigten Staaten nicht ruhig zusehen können.
Glaubwürdigkeit ist an Handlungsfähigkeit gebunden, und Partnerschaft setzt die Bereitschaft zur gemeinsamen Übernahme von Lasten voraus. Kissinger versteht es, den Europäern die Leviten zu lesen. Sein Blick auf Russland beruht auf den Erfahrungen der Geschichte und fällt entsprechend skeptisch aus. Vor dem Entschluss zu humanitären Interventionen rät Kissinger zu sorgfältiger Betrachtung und empfiehlt klare Kriterien. Kissinger weiß um die Gefährdungen des Wilsionianism, der einst die Welt sicher für die Demokratie machen sollte. Hier liegt Kissingers Hauptvorwurf an den außenpolitischen Kurs der Clinton- Administration, wie er überhaupt für den Vorgänger von Bush kaum lobende Worte findet. Wer Außenpolitik als Kreuzzug zur Verbreitung der als richtig erkannten Werte begreift, liegt für Kissinger genauso falsch wie - auf der anderen Seite der Skala - die Isolationisten aus den zwanziger Jahren des 2o. Jahrhunderts. Und dennoch: Ganz ohne einen Zug Wilson, das konstatiert Kissinger mit Blick auf den Realpolitiker Nixon, lässt sich erfolgreiche Außenpolitik nicht machen: getreu der Devise, dass sich eine gute Außenpolitik dadurch auszeichnet, dass sie den nationalen Interessen dient. Kissinger weiß um Politik als Kunst des Möglichen und die Grenzen der Macht. Die Fülle der heute verfügbaren Informationen hat Außenpolitik nicht leichter gemacht, im Gegenteil. Der Primat der Innenpolitik, das geschmeidige Arrangieren von Interessen und Schielen nach kurzfristigen Erfolgen, hat auch etwas damit zu tun, dass die Zeit ihren Rhythmus gewechselt hat. Mit den Zugangsmöglichkeiten des Internetzeitalters sind nicht in gleichem Maße Analysekapazitäten verbunden. Amerikas hegemoniale Position bleibt den Amerikanern und der Welt wohl auf absehbare Zeit erhalten. Es kommt dabei darauf an, aus dieser Situation das Beste zu machen und Außenpolitik zu gestalten. Überheblichkeit ist dabei nicht die geringste der Gefährdungen. Denn das ausdrückliche Bekenntnis zur Dominanz trägt den Keim des Niedergangs:
Die Straße zum Imperium führt zum inneren Niedergang, denn mit der Zeit höhlt der Anspruch der Allmacht die innenpolitische Zurückhaltung aus. Kein Reich hat die Straße zum Cäsarismus, zur Autokratie verfehlt, es sei denn, es hat, wie das britische Weltreich, die Macht abgegeben, bevor dieser Prozess einsetzen konnte. In Imperien, die lange Zeit überdauert haben, wird jedes Problem zu einem innenpolitischen Problem, weil die Außenwelt kein Gegengewicht mehr darstellt. Und je diffuser die Herausforderungen werden und je weiter sie sich von der historischen des Kernlandes entfernen, desto erbitterter werden die inneren Auseinandersetzungen, bis sie schließlich in Gewalt enden. Ein bewusstes Streben nach Hegemonie ist der sicherste Weg zur Zerstörung der Werte, die Amerika groß gemacht haben.
Das war eine Rezension von Ulrich Schlie über Henry Kissinger: "Die Herausforderung Amerikas. Weltpolitik im 21. Jahrhundert." Erschienen im Berliner Verlag Propyläen, 383 Seiten zu 25 Euro.