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Herausforderung Tradition

Seit geraumer Zeit ist von einer "Krise der Geisteswissenschaften" die Rede. An den Hochschulen droht ihnen der Rotstift, weil sie dem kurzfristigen Nutzendenken widersprechen. Sie sind zugleich die Fächer mit den höchsten Studienabbrecherquoten. Dass Kultur die Menschen aber auch heute interessiert, zeigen die Besucherzahlen von Museen, Konzerten oder auch Bürgerinitiativen, die sich für den Erhalt historischer Fassaden einsetzen.

Von Ingeborg Breuer |
    " Kultur ist Garant von Freiheit weil sie in Dichtung und Literatur, in Architektur und Kunst, in Musik und auch in Religion die ganze Fülle des Menschlichen sichtbar macht.

    Mehr und mehr macht sich die Einsicht breit, dass die Erforschung und Bewertung des kulturellen Erbes zum Nutzen für die Zukunft ist.

    Geisteswissenschaften sollen dazu dienen, die moderne Welt zu verstehen, zu erklären, zu begreifen. Darüber hinaus haben Geisteswissenschaften auch Orientierung zu geben. "

    Alle waren sich am Dienstagabend im Plenarsaal des Landtags in Hannover darüber einig: die geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit der Kultur ist unbedingt notwendig für die "Gestaltung einer menschenwürdigen Zukunft", wie Landtagspräsident Jürgen Gansäuer in seiner Eröffnungsrede beteuerte. Und dennoch ist seit geraumer Zeit von einer "Krise der Geisteswissenschaften" die Rede. An den Hochschulen droht ihnen der Rotstift, weil sie dem kurzfristigen Nutzendenken widersprechen. Sie sind zugleich die Fächer mit den höchsten Studienabbrecherquoten. Und noch dazu gelten Geisteswissenschaftler als Elfenbeinturmbewohner, die für die moderne Welt nur Verachtung übrig haben, wie Professor Sigrid Weigel, Direktorin des Berliner Zentrums für Literaturforschung, selbstkritisch bestätigt:

    " Jahrzehntelang haben sich die Geisteswissenschaften eingeigelt in Ressentiment gegenüber Technik, Ökonomie, Politik und Naturwissenschaften. Viele waren stolz darauf, die Formeln von Mathematikern nicht zu verstehen. Ich denke, die Geisteswissenschaftler müssen raus aus ihrer kulturpessimistischen Haltung, alles was modern ist, ist schlecht. Wie wollen sie sich einmischen in die Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft, wenn sie von vornherein sozusagen klagend reden über die Entwicklung des Internets? "

    "Herausforderung Tradition - die Geisteswissenschaften und das kulturelle Erbe" war das Motto der Veranstaltung der Initiative Pro Geisteswissenschaften. Denn natürlich beschäftigen sich Geisteswissenschaftler vor allem mit der Tradition - und dem, was uns aktuell noch daran interessiert. Und dass das kulturelle Erbe auch heute interessiert, zeigen ja die Besucherzahlen von Museen, Konzerten oder Bürgerinitiativen, die sich für den Erhalt historischer Fassaden einsetzen. Und kaum eine überregionale Zeitung, darauf verwies der Generalsekretär der VW-Stiftung Dr. Wilhelm Krull, versäume heute doch die Edition bekannter Zeitdokumente aus Musik, Literatur oder Film. Er sieht darin:

    " Deutliche Prozesse der Orientierung und der Kanonisierung von Wissen, etwa mit den Kassetten, die dann versuchen, die wichtigsten Romane oder die wichtigsten Kompositionen in 20er oder 50er Packs zusammenzupacken und natürlich auch zu kommerzialisieren. Das ist nicht nur eine selbstlose Aktion, es sind handfeste finanzielle Interessen verknüpft. "

    " Natürlich müssen die Geisteswissenschaften mehr und anderes leisten, als Buchkassetten für "Lustleser" zu edieren, für jene Leser also, die das eigene Wohlbefinden bei der Lektüre eines Romans mehr interessiert als dessen moralische Botschaft. Sie verstehen sich schließlich als "Wissenschaften" - und das setzt eine distanzierte Betrachtung des Gegenstands voraus. Sie müssen erst einmal das Überlieferte erschließen, aufbereiten, einordnen. Und ihr Tun, wie zunehmend gefordert wird, einer interessierten Öffentlichkeit vermitteln. "

    Variationen über Erben, Vererben und kulturelles Gedächtnis, so könnte man denn auch die Reflexionen nennen, die am Dienstag vor großen Publikum in Hannover vorgetragen wurden.

    Weigel: " Die Kontrastfolie anders gearteter Erbgesetze lässt unsere Vorstellung vom Erben in einem Gegenlicht erscheinen, in dem die Konturen schärfer werden. "

    Grundsätzliches zum Thema Erben trug Sigrid Weigel vor. Denn das Erben und Vererben gehöre ja durchaus zum Wesen des Menschen, sei eigentlich eine "fundamentale anthropologische Praxis". Und gerade angesichts heutiger ökologischer Fragen und demografischer Probleme sei ja die Frage nach dem Erbe - im Sinne der Hinterlassenschaft der älteren Generationen für die jüngeren - höchst aktuell. Doch antworte man darauf meistens mit technischen oder ökonomischen Lösungen. Richte man dagegen einen historischen Blick aufs Erben und Vererben, auf Verträge zwischen Generationen, sehe man, wie unterschiedlich diese Praxis im Lauf der Zeiten geregelt wurde. Und dies weite den Horizont und relativiere die Gegenwart. Daraus zieht Sigrid Weigel den Schluss:

    " Die Geschichtlichkeit unseres Denkens, unserer Kultur, die Umbrüche zu studieren, bedeutet auch, zu kapieren, dass man aktiv an Umbrüchen gestalten kann. Man sieht auch, dass Dinge gemacht sind, und auch zu verändern sind. Geschichte als Quelle der Kreativität für den Umgang mit heute, das heißt auch nicht, dass man Geschichte entwertet, sondern als etwas wiederbelebt, was heute für uns von Interesse ist. "

    Prof. Simone Winko, Literaturwissenschaftlerin in Göttingen, machte darauf aufmerksam, dass kulturelles Erbe nicht einfach vorliegt. Eine Gesellschaft wählt unter einer Vielzahl von Werken die aus, die sie zu einer bestimmten Zeit als wertvoll erachtet. Wenn in den Schulen heute noch Schillers Don Carlos gelesen wird, so deshalb, weil die darin vorgestellten Werte - Freiheit und Freundschaft - Ideale auch in der heutigen Gesellschaft sind. Die Gesellschaft entwickelt also einen Kanon des bewahrenswerten Kulturerbes. Einen Kanon, der freilich nichts Statisches ist, sondern stets wieder kritisch befragt werden kann.

    " Kulturelles Erbe wird nicht vorgefunden. Wir müssen aus der Fülle dessen, was es gibt, auswählen, was wir wollen. Die Geisteswissenschaften haben Anteil an diesem Kanonisierungsprozess, indem sie sagt, das ist wichtig, das muss untersucht werden, oder indem sie sagt, wir lehren die und die Texte. Immer aber haben wir damit verbunden eine andere Bewegung, eine Bewegung der Kritik, die reflektiert, die das, was wir erreicht haben, in Frage stellt und die auch die Grundlagen in Frage stellt, so dass wir zu einer Dynamik kommen. "

    Dass schriftliche Überlieferung wichtig für den Erhalt des kulturellen Erbes ist, darüber sprach der Direktor der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Und dass ein Erbe durchaus auch belasten kann, gerade angesichts der deutsche Geschichte, war Thema des letzen Vortrags dieses Abends.

    Nun denn! Am Schluss, so hatte man den Eindruck, war das Publikum nicht wirklich überzeugt, dass die "Herausforderung Tradition" von den Vortragenden bewältigt worden war. Allzu reflektierend, oder um das böse Wort zu nennen, allzu akademisch kamen die Vorträge daher - und das, wo eine Begegnung zwischen Geisteswissenschaftlern und einer interessierten Öffentlichkeit hergestellt werden sollte.
    Vielleicht hätte man sich ein wenig mehr Leidenschaft gewünscht. Statt Reflexion und Beteuerung, dass "Zukunft ohne Herkunft" in Entwurzelung mündet, einmal konkret zu hören, wie lebendig unser kulturelles Erbe auch heute noch ist. Ein bisschen zu demonstrieren von dem, was Bildungsministerin Schavan im gerade eröffneten "Jahr der Geisteswissenschaften" deren notwendige "Mitwirkung an der Gestaltung der Zukunft" nannte.