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Herbert Fritschs "Grimmige Märchen"
Die Tröstungen der Anarchie

"Es war einmal, vor tausend und mehr Jahren, in einem alten Schloss mitten in einem großen, tiefen Wald..." So inszeniert Regisseur Herbert Fritsch die Märchenwelt der Brüder Grimm auf der Bühne des Schauspiels Zürich. Zwischen Kafka, Beckett und Grand Guignol legt er den Zugang zu verborgenen Schichten und Abgründen des Menschlichen frei.

Von Christian Gampert | 09.04.2017
    Der Schauspieler und Regisseur Herbert Fritsch
    Der Schauspieler und Regisseur Herbert Fritsch (picture-alliance/dpa/Soeren Stache)
    Die Bühne sieht – im Dunkel – zunächst aus wie ein Affenfelsen, auf dem lemurenhafte bleiche Lebewesen hocken. Aber dann erkennt man: Der gesamte Bühnenraum ist gefüllt von einem riesenhaften Kissen, das nach hinten steil ansteigt. Darin sitzen, stehen, posieren, grimassieren acht – im Vergleich zum Kissen – zwergenhafte, schräge Gestalten in knallbunten Kostümen irgendwo zwischen Renaissance und Kasperletheater. Also, ein kleines Schneewittchen und die sieben Zwerge haben sich nach Zürich verirrt, auf ein Sofa, wobei die Zwerge männlich und weiblich sind, auch Könige und die Jungfrau Maria sind darunter.
    Dieser seltsame Hofstaat wird uns nun anderthalb Stunden lang Märchen vorturnen, erzählen, zusammenstottern, Fragmente von Geschichten zusammenleimen. Fritsch bietet uns immer nur Einzelteile und Zitate. Und trotzdem ist das eine große Erzählung von der unglaublichen Angst, die deutsche Kinder haben und haben müssen: Von grausamen Eltern und großen Wundern, die dann doch überraschenderweise geschehen, vom Hunger und von der Armut und von der Züchtigung: Und von dem wunderbaren Quatsch und der theatralischen Anarchie, die herausführen aus diesem engen germanischen Waisenhaus.
    Zwischen Schrecken und Amüsement
    Herbert Fritsch hat für seine "grimmigen Märchen" auch die Bühne gebaut. Vor allem aber hat er den großartigen, artistischen Züricher Schauspielern ganz viele Bewegungssegmente mit auf die Reise gegeben, pantomimische Erkennungsmelodien, bei denen man auch nach einer vollen Stunde noch staunt. Das wuselt und zappelt vor sich hin, und auch akustisch sind das heidnisch verfremdete Chor- und Wechselgesänge – und Verzweiflungsschreie. Allein der Eingangschoral ist so bizarr, dass man als Zuschauer zwischen Schrecken und Amüsement überrascht erstarrt.
    Es ist lange her, dass man so einen geschlossenen Kosmos der Verrücktheit gesehen hat. Das changiert zwischen Kafka und Beckett, zwischen Jarry und Grand Guignol, und die running gags sind bei Charly Chaplin ausgeliehen. Das Sprechen ist immer exaltiert, wie bei überkandidelten Opernsängern, die sich vom falschen Pathos Bedeutung erhoffen und ihre Rezitative gnadenlos outrieren; und nach der Hysterie kommt immer die Stille. Und immer geht es darum, dass kein Geld und kein Essen da ist, dass jemand etwas Böses oder Verbotenes getan hat und bestraft werden muss, dass Kinder von den Eltern verkauft, verspeist oder gezüchtigt werden und geradewegs in der Hölle oder wenigstens im Fegefeuer landen, von wo die Schreie der Verdammten erschallen, bei Herbert Fritsch allerdings meist von einem Trampolin aus, wo die armen Seelen hüpfen müssen.
    Existenzielle Ängste und lauernde Albträume
    Es ist also ein großer anarchistischer Spaß, den Fritsch sich da macht, allerdings einer mit ernstem Hintergrund: Es geht immer um das christliche Europa und die Sozialisation, die unsereins da mitgekriegt hat, also um Zucker und Peitsche, um Loben und Verstoßen, um Heulen und Beten und Zähneklappern. Ja, es war einmal. Aber immer wollen die Figuren weg von den strengen Regeln, die Körper zucken und verselbstständigen sich, und bisweilen erfinden sie sich sogar eine Kunst- und Privatsprache.
    Es ist dies eine fast perfekte Inszenierung; es gibt ein paar Hänger, der Schluss ist ein bisschen mau; aber vorher darf da einer etwa zehn Minuten auf offener Bühne mit dem Handy telefonieren, ohne mehr als drei Worte zu sagen. Phantastisch – wobei das Handy eigentlich ein Schuh ist. Man fragt sich bisweilen, ob man mitten in der Psychiatrie gelandet ist, dann aber ist es doch die Hölle der Christen oder einfach der Wahnsinn eines Theaters, das wieder an sich selber glaubt. Hänsel und Gretel verirren sich im Wald, aber Herbert Fritsch weiß genau, wo es langgeht. Im Zweifelsfall immer in die Zimmer, die die Mutter verboten hat. Dort lauern die Albträume, aber auch die Tröstungen des völlig sinnfreien Schwachsinns. Wer Zeit hat: Zürich ruft! Die Aufführung ist einer dieser raren Momente reinen Theaterglücks, und man muss ihn genießen, belobigen und preisen, bevor die Aufführung Routine bekommt und auf allen Theatertreffen dieser Welt herumgereicht wird.