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Herbert Marcuse: Schriften in neun Bänden.

Von Karin Beindorff | 11.10.2004
    Die Neuauflage der Schriften Herbert Marcuses, Ulrich Enzensbergers Rückblick auf die Jahre der Kommune 1, Anita Kuglers Biographie des vorgeblich jüdischen SS Offiziers Fritz Scherwitz sowie eine Analyse der Friedensaussichten im Kosovo, das sind die Themen unserer heutigen Revue politischer Literatur, Karin Beindorff, Tita Gaehme, Hans G. Helms und Ursula Rütten die Rezensenten. Am Mikrophon ist Hermann Theißen. Guten Abend!

    Nach Herbert Marcuses Tod im Juli 1979 traf sich in Frankfurt eine Gruppe von Schülern, darunter auch Daniel Cohn-Bendit, die Überlegungen anstellte, in welcher Form Herbert Marcuse angemessen gedacht werden könne, und die schließlich die Absicht verfolgte, einen "Herbert-Marcuse-Gedenkkongress" zu veranstalten. Einzelheiten wurden bei einem Treffen mit Rudi Dutschke im Dezember ausgemacht. Der überraschende Tod Dutschkes am 24. Dezember in Aarhus führte dann zu einem vorzeitigen Abbruch des Unternehmens, das vielleicht die Gelegenheit hätte wahrnehmen können, die seinerzeit in Entstehung begriffene und unter dem Schlagwort "No future" bekannt gewordene Jugendrevolte mit dem Denken Marcuses zu konfrontieren.

    Stattdessen machten sich allenthalben Stimmen bemerkbar, die einen Abgesang intonierten. So wie Marcuse, auf dem Höhepunkt der Revolte zur Vaterfigur stilisiert, geradezu in den Himmel gehoben wurde, so ist er anschließend herabgesetzt worden. Weil er sich nicht gescheut hat, sich öffentlich mit dem Aufbruch von 1967/68 zu solidarisieren, ist im Nachhinein sein ganzes Werk mit dem Niedergang der Emanzipationsbewegungen identifiziert worden. Es gehört ohne Übertreibung zu den bittersten Ironien, dass das Denken eines Mannes, der sich nicht nur auf die Bewegungen eingelassen hat, heute entwertet, verzerrt und so gut wie vergessen ist, bestenfalls noch den Status einer flüchtigen Reminiszenz einnimmt. Die Tatsache, dass er aus dem akademischen Bereich ausscherte und sich mit den Bewegungen solidarisierte, so scheint es jedenfalls, ist ihm nie verziehen worden.

    Das schreibt Wolfgang Kraushaar, der Chronist der außerparlamentarischen Bewegung, in seiner Einleitung zum 4. Band der nachgelassenen Schriften Herbert Marcuses, den Peter-Erwin Jansen unter dem Titel "Die Studentenbewegung und ihre Folgen" jetzt im Verlag zu Klampen herausgebracht hat.
    Todgeschwiegen wurde Marcuse jedoch nicht nur vom linksliberalen akademischen Establishment, auch die dogmatische Linke hat dem Philosophen nie verziehen, dass er in seinen späten Werken die Sowjetunion als repressives System beschrieben und für eine "Neue Linke" plädiert hat, die sich von Leninismus und Zentralismus befreit und das Individuum zum Ausgangspunkt und Maßstab jeglicher Politik macht. 1968 organisierte die amerikanische Wochenzeitschrift "The Guardian" in New York eine Debatte, in der die US amerikanische Linke um ihr Selbstverständnis rang. Marcuse bestritt in seinem Beitrag, dass die Arbeiterklasse Motor revolutionärer Bewegung sein könne und erteilte allen Kaderkonzepten eine Absage.


    Die Stärke der Linken kann heute genau in diesen kleinen konkurrierenden Protestgruppen liegen, die an vielen Stellen gleichzeitig aktiv sind, in einer Art von politischer Guerillabewegung im Frieden oder im sogenannten Frieden, aber - und das ist, glaube ich, der wichtigste Punkt - in kleinen Gruppen, die sich auf lokale Aktivitäten konzentrieren und in denen sich das ankündigt, was aller Wahrscheinlichkeit nach die Basisorganisation des libertären Sozialismus sein wird, nämlich kleine Räte von Hand- und Kopfarbeitern - von Sowjets, wenn man dieses Wort noch benutzen kann und nicht daran denkt, was mit den Sowjets tatsächlich passiert ist -, etwas, das ich, und das meine ich ganz ernst, als organisierte Spontaneität bezeichnen würde.

    Derartiges haben auch die neuen sozialen und politischen Bewegungen im Sinne, die sich lokal oder regional organisieren und global vernetzen. Von daher ist der kleine zu Klampen Verlag durchaus auf der Höhe der Zeit, wenn er anlässlich des 25. Todestages von Marcuse eine Neuauflage der neunbändigen Werkausgabe des Philosophen auf den Markt bringt. Karin Beindorff.

    In Zeiten, in denen ein so genannter Philosoph wie Francis Fukuyama in gerade einmal zwölf Jahren zuerst das Ende der Geschichte proklamieren und dann den Aufbau von Nationalstaaten fordern kann, ist es kaum verwunderlich, dass solide kritische Theoretiker wie Herbert Marcuse es schwer haben. In den Medien, den Propagandaabteilungen des Zeitgeistes, in denen fundierte philosophische Bildung eher Abwehr und Hohn hervorruft, mag das noch durchgehen. Dass sich aber auch in großen, angesehenen Verlagen zunehmend das kurzatmige Verwertungsdenken breit macht, ist schon weit bedenklicher.

    Marcuses Werke waren in Deutschland weitgehend bei Luchterhand und Suhrkamp zuhause, später wurden sie ganz bei Suhrkamp zusammengeführt, dem Verlag, der in den späten 60er, den 70er und 80er Jahren wie kein anderer das intellektuelle Klima in der Bundesrepublik mitbestimmt hat. Dass dieser Verlag heute die vergriffenen Arbeiten dieses bedeutenden, aus Deutschland einst emigrierten Philosophen nicht selbst neu herausbringt und sie stattdessen dem kleinen Verlag zu Klampen für eine Lizenzausgabe überlässt, läge nur daran, so heißt es bei Suhrkamp, dass man sich eine Neuausgabe aus wirtschaftlichen Gründen nicht zugetraut habe. Man darf ein wenig spekulieren, ob das alles ist, was heute dazu zu sagen wäre. Liegt es vielleicht auch daran, dass man im Verlagsprogramm eine bestimmte Version der Kritischen Theorie nicht mehr fördern mag? Oder sind es auch die Nachwirkungen der politischen Kampagne Ende der 70er Jahre, als Politiker aller Parteien Marcuse in bewusster Ignoranz seines Denkens zum Sympathisanten der RAF stigmatisierten und er auf fahndungsähnlichen Photos zur Hatz freigegeben wurde? Oder liegt es vielleicht auch an der sozialdemokratisch-bulmahnschen Ideologie von einer "Universitätsreform", die im Begriff ist, die kritische Gesellschaftstheorie abzuwickeln und sie aus den Tempeln der Wissenschaft gänzlich zu eliminieren?

    Tatsache ist, dass es an deutschen Universitäten kaum noch Seminare und Vorlesungen zum Werk Herbert Marcuses gibt, dem man doch so überaus großen Einfluss auf die Studentenschaft zu Zeiten der Protestbewegung attestiert hatte. Sein existentialistischer Marxismus, wie Alfred Schmidt das gesellschaftheoretische Konzept Marcuses beschrieben hat, schien eine Weile ganz in Vergessenheit geraten. Allerdings regt sich in jüngster Zeit ein noch zartes Pflänzchen politischen Unbehagens an der totalen Verwertung von allem und jedem, das ohne kritische Analyse und theoretisches Konzept kaum zu einem politischen Bewusstsein mit praktischer Wirkung sich entfalten kann. Diese neue Bewegung, repräsentiert von zahlreichen kleinen Grüppchen, einige zusammengeschlossen in Netzwerken wie z.B. Attac, ist noch auf der Suche nach intellektueller Substanz. Der Erfolg des schwer lesbaren Buches "Empire" von Antonio Negri und Michael Hardt war schon ein erstes Anzeichen dieses Bedürfnisses nach mehr Gesellschaftstheorie. Dass der zu Klampen Verlag nun die wichtigsten Schriften Marcuses auch einem jüngeren Publikum wieder zur Verfügung stellt, ist auch in diesem politischen Zusammenhang ein sehr lobenswerter Schritt.

    Das Verhältnis von Theorie und Praxis hat Marcuse selbst zeitlebens beschäftigt. Sein Interesse für die Philosophie richtet sich nicht auf akademisch reduziertes Wissen, sondern auf das Studium geistiger Erfahrung in der jeweils gegenwärtigen geschichtlichen Situation. Die nun wieder verfügbaren Schriften machen es möglich, die Entwicklung von Marcuses geschichtsphilosophischem Denken auch vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Ereignisse nachzuvollziehen. Seine Habilitationsschrift, von seinem Lehrer Martin Heidegger 1932 schon nicht mehr angenommen, befasst sich mit der Theorie der Geschichtlichkeit vor dem Hintergrund einer neuen Hegel-Interpretation. Stammt noch der Begriff der Geschichtlichkeit aus dem Heideggerschen Denken, so wird schon in dieser Arbeit der Einfluss der Lektüre der Marxschen Frühschriften deutlich. Wesentliche Elemente des später von Jean Paul Sartre vertretenen linken Existenzialismus werden hier bereits vorweggenommen. Zehn Jahre später, schon im Institut für Sozialforschung in der US-amerikanischen Emigration arbeitend, war es der Sieg des Faschismus, der Marcuse dazu brachte, sich noch einmal grundlegend mit der Hegelschen Philosophie und ihrer Rolle für die Entstehung der Gesellschaftstheorie zu befassen. Hegels Grundbegriffe, schrieb er im Vorwort zu "Vernunft und Revolution", stünden denjenigen Tendenzen feindselig gegenüber, die zu faschistischer Theorie und Praxis geführt hätten.

    Auch der Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, einer politikwissenschaftlichen Studie aus dem Jahr 1957, wünscht man noch einmal viele Leser. Sie widerlegt nämlich unter anderem den auch in Teilen der Linken gehegten Unsinn, erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hätte man begreifen können, was sich im Reich der KPDSU abgespielt habe. Marcuse unterzieht die Kategorien der sowjetischen Marxismus-Ideologen einer strengen Analyse. Besonderen Ärger von allen Seiten trug ihm seine These von der Tendenz zur Angleichung ein, die besagte, dass die Verstaatlichung allein noch nicht den wesentlichen Unterschied beider Gesellschaftssysteme ausmachte, solange die Produktion über die Köpfe der Bevölkerung hinweg zentralisiert und kontrolliert werde. Man konnte im Kalten Krieg also durchaus politische Bücher schreiben, ohne dessen ideologischen Prämissen auf der einen oder anderen Seite zu verfallen.

    Auch heute noch oder vielleicht sogar wieder von einigem gesellschaftstheoretischem Nutzen sind die Bücher: "Triebstruktur und Gesellschaft" und "Der eindimensionale Mensch". Die Freudsche Trieblehre war in der Emigration in den USA mehr und mehr ins Zentrum der Arbeiten der kritischen Theoretiker gerückt. Die geschichtlichen Ereignisse, Stalinismus und Faschismus, waren ohne sozialpsychologische Kategorien kaum mehr interpretierbar. Marcuse begann die Freudsche Lehre geschichtsphilosophisch zu deuten, eine Kultur ohne Unterdrückung schien ihm möglich. Im eindimensionalen Menschen, zu Zeiten der Protestbewegung wohl das meistgelesene Buch Marcuses, wird der totale Charakter der Errungenschaften der fortgeschrittenen Industriegesellschaften analysiert. Der Produktionsapparat tendiert zum Totalitären, und die Menschen werden ohne offenen Terror zur totalen Anpassung gezwungen: Kritiklos ist der eindimensionale Mensch, mit sich und den Verhältnissen im Reinen, unfähig geworden, die Bedingungen seiner reduzierten Existenz noch zu erkennen. Ein Gedanke, der heute an Aktualität eher noch gewonnen haben dürfte.

    Befreiung war für Marcuse, anders als für Marx, deshalb nur noch von den Rändern der Gesellschaft zu erwarten, von dort, wo diese Anpassung nur unvollständig gelingen konnte. Marcuse hat, im Gegensatz zu anderen kritischen Theoretikern, bekanntlich die verschiedenen Protest– und Befreiungsbewegungen begrüßt, sie diskutierend unterstützt, aber auch mit ihnen gestritten. Er hatte schon 1940 den US-amerikanischen Pass angenommen, wollte nach 45 nicht nach Deutschland zurückkehren, und als er 1979, vor 25 Jahren, auf einem Besuch in Starnberg starb, war er hier schon wieder zum Staatsfeind geworden.

    Wenn die Vernunft als "die vernünftige Organisation der Menschheit" verwirklicht worden sei, hatte Marcuse in seinem nun wieder veröffentlichten Aufsatz über Philosophie und Kritische Theorie geschrieben, dann sei die Philosophie gegenstandslos geworden. So gesehen scheint es, als müsse sich die Philosophie um ihre Existenz zur Zeit keine ernsten Sorgen machen.


    Karin Beindorff über Herbert Marcuse, Schriften in neun Bänden. Die Kassette umfasst insgesamt 3015 Seiten und ist nur geschlossen zu beziehen beim Verlag zu Klampen in Springe. Preis: 98 Euro.
    Ebenfalls bei zu Klampen gibt Peter-Erwin Jansen die nachgelassenen Schriften von Herbert Marcuse heraus. Als Band 4 ist zuletzt erschienen:
    "Die Studentenbewegung und ihre Folgen." 252 Seiten, 24 Euro.