Archiv


Herbert, Ulrich: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland

Die Ausländerpolitik wird in den nächsten Wochen und Monaten eines der beherrschenden politischen Themen sein . Die öffentliche Diskussion läuft seit Jahren, wird sich aber in nächster Zeit zuspitzen, wenn die Kommissionen der Parteien und der Bundesregierung ihre Berichte vorlegen. Die Debatte schwankt zwischen Integration und Abwehr, zwischen Arbeitskräftebedarf und Überfremdungsangst, zwischen Toleranz und Ausgrenzung. Da ist Orientierung gefragt. Die bietet Ulrich Herbert mit seinem neuen Buch. Der Freiburger Zeithistoriker schildert in einer ersten Gesamtdarstellung Wege und Irrwege der deutschen Ausländerpolitik - von den Anfängen im Kaiserreich bis zur aktuellen Situation im wiedervereinigten Deutschland. Eine Rezension von Renate Faerber-Husemann:

Renate Faerber-Husemann | 09.04.2001
    Wie sich die Dinge gleichen - über eine Zeitspanne von 120 Jahren! Ob es Ende des 19. Jahrhunderts um das Anheuern von Polen wegen der "Leutenot" auf den großen Gütern im Osten ging, ob heute der Fachkräftemangel durch das Engagement von , so das geringschätzige Kürzel, "Computer-Indern" gelindert werden soll, stets wurde und wird schon vor der Anwerbung dringend notwendiger Arbeitskräfte überlegt, wie man sie wieder loswerden kann, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Damals ließ man nur Ledige als Saisonarbeiter ins Land und achtete streng darauf, dass sie sich nicht etwa durch eine Heirat die Eintrittskarte nach Deutschland erschlichen. Heute geht es um zeitlich begrenzte Aufenthaltserlaubnis und allerlei Erschwernisse beim Familienzuzug. Der Einladung ist sozusagen die Ausladung gleich beigelegt. Vor 120 Jahren wurde das Gespenst der "Polonisierung" des deutschen Ostens beschworen, heute herrscht Überfremdungsangst nicht nur in Berlin-Kreuzberg. Und auch die Warnung vor der Verdrängung der einheimischen Bevölkerung ist kein neues Phänomen, vermutete doch schon im Jahre 1885 die "Posener Zeitung" :

    Stellen doch gerade die östlichen Provinzen ein großes Kontingent der deutschen Auswanderer! Ist das nicht ein Beweis dafür, dass unsere eigenen Reichsgenossen durch Fremde aus der Heimat vertrieben werden?

    In Wahrheit ging es Ende des 19. Jahrhunderts darum, dass die Deutschen unsägliche Arbeitsbedingungen zu Niedrigstlöhnen nicht mehr hinnahmen und sich die Wirtschaft nach Arbeitskräften umsah, die bereit waren, zu ihren Bedingungen zu arbeiten. Ähnliches erlebte man bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges wieder: Ob Müllabfuhr, ob Bergwerke, ob Straßenbau oder Reinigungsdienste, Ausländer füllten die Lücken. Die deutschen Arbeitnehmer überließen schmutzige, anstrengende, schlecht bezahlte Arbeiten zunächst Italienern, Spaniern, Jugoslawen, später den Türken.

    Ulrich Herbert, exzellenter Kenner der Materie mit zahlreichen Veröffentlichungen zur Ausländerpolitik und zur NS-Zeit, hat mit seinem Buch "Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland" ein Standardwerk vorgelegt. Erstmals gibt es eine Gesamtschau über eine lange Zeitspanne hinweg, von den Saisonarbeitern im vorletzten Jahrhundert über die Zwangsarbeiter, die Gastarbeiter bis zu den Flüchtlingen von heute. Der Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg hat schon in seinen früheren Büchern bewiesen, dass er nicht für die Kollegen schreibt, sondern äußerst meinungsfreudig - stets die an Geschichte und Politik interessierten Laien im Blick hat. Und wie immer ist man nach der Lektüre eines Buches von Ulrich Herbert schlauer als zuvor. Sein Resümee aus 120 Jahren für die Ausländer meist leidvoller Geschichte ist:

    Ausländer waren niemals nur willkommene Arbeitskräfte. Stets waren sie auch Objekte wirtschafts- und bevölkerungspolitischer Kalkulationen sowie Zielscheibe völkischer und rassistischer Diffamierungen.

    Mit einer Fülle von Zahlen und Fakten belegt Herbert, dass Ausländer stets als manövrierbare Masse auf dem Arbeitsmarkt behandelt wurden, nicht als Einwanderer. Dass sie benutzt wurden, aber ausgegrenzt blieben. Wer weiß heute schon noch, dass beispielsweise schon während des Ersten Weltkrieges Zwangsarbeiter in großer Zahl beschäftigt wurden? Bei Kriegsausbruch 1914 verweigerte man beispielsweise 300.000 Polen die Heimreise, zwang sie, vor allem in der deutschen Landwirtschaft weiter zu arbeiten. Ihre unmenschlichen Lebensbedingungen, Misshandlungen durch Arbeitgeber und Polizei beschäftigten 1916 sogar den Reichstag.

    In Aufsätzen und Reden zwischen 1918 und 1933, also lange vor Beginn des NS-Terrors, wimmelt es geradezu von Begriffen wie "tiefstehende Ausländer", "kulturell niedrig stehende Bevölkerungskreise", "mangelnde Sauberkeit und unhygienische Lebensweise", und immer wurden die "großen Gefahren für den deutschen Volkskörper" beschworen. Das erklärt ein Stück weit die erschütternde Gleichgültigkeit gegenüber dem Elend der Zwangsarbeiter während des 2. Weltkrieges. Die Nazis mussten nur fortentwickeln, was in den Köpfen schon verankert war. Herbert schreibt:

    Das machte das Funktionieren des nationalsozialistischen Arbeitseinsatzes aus: dass die Praktizierung des Rassismus zur täglichen Gewohnheit, zum Alltag wurde. ...Es gab in Deutschland, was den Arbeitseinsatz der ausländischen Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg anging, seit den 60er Jahren kein Schuldbewusstsein, kein verbreitetes Gefühl, dass es sich dabei um ein Unrecht und ein Verbrechen gehandelt habe.

    Das mag erklären, warum der größte Teil der Zwangsarbeiter erst 56 Jahre nach Ende der Nazizeit eine kleine Entschädigung für die Leidenszeit in Deutschland erhalten wird.

    Bald nach Kriegsende wurden wieder ausländische Arbeitnehmer ins Land geholt. Die Wirtschaft boomte, die Arbeitszeiten wurden bei steigendem Arbeitskräftebedarf kürzer. Außerdem sollte die "familienpolitisch unerwünschte stärkere Frauenarbeit" verhindert werden - und so wurde schon 1955 das erste Anwerbeabkommen mit Italien unterzeichnet. Die Gastarbeiter aber blieben, anders als von den Regierungen geplant, und holten ihre Familien nach Deutschland. Trotz des Anwerbestopps von 1973 wuchs die ausländische Wohnbevölkerung weiter, bei hoher Arbeitslosigkeit in den 80er und 90er Jahren. Beide Seiten, die Deutschen und die hier lebenden Ausländer, litten unter einer Vielzahl von sozialen Problemen, die viel zu tun hatten mit der bis vor kurzem gepflegten Illusion, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Dieser Satz findet sich sogar noch wörtlich in den schwarz-gelben Koalitionsvereinbarungen vom Herbst 1982. Mit der wachsenden Zahl der Ausländer, denen man es durch hohe bürokratische Hürden fast unmöglich machte, zu "Inländern" zu werden, wuchsen die Probleme, die fast alle mit verweigerter Integration zu tun hatten. Wieder ging die Angst vor Überfremdung um, wieder wurde unterstellt, Ausländer nähmen den Deutschen Wohnungen und Arbeitsplätze weg. In den Schulen gab es Schwierigkeiten, vor allem, als zusätzlich zu den ausländischen Arbeitnehmern eine große Zahl von Aussiedlern, Asylsuchenden, Bürgerkriegsflüchtlingen nach Deutschland kamen.

    Schätzungsweise acht Millionen Ausländer leben heute in Deutschland und die Haltung ihnen gegenüber schwankt zwischen "Ausländer raus" und multikultureller Euphorie. Trotz des Wissens, dass das Land mit seiner schrumpfenden und grau werdenden deutschen Bevölkerung auf Zuwanderung angewiesen ist, trotz eines endlich entrümpelten Staatsangehörigkeitsrechts beherrschen eher Emotionen als Pragmatismus die Diskussion. Und doch ist die Bilanz des wohl besten Kenners deutscher Ausländerpolitik versöhnlich. Ulrich Herbert blickt zwar im Zorn zurück, traut aber Deutschen und Ausländern dennoch eine gemeinsame Zukunft zu:

    Auf der einen Seite eine furchtbare Tradition von Fremdenhass, Rassismus und millionenfacher Zwangsarbeit - auf der anderen Seite aber leben derzeit etwa acht Millionen Ausländer in Deutschland, von denen mittlerweile große Teile über einen gesicherten Rechtsstatus, Anspruch auf sozialstaatliche Leistungen und einen vergleichsweise hohen Lebensstandard verfügen. Auf der einen Seite ein in seinen Dimensionen und Verwurzelungen noch nicht völlig übersehbares Potential radikaler Ausländerfeindlichkeit und rassistischer Gewalttätigkeit - auf der anderen Seite ein auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern hohes Maß der Integration vor allem der seit langem hier lebenden Ausländer und eine ebenfalls im europäischen Maßstab hohe Akzeptanz dieser gesellschaftlichen Realität in der deutschen Bevölkerung.

    Renate Faerber-Husemann rezensierte Ulrich Herberts jüngste Arbeit: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Erschienen ist das Buch im C.H.Beck Verlag. München. Es ist 400 Seiten dick und kostet 48 Mark.