Archiv


Herbst der Chimären

Algerien Anfang 1992. Der Traum von der Demokratie ist geplatzt. Nachdem die islamistische Partei Front Islamique du Salut , kurz FIS, den ersten Wahldurchgang gewonnen hat, greift die Armee ein. Sie verbietet die FIS und verhängt den Ausnahmezustand. Seitdem herrscht in Algerien ein blutiger Bürgerkrieg, für den Regierung und Islamisten sich gegenseitig die Schuld zuschieben. Nur wenig substantielle Informationen drangen in den letzten Jahren nach außen. Man spricht von einem Krieg, der hinter verschlossenen Türen geführt wird.

Sibylle Kroll |
    Einen Streifen Licht scheinen drei Kriminalromane in dieses Dunkel zu bringen, die 1997/98 unter dem mysteriösen Pseudonym Yasmina Khadra in Paris verlegt wurden. Diese drei Krimis sind als Serie, als Trilogie, gedacht und spielen allesamt in Algier. Die algerische Hauptstadt, in der Kommissar Brahim Llob seine Ermittlungen führt, ist eine düstere, kranke Stadt, die mit dem Bild der lichtdurchfluteten weißen Metropole nichts mehr gemein hat. Der Ich-Erzähler Kommissar Llob ist kein Supermann, sondern ein normaler Familienvater. Abgesehen von seiner unbestechlichen Hartnäckigkeit und seinem Gerechtigkeitssinn ist er mit keinerlei außergewöhnlichen Fähigkeiten ausgestattet. Für den arabischen Leser wird er durch den Namen Llob, der harte Schale bedeutet, als Mann mit rauher Schale und weichem Kern charakterisiert. Mit trockenem, oftmals sarkastischem Humor kommentiert er knapp die Begebenheiten, die er während seiner Untersuchungen beobachtet.

    Im ersten Band, "Morituri", wörtlich die Totgeweihten, führt die Spur der verschwundenen Tochter eines einflussreichen Politikers zu Abu Kalybse - einem Emir, der eine islamistische Terrororganisation leitet und gezielt oppositionelle algerische Intellektuelle ermorden lässt. Doch Yasmina Khadra beschränkt sich nicht darauf, die Fundamentalisten anzuklagen: "Die Islamisten sind nicht verantwortlich für die algerische Tragödie (...) Es sind Monster, Schlächter, sie massakrieren Frauen und Kinder, sie haben ein ganzes Land niedergebrannt, sie zerstören es, sie sind schuldig aber nicht verantwortlich (...) Dieses Land wird von Hunden angeführt (...) deshalb klage ich weniger die Terroristen an als das System (...) Es ist das alte System, (...) das immer regiert hat und noch immer regiert (...) das ist das Drama.

    Gemeint sind hier die nach wie vor herrschende Einheitspartei FLN, ihre Klienten und die Nutznießer des Systems. So entlarvt Kommissar Llob in "Morituri" die Machenschaften korrupter Mitglieder der Polizei, der Regierung und der mafiösen Finanzelite. Abu Kalybse, das darf man vorwegnehmen, wird zur Strecke gebracht, doch wird er mehr als Symptom, denn als Ursache des Übels dargestellt. In "Doppelweiß", dem zweiten Teil der Trilogie, klärt Llob den Mord an einem ehemaligen Diplomaten und Regimekritiker auf. Hier werden noch stärker die Interessengruppen im Umfeld reicher Industrieller ins Visier genommen, die nichts so sehr fürchten wie die notwendige Liberalisierung der algerischen Wirtschaft. Um ihre Privilegien zu schützen, schrecken sie nicht davor zurück, die Fundamentalisten zu instrumentalisieren.

    Herbst der Chimären bildet den Abschluss der Serie um Kommissar Llob: Ein Kriminalroman, den man am besten würdigen kann, wenn man die vorangegangenen Fälle bereits kennt. Denn die meisten Figuren sind alte Bekannte aus "Morituri" und "Doppelweiß". Doch ist diesmal alles anders: Der gealterte, desillusionierte Kommissar hat in "Herbst der Chimären" keinen klassischen Fall zu lösen.

    In der Hauptstadt, die chaotischer und unübersichtlicher denn je erscheint, und im Hinterland sind der gewaltsame Tod, die Atmosphäre von Angst und Verzweiflung zum Alltag geworden. Der in Frührente entlassene Kommissar Llob wird selbst zur Zielscheibe von Mördern, die er vergeblich zu packen versucht. Wer sind die Auftrageber: Die Fundamentalisten? Korrupte Politiker? Die Finanzmafia?

    Sie alle hätten eine Rechnung mit Llob zu begleichen, und sie alle stören sich daran, dass der Kommissar zum engagierten Schriftsteller wurde. Es ist nämlich durchgesickert, dass Kommissar Llob unter dem Pseudonym 'Yasmina Khadra' einen regimekritischen Kriminalroman mit dem Titel "Morituri" verfaßt hat. Mohammed Moulessehoul, der tatsächliche Autor der Trilogie, der im Dezember letzten Jahres seine wahre Identität enthüllte, erklärt diesen ungewöhnlich deutlichen autobiographischen Bezug:

    Ich habe "Herbst der Chimären" für meine Leser und für all die geschrieben, die mich unterstützten aber nach meiner Identität fragten. Ich habe dieses Buch geschrieben, um ihnen zu sagen, Yasmina Khadra ist das Pseudonym eines Mannes, und um zu sagen, wenn ihr weiter versucht ihn zu entschleiern, dann wird ihm das passieren, was im Roman Kommissar Llob passiert. Das war meine Botschaft. Manche haben das verstanden. Es gab Reaktionen in der Presse; Journalisten baten Kollegen, mit der Suche aufzuhören, um mich nicht in Probleme oder in Lebensgefahr zu stürzen.

    Angesichts der kernigen, harten Sprache und des offenkundigen Insiderwissens waren schon bald nach Erscheinen von "Morituri" erste Zweifel an der Identität der phantomhaften Yasmina Khadra aufgekommen. Doch der brisanteste Aspekt dieses
    Coming out ist nicht die Tatsache, dass Moulessehoul ein Mann ist, sondern vielmehr der Umstand, dass er bis zu dieser Enhüllung ein hochrangiger Offizier der algerischen Armee war:

    "Meine Enthüllung war ein Schock für ganz Algerien, und vor allem für die Armee. Bis heute sprechen die Leute darüber. Yasmina Khadra war zum Mythos geworden. Wer war dieser Autor? Algerier oder vielleicht Franzose? Und plötzlich stellt sich heraus, dass er Soldat war (...) Das stört sehr.

    Mohammed Moulessehoul wurde mit 9 Jahren von seinem Vater zur Militärschule geschickt:

    Ich war 11 Jahre auf dieser Schule. Nach meinem Abitur war ich auf der Militärakademie in Cherchell. Es stimmt, dass ich mir viele Fragen stellte, und ich selber eine Wahl treffen wollte, aber ich habe niemals gelernt zu wählen. Im Gegenteil, ich habe nur gelernt zu gehorchen. (...) Bei uns in Algerien ist der Vater sehr wichtig, man muss ihm gehorchen. Ich habe gehorcht und bin auf die Akademie gegangen, um Offizier zu werden.

    Der Kindheitstraum Schriftsteller zu werden, zwang Moulessehoul schließlich dazu, ein Doppelleben führen und seine brisantesten Bücher unter den Vornamen seiner Frau zu veröffentlichen. Heute stellt man ihm natürlich viele Fragen zur Rolle der Armee in der algerischen Tragödie. Doch diese Fragen beantwortet er meist ausweichend:

    Ich wollte immer Schriftsteller sein. Aber heute, wegen meines militärischen Status, bin ich gezwungen diese Fragen, die mich zu einem Verdächtigen machen, zu beantworten. Und ich weigere mich auf diese Fragen zu antworten. Verstehen Sie? Ich weigere mich aus Vorsicht. Ich will Schriftsteller sein. Das ist mein Leben. Und ich glaube sehr schöne Bücher geschrieben zu haben. Daher habe ich es verdient, dass man mich nicht immer nur als Soldat sieht.

    Morituri , Doppelweiß und Herbst der Chimären sind zupackend geschriebene, temporeiche und hochspannende Kriminalromane, was durch die brillanten Übersetzungen von Regina Keil-Sagawe bestens zur Geltung kommt. Zahlreiche Momentaufnahmen bilden auf eindrucksvolle Weise Stimmung und Alltag in Algier ab. Eine Schwäche jedoch ist nach der Selbstenthüllung des Autors umso augenfälliger. Sein Bestreben, die wahren Schuldigen der nationalen Katastrophe zu entlarven, wird durch einen blinden Fleck gemindert: Jene Armee, die 1992 den Demokratisierungsprozess in Algerien stoppte und deren Rolle zuletzt sogar von einem einstigen Offizierskollegen heftig kritisiert wurde, kommt in der Trilogie von Yasmina Khadra praktisch nicht vor. Für den im Exil lebenden Autor scheint die Armee heute wie ein Vater zu sein, den man nicht in Zweifel zieht. Hat er mehr gesehen als er sagen will oder darf? Diese Frage bleibt unbeantwortet. Doch Yasmina Khadra weiß, dass sie ihm noch häufig gestellt werden wird.