Aertsen: Das ist immer schwer zu sagen. Wenigstens werden die alten Paradigmen in Frage gestellt, und das wichtigste Paradigma ist sicher Häusinger. Häusingers Mittelalterbild wendet sich gegen Jakob Burckharts Renaissance-Bild, also Frühling der Neuzeit. Herbst des Mittelalters. Und Anlass für Häusingers Buch war auch eine Kunstausstellung, die Werke der Brüder van Eyck. Burckhart hat versucht, das zu zeigen. Das ist ein Exempel der nördlichen Renaissance und Häusinger sagt wörtlich: Die Werke der Brüder Eyck schmecken mittelalterlich und sind mittelalterlich. Ausblühen, Überreife, nicht Anfang einer neuen Epoche.
Hatting: Das heißt also, das Spätmittelalter ist im Sinne von Häusinger noch die Nachwehen einer bestimmten Epoche und eben gerade nicht die Geburtswehen einer anderen. Kann man das so sagen?
Aertsen: So ist es. Aber es ist noch schwer zu übersetzen. Das sieht man auch an den unterschiedlichen Übersetzungen seines Werkes. Herbst des Mittelalter in Deutsch. In Frankreich: Le décan, also der Niedergang. Aber bei Häusinger ist das ambivalent. Es ist nicht nur der Niedergang. Es ist auch Vollendung in gewissem Sinne, also Ernte.
Hatting: Gut. Ich meine, damit etwas Neues entsteht, muss immer das Alte vergehen. Das ist eigentlich klar. Also mit anderen Worten: Der Aufbruch ist irgendwie immer die Kehrseite eines Untergangs. Wieso macht es denn einen großen Unterschied, ob ich das Spätmittelalter als Frühling der Neuzeit oder als Herbst des Mittelalters interpretiere?
Aertsen: Das ist eine interessante Frage. Also, wir diskutieren noch ein anderes Paradigma. Hans Blumenberg, einflussreich vor allem hier in Deutschland. Also, wir reden von der Legitimität der Neuzeit. Und er versteht die Neuzeit als den notwendigen, den stoisch notwendigen Anfang einer Epochenschwelle. Und das hängt für ihn zusammen mit dem Nominalismus. Der Nominalismus hat also die Rationalität dieser Welt in Frage gestellt, also die Allmacht Gottes. Gott ist nicht gebunden an diese Welt. Also, Wilhelm von Ockhan redet auch von der Ohnmacht der Vernunft. Und die Neuzeit ist dann die legitime Selbstbehauptung Décartes', der menschlichen Vernunft. Also, er wertet das Spätmittelalter sehr negativ, aber in der Auseinandersetzung mit Blumenberg hat zum Beispiel Heiko Obermann, also die Theologin, die letztes Jahr gestorben ist, gerade das Innovationspotenzial des Nominalismus, also des spätmittelalterlichen Denkens. Den Nominalismus kann man als das Ende des Mittelalters sehen, aber andererseits gerade als den Anfang von etwas Neuem.
Hatting: Aber ist nicht gerade Roland von Ockem, diese Kritik an der Scholastik, nicht nur dir Philosophie als Markt der Theologie zu sehen, sondern im Grunde genommen zu versuchen, wissenschaftliche Kriterien zu finden, wie man Gott beweisen kann - ist das nicht eigentlich auch eine Grundsteinlegung dann der modernen Wissenschaftstheorie? Sie haben Décartes genannt.
Aertsen: So kann man es auch sehen, dass gerade Nominalismus und das Moderne, die Modernität, dass gerade der Ursprung der Modernität im Nominalismus zu suchen ist. Das sprechen wir gerne als Thema unserer Tagung an. Das möchten wir versuchen zu bewerten. Ist es wirklich nur ein Ausblühen oder ist es bereits eines Ankündigung von etwas Neuem.
Hatting: Aus meinem Geschichtsunterricht ist mir besonders ein Attribut für das Mittelalter haften geblieben, und zwar die Dunkelheit. Das dunkle Mittelalter, von dem sich dann um so strahlender Renaissance und Humanismus mit ihren Wissenschaftsakademien und ihrer Emanzipation von der Knute der Theologie, abheben. Was ist denn im Licht neuester Erkenntnis noch dran an diesem Klischee?
Aertsen: Das ist völliger Quatsch. Bedenken Sie eines zum Beispiel: Das sagen mir ja auch immer die Studenten. Also Universität zum Beispiel. Die Uni Köln wurde 1388 gegründet. Die Universität ist vielleicht einer der gelungensten Schöpfungen des Mittelalters. Eine erstaunliche Kontinuität bis heute, und wir können uns fast nicht vorstellen, dass es eine Zeit ohne Universität gab, also das intellektuelle Leben wird durch die Universität beherrscht. Das ist eine mittelalterliche Schöpfung. Das ist wirklich ein Klischee.
Hatting: Mir ist aufgefallen. Das betonen Sie auch in der Ankündigung der Medialistentagung, dass sehr viele osteuropäische Kollegen dabei sind. Gibt es da verschiedene Traditionen in der osteuropäischen Medialistik im Vergleich zur westeuropäischen?
Aertsen: Gibt es sicher, ja. Wir haben als Thomas-Institut intensive Zusammenarbeit mit den Kollegen in Sofia in Bulgarien. Wir haben noch vor zwei Jahren dort, auch mit bulgarischen Studenten, eine gemeinsame Konferenz, ein Arbeitsseminar gemacht. Ja, das ist auch eine andere Bildqualität. Also die griechisch orthodoxe Tradition ist etwas anderes als die mittelalterliche Scholastik-Tradition. Und es ist interessant zu sehen - wir haben damals auch ein Kommentar des Thomas von Aquin gelesen -, dass die bulgarischen Kollegen das mit etwas anderen Augen lesen als wir. Wir sind mit bestimmten Normen der Rationalität vertraut. Sie haben einfach eine andere Annäherung, eine andere Spiritualität, einen anderen spirituellen Hintergrund. Das ist sehr fruchtbar.
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