Dienstag, 30. April 2024

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Herdecke im Westen - Marienberg im Osten

Maurice Gully kommt aus dem Ruhrpott im Westen, Katja Schönherr aus dem Erzgebirge im Osten. 20 Jahre nach dem Mauerfall möchten sie "den anderen Teil Deutschlands" endlich besser kennenlernen und besuchen sich in ihrer Heimat.

Von Maurice Gully und Katja Schönherr | 27.09.2009
    Maurice Gully:

    "In 200 Metern haben Sie Ihr Ziel erreicht."

    Es ist Samstag, Samstagmorgen im sächsischen Marienberg. Wir fahren gerade auf das Gelände eines stillgelegten Bergwerks.

    "Sie haben Ihr Ziel erreicht."

    Eine alte Bergschmiede wurde vor Kurzem wieder aufgebaut und dient heute als Museum. Die Holzvertäfelung in der Schmiede riecht ganz frisch und neu. In der Mitte des Raumes steht ein Schmiedehammer, der noch funktioniert.

    Das alte Erzbergwerk ist der Ausgangspunkt unserer 48-stündigen Reise durch das Erzgebirge. Es ist Katjas Heimat - die sie mir, dem Ruhrpöttler, nun zeigt. Mehr Osten geht in Deutschland kaum: Tschechien, oder "die Tschechei", wie hier alle noch sagen, ist nur 15 Kilometer entfernt.

    Auf dem Gelände des alten Erzbergwerkes treffen wir den Oberbürgermeister von Marienberg, Thomas Wittig: ein sympathischer Mann mit Bart - und Lokalstolz. Zusammen gehen wir zum Rudolphs-Schacht, in dem heute noch Führungen stattfinden.

    "Hier geht's runter - bis 20 Meter wird der Fördervorgang ausgeführt. Und man kann auch bis 20 Meter den Schacht begehen. Und man kann hier einfahren - auch wenn die Bergleute Leitern steigen, das heißt so. Und man kann dann also hier einfahren, hat das Gefühl, wie es früher im Erzbergbau gewesen ist ... Dann sind nicht weitere 20 Meter nicht mehr zugänglich - und eigentlich kann man hier 100 Meter runter und dann ist man hier auf Wasser."

    Thomas Wittig ist stolz auf die Museumsanlage am Rudolphs-Schacht. Für ihn bleibt so ein wichtiges Stück Geschichte des Erzgebirges lebendig - die prägend für die Menschen war und bis heute immer noch ist. Schon jetzt, ganz am Anfang dieser Kennenlern-Reise, bin ich das erste Mal überrascht: So schnell hätte ich Parallelen zu meiner Heimat, dem Ruhrgebiet, nicht erwartet. Bergbau-Tradition und das "Steigerlied" hatte ich gedanklich immer nach Bochum oder Bottrop verfrachtet. Aber auch im Osten wird's gesungen:

    "Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt ... jetzt höre ich auf, sonst gehen sie ... - also ein traditioneller Erzgebirgler steht auf, wenn dieses Lied gespielt wird. Das ist die heimliche Hymne des Erzgebirges. Wenn ich jetzt mal von mir persönlich das Gefühl beschreiben darf: Man kommt dann irgendwie zu seinen Wurzeln. Und ich denke, dass es das ist: Das hat ja was mit Tradition zu tun."

    Wir verlassen den Schacht. Draußen ist es noch etwas kühl und diesig. Der Anfang unseres Wochenend-Experiments ist gemacht. Zwei Tage wird Katja insgesamt Zeit haben, mir ihre Heimat - das Erzgebirge - näher zu bringen. So tief im Osten war ich noch nie. 20 Jahre nach der Wende wird es aber Zeit, einmal eigene Grenzen zu überwinden, und ganz ans andere Ende Deutschlands zu fahren. Mehr als 500 Kilometer von Herdecke entfernt.

    Es ist Samstag. Samstagmorgen im nordrhein-westfälischen Herdecke. Wir sind jetzt also im Pott. In Maurices Heimat. Zu meiner Überraschung liegt dieses 25.000-Einwohner-Städtchen mitten im Grünen. Kein einziges Ruhrpott-Klischee von Schmutz und Dreck greift.

    Die kleine Einkaufsstraße im Zentrum wird von schwarz-weißen Fachwerkhäuschen gesäumt. Rote Geranien schmücken das Rathaus. Die Innenstadt ist belebt an diesem Morgen. (Atmo Brunnen) Und der Viehmarktbrunnen, an dem wir stehen, plätschert aufgeregt vor sich hin. Strahlend, ja fast staatsmännisch kommt Hans Werner Koch auf uns zu. Wir sind verabredet. Ich frage den bis vor Kurzem amtierenden Bürgermeister, was das Besondere an Herdecke ist.

    "Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Wir liegen hier natürlich sehr schön an der Ruhr, zwischen den beiden Ruhrseen, am Fuße des Ardeygebirges. Und man meint ja, wenn man hört, dass sich Herdecke am Rande des Ruhrgebiets befindet, dass das hier der Ruhrpott ist. Es ist heute ganz schwierig, überhaupt noch den typischen Ruhrpott zu finden, denn das Ruhrgebiet ist an vielen, vielen Stellen heute grün."

    Wir flanieren durchs Zentrum. Hans Werner Koch wird von vielen Herdeckern gegrüßt. Wenn er von Herdecke erzählt, dann ist er auch schnell bei den umliegenden Städten wie Hagen oder Dortmund, die sich fast schon in Laufweite befinden. Es ist schwer für Herdecke, mit den größeren Ruhrpott-Städten mitzuhalten. An manchen Punkten hält er das Städtchen aber durchaus für konkurrenzfähig.

    "Vielleicht gibt es eine gewisse Konkurrenz. Denn mindestens die Hälfte aller BVB-Spieler, der Präsident des BVB und neuerdings auch der Trainer wohnen hier in Herdecke. Also, ich sag mal, mindestens bei der Wohnqualität können wir uns mit Dortmund messen."

    Mit der Wohnqualität vielleicht. Beim Angebot für Jugendliche sieht Hans Werner Koch aber noch Verbesserungspotenzial.

    "Was wir leider immer wieder feststellen, ist, dass wir ab einer Altersgruppe von 16 aufwärts natürlich sehr wenig Attraktives anzubieten haben. Für Jugendliche - da bin ich auch etwas ratlos, muss ich sagen. Wir haben zwar Häuser der offenen Tür, aber der 16-Jährige, der 18-Jährige, der gerne in der Disko abends abhängen will, der muss sich ein bisschen bewegen."

    Wir spazieren weiter durch Herdecke. Beschauen die kleinen Häuschen, Maurice zeigt mir Orte seiner Kindheit. Mir fällt die hohe Frisör-Dichte auf. Kurz darauf treffen wir die Jugendlichen Robin, Lena und Eva. Sie hocken auf einem Mäuerchen. Ihnen scheint hier nichts zu fehlen.

    Robin: "" Das find ich super hier in Herdecke, find ich echt schön hier. Ich spiele in einer Band, in einer Schülerband, und ich treffe mich viel mit Freunden und so.""

    Noch gehen die drei zur Schule. Was sie danach machen wollen, wissen sie nicht. Und sie könnten sie es sich nicht vorstellen, ihre Heimat je zu verlassen.

    Robin: "Also ich will eigentlich nicht so richtig gerne aus Herdecke wegziehen. Weil ich bin hier aufgewachsen, geboren, ich will hier eigentlich auch ganz gerne bleiben. Ich will eigentlich nicht richtig gern aus Herdecke wegziehen, ich bin hier aufgewachsen, ich bin hier geboren, ich will hier eigentlich auch gerne bleiben."

    Auch der Auftakt unseres West-Wochenendes ist gelungen. Ich bin gespannt, was Maurice mir hier noch zeigen wird.

    Maurice Gully:

    Es ist früher Samstagnachmittag in Marienberg. Wir fahren vom Rudolphs-Schacht durch die Innenstadt. Die kleine Stadt mit ihren knapp 14.000 Einwohnern ist mir auf Anhieb sympathisch: Viele der meist nur zweistöckigen Häuser sind frisch renoviert und leuchten in hellem Gelb oder Rosa. Auch hier schmücken rote Geranien das Rathaus. Wie bei mir zu Hause in Herdecke.

    Wir fahren raus aus dem Stadtkern - weiter zu dem Haus, in dem Katja aufgewachsen ist. Es ist eine typische Plattenbausiedlung. Obwohl alle Fassaden bunt renoviert sind, wirken sie auf mich trostlos. Kein einziges Kind tobt um diese Zeit auf den Spielplätzen. Und auch auf den Straßen: kaum Menschen. Wir fragen uns, was Jugendliche hier wohl am Wochenende machen?

    Zufällig treffen wir Nico. Wir kommen ins Gespräch. Der 21-Jährige ist gerade auf dem Weg zu seinen Freunden. Er nimmt uns spontan mit und kündigt uns per Handy an:

    "Die sind vom Radio - die machen so cooles Zeug ... .Vom Radio! Ja, ich komm gleich mal runter, also mach Dich schon mal hübsch. Alles klar, nein wirklich, also bis gleich!"

    Wir gehen ein paar Minuten durch einen kleinen Wald zu einer Garagensiedlung. Hier haben Nico und seine Freunde Alex und Manu ihre eigene Party-Garage eingebaut: Durch ein kleines Fenster am hinteren Ende fällt Licht auf die selbst gezimmerte Theke. Davor stehen alte Sofas. Fliegen-Klebeband baumelt von der Decke. Auf dem Tisch stehen Pizza und Bierreste vom letzten Abend.

    "Am Wochenende sind wir meisten so zehn Mann aufwärts. Was soll ich da groß erzählen? Man kommt halt hierher, trifft sich hier und dann geht es abends los. Und dann wird auf dem Tisch getanzt."

    Die Party-Garage wirkt gemütlich. Nicos Freund Alex hat sich mit einer Cola auf ein Sofa geschmissen. Der 22-Jährige hat gerade seinen Zivildienst beendet und überlegt, was er in Zukunft machen will. In die fröhliche Stimmung mischt sich Ernsthaftigkeit. Einige Freunde von Alex sind schon aus dem strukturschwachen Erzgebirge weggezogen, um Ausbildung oder Arbeit zu finden. Alex würde am liebsten in Marienberg bleiben:

    "Du bist die ganze Kindheit hier aufgewachsen, Du kennst Deine Leute – und irgendwie hält Dich das dann schon noch hier. Und dann so richtig wegzuziehen? Ich meine, am Ende muss man es machen, aber es ist halt doch nicht so einfach, wenn man hier aufgewachsen ist. Ja das fällt dann nicht leicht."

    Die drei Jungs lieben ihre Heimat, das wird bei unserem kurzen Besuch deutlich. Und wir sind nachdenklich geworden: Nico, Alex und Manu gehören nicht zu der Null-Bock-Generation, die faul ist und nichts geregelt bekommt. Diese drei Jungs wollen eigentlich nicht viel, sie wollen arbeiten und eine faire Zukunfts-Chance.

    "Erstmal Frau und Kind. Ja und warum auch nicht ein gutes Haus? Muss ja nicht groß sein, aber erstmal was Eigenes haben - mit einem schönen Garten dazu."

    Ein Traum, der ihnen schwer zu verwirklichen scheint. Wir verlassen die Party-Garage an diesem Samstagnachmittag nicht in Party-Stimmung, sondern eher mit gemischten Gefühlen.

    Katja Schönherr:

    Der Samstag im Westen geht etwas stimmungsvoller zu Ende. Maurice hat mich ins Olpketal-Theater nach Dortmund eingeladen. Bruno Günna Knust erklärt hier Abend für Abend in seinem Kabarett-Programm das Ruhrgebiet.

    Auf der Bühne ist die Skyline Dortmunds nachgezeichnet. Mit vielen bunten Lichtern und Reklame-Schildchen. Das Publikum jubelt, als er ins Rampenlicht tritt. Günna kennt hier jeder. Günna, mit seiner tiefen, rauen Stimme, spricht fürn Pott.

    "Das Ruhrgebiet is'n besonderes Fleckchen. Wenn es irgendwo ein Paradies gab, war dat hier bei uns. Und im Paradies mussten natürlich auch Menschen gemacht werden. Am ersten Tag machte der liebe Gott die Bayern; die sprachen Bayrisch. Dann hat er die Schwaben gemacht; die sprachen Schwäbisch. Die Sachsen Sächsisch. Am letzte Tag hat er uns Ruhrpöttler gebaut, und da hat er keinen Dialekt mehr übrig gehabt. Da waren die Ruhrpöttler traurig. Dann hat der liebe Gott ein bisschen nachgedacht, und dann sagte er: ,Ah, scheißegal, dann sprecht ihr so wie ich!'"

    In der Pause amüsiert sich das Publikum an der Bar, trinkt Pils und greift die Pointen noch einmal auf. Die Ruhrpottler lachen gerne über sich selbst, scheint mir. Günna nimmt sich kurz Zeit für uns.

    "Der typische Ruhrgebietler ist gezeichnet durch eine sehr gute, originelle Sprache, durch Sprachwitz, durch einen etwas ruppigen Humor und durch eine Bodenständigkeit, eine Steh-auf-Mentalität. Er ist sehr leidensfähig, aber immer sehr, sehr optimistisch, und bei ihm ist das Glas meistens nicht halbleer sondern halbvoll."

    Mich wundert: Die Ossis kamen in Günnas Programm bislang überhaupt nicht vor. Dabei hatte ich gedacht, auch im Ruhrgebiet wäre Ostdeutschland eine dankbare Zielscheibe. Aber nein, wenn jemand zum Verspotten gesucht wird, dann sind's eher die Bayern...

    "Ich mach mich nicht über Ossis lustig. Ich muss ja die Geschichte vom Ruhrgebiet sehen; es waren ja früher viele Ossis, die auch zu uns rübergekommen sind und die bei uns im Schmelztigel einfach aufgegangen sind. Also, es ist auch nicht meine Art, da Witze drüber zu machen, nee, nee, das ist überhaupt nicht meine Art."

    Und so bleibt mein einziger Ost-Bezug an diesem Kabarett-Abend das Steigerlied. Das man ja auch Erzgebirge singt.

    Maurice Gully:

    Es ist Sonntag - mein zweiter und letzter Tag im Osten. Mein Zwischenfazit fällt sehr positiv aus. Die Menschen, die wir bis jetzt kennen gelernt haben, waren aufgeschlossen und herzlich. So hätte ich das nicht unbedingt erwartet.

    Heute steht Chemnitz auf dem Programm, nach Dresden und Leipzig die drittgrößte Stadt Sachsens. Chemnitz gilt als die "Hauptstadt" des Erzgebirges. Katja zeigt mir das Wahrzeichen der Stadt- die mehr als 13 Meter hohe, imposante Karl-Marx-Büste. Mich wundert, dass die Skulptur auch nach der Wende stehengeblieben ist. Alexander Stoll, Kustos der "Neuen Sächsischen Galerie" in Chemnitz, hat sich mit uns verabredet und erklärt das Phänomen dieses Monuments:

    "Es ist doch irgendwie zu einem Identifikationsmerkmal geworden. Es gab ja sofort nach der Wende ein Bürgerentscheid, um die Stadt wieder umzubenennen, wieder zu Chemnitz zu machen. Aber an der Skulptur wollte man festhalten und das im Gegensatz zu anderen Städten."

    Wir drehen Karl Marx den Rücken zu und lassen den Blick schweifen: Etwas weiter entfernt erkennt man das Zentrum, riesige Geschäfte und Einkaufspassagen. Alles neu und chic - und austauschbar, wie ich finde: Dieser Teil von Chemnitz könnte auch in Essen, Gelsenkirchen oder Dortmund stehen. Und auch die Schwierigkeiten dieser Städteplanung kommen mir aus meiner Heimat, dem Ruhrgebiet, bekannt vor.

    "Es ist auch nicht unproblematisch, vielleicht etwas einseitig ausgerichtet auf den Kommerz hin. Also Einkaufstempel über Einkaufstempel. Abgesehen davon gibt es ja auch noch auf den grünen Wiesen etlicher solcher Einkaufstempel, also an der Peripherie. Und man spürt, dass in verschiedenen Stadtzentren dann nichts mehr ist. Wenn wir uns hinter dem Marx das anschauen: Die Geschäfte stehen größtenteils leer und das unmittelbar 200 Meter vom Marktplatz entfernt."

    Wir nutzen die restliche Zeit des Sonntags, um noch ein wenig durch Chemnitz spazieren.

    Katja Schönherr:

    Es ist Sonntagmorgen im Ruhrgebiet. Maurice hat noch einen Tag Zeit, mir seine Heimat zu zeigen. Gerade stehen wir auf dem Gelände des Kanu- Clubs von Herdecke. Am Ufer der Ruhr. Der Himmel strahlt blau, die frische Luft hilft beim Wachwerden. Zufällig treffen wir auf Nina Nicolai, die gerade mit ihrem Vater, ihrem Freund und ihrem Hund ins Kanu steigt. Sie lassen mich mit ihnen aufs Boot. (AtmoWasser) Und nun schippere ich mit Nina über den Fluss.

    "Die Ruhr ist ja eigentlich so ein Bezugspunkt für meine Heimat, könnte ich sagen. Also immer, wenn ich die Ruhr sehe, dann weiß ich, jetzt bin ich zu Hause. Mein Papa ist hier im Kanu-Verein, und dann bin ich manchmal mitgepaddelt, war aber zum Beispiel zu Schulzeiten in einer Ruder-AG, so dass wir schon regelmäßig hier an der Ruhr waren."

    Wir erreichen den Viadukt - eines der Wahrzeichen von Herdecke. Beim Durchqueren eines Bogens bin ich beeindruckt von der Steinkonstruktion, von der Größe dieses Bauwerks. Und dahinter erkenne ich dann doch etwas Ruhrgebiet: Ein Kraftwerk. Es steigt aber kein Dreck in die Luft. Nina ist 30. Die meisten ihrer Freunde leben inzwischen nicht mehr in Herdecke, sind quer über Deutschland verstreut. Auch sie ist vor einem Jahr weggezogen. Nach Marburg.

    "Ich wär' auch gerne hier geblieben."

    "Warum?"

    "Ja, das ist einmal so die Verbundenheit, so wie man aufgewachsen ist und mit Freunden und überhaupt, weil ich finde, dass Herdecke ein schönes Städtchen ist und mit vielen Möglichkeiten rundrum, wenn man mehr erleben möchte."

    "Die Möglichkeiten, rundrum etwas zu erleben" - das höre ich hier immer wieder. Wer in einer Stadt des Ruhrgebiets wohnt, der ist auch oft in einer anderen. Man bewegt sich, schöpft die Region als Ganzes aus, so mein Eindruck.

    Nina und ihre Begleiter bringen mich zurück an den Kanu-Club Herdecke. Ich betrete wieder festen Erdboden. Sie selbst paddeln noch ein bisschen weiter.

    Maurice Gully:

    Wir schlendern immer noch durch Chemnitz. Mittlerweile ist es Sonntagnachmittag - die letzten Stunden im Osten. Wir setzen uns in ein Cafe der Altstadt vorm Rathaus. Ich bin überrascht: Kaffee & Kuchen für 2,50 pro Person: Noch billiger als ich erwartet hatte. Dann gehen wir langsam zu unserem Ausgangspunkt zurück: Die Karl-Marx-Büste. Geschichtsträchtig wirkt dieser Platz nicht mehr: Auf dem Granit-Sockel von Marx fahren junge Skateboardfahrer. Hier ist eben für sie der beste Platz, um neue Tricks zu üben.

    "Weil das eben guter Asphalt ist, guter Boden eben. Das rollt gut und dann kann man gute Tricks machen."

    Es herrscht reger Betrieb. Ein paar Chemnitzer warten an der Straße auf den Bus. Touristen bleiben mit ihrem Stadtführer in der Hand vor Karl Marx stehen. Das Denkmal wird hier liebevoll "Nischel" genannt - so heißt "Kopf" auf Erzgebirgisch. Wenig später kommen sieben junge Männer. Sie feiern einen Junggesellenabschied:

    Alle haben orange-farbene T-shirts an. Nur Patrick, der werdende Ehemann, trägt ein braunes Shirt mit der Aufschrift: "Sorry-Girls, ich heirate". Sie posieren für ein Gruppenfoto vor der Karl Marx-Büste. In diesem Moment sieht es so aus, als würde der Verfasser des "Kapitals" über die Szenerie wachen - wie ein sorgender Großvater. Für Patrick und seine Freunde gehört Karl Marx irgendwie zu Chemnitz dazu ...

    "Ich denke, das ist ein Wahrzeichen und sollte einfach hier bleiben. Ich weiß nicht, wie lange das schon hier ist - aber ich bin jetzt seit 20 Jahren in Chemnitz und es sollte auch hier bleiben. Für mich ist es ein Wahrzeichen, fertig aus, ohne näheren Bezug."

    Unser Wochenende im Osten geht zu Ende. Wir setzen uns noch ein wenig auf die Stufen vor dem Denkmal und genießen die Sonne. Vor uns liegt die "Straße der Nationen", damals gedacht für Aufmärsche und Paraden. Wie es hier vor der Wende ausgesehen hat, kann ich heute kaum mehr erahnen. Ich bin überrascht, wie wenig ich an diesem Wochenende mit der DDRVergangenheit konfrontiert wurde. Besonders die jungen Leute, die wir getroffen haben, blicken eher in Richtung Zukunft. Dass die Menschen hier so offen und herzlich mit uns umgegangen sind, hat mich am meisten überrascht. Wahrscheinlich habe ich an diesem Wochenende mehr Mauer aus meinem Kopf geräumt, als in den vergangenen 20 Jahren.

    Katja Schönherr:

    Es ist Sonntagnachmittag in Dortmund. Maurice schleift mich – eine bekennende Nicht-Fußball-Interessierte - zum Borsigplatz. 20 Jahre Wende spielen hier keine Rolle. Hier zählt ein ganz anderes Jubiläum: Vor 100 Jahren wurde am Borsigplatz der Fußballverein BVB Borussia Dortmund gegründet. Der Platz ist im Grunde nur ein begrünter Verkehrskreisel. Ein paar schwarz-gelbe Fähnchen flackern; sie gratulieren dem BVB. Ohne sie würde man die "historische Bedeutung" dieses Ortes kaum erkennen. Es ist Bundesliga-Nachmittag. Wer das Ruhrgebiet kennenlernen will, muss sich ein Borussia-Spiel anschauen, findet Maurice. Er schleift mich in eine Kaschemme. In den "Big Boss". Dortmund hat gerade ein Tor geschossen und führt 1:0.

    Drinnen wird geraucht. 20 Männer, dazwischen eine Frau und die Wirtin, stehen am Tresen. Sie alle starren in Richtung Eingangstür: Darüber steht der kleine Fernseher, daneben die alten, knisternden Lautsprecherboxen. Maurice bestellt sich ein Pils, ich einen Kaffee. Die Wirtin ist irritiert. Später trinke ich dann auch ein Pils - und komme mit den Leuten ins Gespräch: mit Waldemar (Zweitname "weil es im Wald geschah"), mit Fritz, Angelika und Willi. Sie kennen sich schon ewig. Fußball verbindet sie.

    "Borussia Dortmund ist ein Aushängeschild für Dortmund, wollen wir mal so sagen."

    "Ohne Fußball ist nichts los."

    "Das war schon immer wichtig in Dortmund, das gehört zu Dortmund dazu."

    "Das ist natürlich für Eingefleischte, die hier geboren sind, die hier groß geworden sind, das ist ganz normal."

    "Ich guck gerne Fußball. Gerade wenn Dortmund oder Dortmund-Schalke spielt, das sehe ich auch gerne."

    "Dortmund, das sind 80 Prozent Bekloppte - das sehen Sie ja hier. Das macht mir Spaß hier."

    An diesem Tag spielt die Borussia unentschieden. Die Fans sind nicht zufrieden. Kopfschütteln. Der Puls steigt.

    "Dass ich hier überhaupt gesessen habe". So 'ne Scheiße! Die können nicht anders, siehste doch! Jeder will doch heute nur noch Fußballer werden, keiner fragt mehr nach dem Talent, die spielen alle gleich schlecht. Betrug, die sollen sie mal verbieten. Das viele Geld! Die sollen mal so anfangen wie wir, als armer Arbeiter, ja."

    Und irgendetwas sagt mir, dass dieser wütende Fan beim nächsten Spiel trotzdem wieder hier sitzen und mitfiebern wird. Wir verlassen die Kneipe. Meine neuen Bekanntschaften verabschieden sich, wollen wissen, wann ich wiederkomme. Die Antwort lasse ich im Ungefähren. Dieser letzter war zugleich der anstrengendste Teil meines West-Wochenendes - und, zugegeben, auch nicht der, der mich von Dortmund als neue Heimat überzeugen könnte. Und doch: Ein wunderschönes Wochenende liegt hinter mir. Der Pott ist grüner, als ich ihn mir vorgestellt hatte, die Ruhr keine Drecksplörre. Der Strukturwandel ist in vollem Gange, und er wird schwungvoll angegangen. Man ruht sich nicht aus auf vergangene Zechenzeiten, auf Kohle, Eisen und Stahl. Sondern man nutzt die Region als Ganzes und versucht sie als zusammenhängenden Kulturraum zu etablieren. Das hat mich beeindruckt.

    Vor allem aber sind wir - im Osten wie im Westen - auf offene und herzliche Menschen getroffen. Wir konnten sie nicht alle vorstellen, aber es waren zumeist Menschen, die in die Zukunft schauen. Die die Gegend aus der sie stammen, einfach lieben - ob sie nun da bleiben können oder nicht.
    Maurice Gully im Gespräch mit dem Oberbürgermeister von Marienberg, Thomas Wittig (rechts).
    Im Gespräch mit dem Bürgermeister von Marienberg, Thomas Wittig. (Gully/Schönherr)
    Katja Schönherr auf Tuchfühlung mit BVB-Fans.
    Katja Schönherr auf Tuchfühlung mit BVB-Fans. (Gully/Schönherr)