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Heribert Prantl: Kein schöner Land. Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit

Für seine Befürworter ist der Sozialstaat ein Erfolgsmodell, das Stabilität garantiert, für seine Kritiker ein Rundum-Sorglos-Paket, das Eigeninitiative lähmt und die wirtschaftliche Entwicklung hemmt. Auf welcher Seite Heribert Prantl in dieser Diskussion steht, das weiß jeder, der regelmäßig die Süddeutsche Zeitung liest. Prantl ist angetreten, den Sozialstaat mit Verve zu verteidigen. Er schreibt gegen die "Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit" an, so auch der Untertitel seines neuen Buches "Kein schöner Land".

Von Brigitte Baetz | 13.06.2005
    "Sozialpolitik ist ja nicht bloß, wie man es landläufig definiert, den Leuten das Geld in den Hintern zu schieben, sondern Sozialpolitik ist ne Politik, die die Leute in die Lage versetzt, ihr Geld selber zu verdienen. Sozialpolitik ist ne ordentliche Bildungspolitik, Sozialpolitik ist ne Förderung so früh wie möglich in Kindergärten für sozial Benachteiligte. Sozialpolitik ist ne vernünftige Integrationspolitik, die für Kinder mit Migrationshintergrund im Kindergarten beginnt."

    Heuschreckendebatte hin, Lafontaines SPD-Austritt her – der Sozialstaat befindet sich in der Defensive, ist eher Abräumhalde als Neubaugebiet. Wer das Soziale gegen die Begehrlichkeiten des neoliberalen Zeitgeistes verteidigen will, der tut gut daran, grundsätzlich zu werden, um im Lärm zwischen Bürgerversicherung, Kopfpauschale und Mehrwertsteuererhöhung noch Gehör zu finden. Heribert Prantl schreibt:

    "Der Sozialstaat ist Heimat. Beschimpfen kann ihn nur der, der keine Heimat braucht. Und den Abriss wird nur der verlangen, der in seiner eigenen Villa wohnt. Ob er sich dort noch sehr lange wohl fühlen würde, ist aber fraglich."

    Prantl bezeichnet die Vorstellung, man könne einen Staat wie einen profitorientierten Betrieb führen, als einen Midas-Glauben. König Midas, dem alles durch die Berührung seiner Hände zu Gold wurde, erkannte, dass er deswegen verhungern und verdursten musste. Von dieser Erkenntnis sind die Apologeten eines möglichst freien Marktes noch weit entfernt, meint Prantl. Wenn der Staat nicht mehr dafür Sorge trage, dass jeder seiner Bürger ausreichend materielle Sicherheit genieße, sei die Demokratie in ihrem Bestand gefährdet.

    "Demokratie ist ja, wenn man es kurz auf den Punkt zu bringen versucht, eine Gemeinschaft, die die Zukunft miteinander gestaltet. Wenn die Sozialreformen, wenn alles, was die Regierung Schröder als Agenda 2010 bezeichnet inklusive Hartz IV und all diesen Dingen, dazu führt, dass ein wesentlicher Teil der Bevölkerung sagt: nein, dieses System ist nicht mehr das meine, die Parteien, die dieses vertreten, und das sind ja fast alle, sind nicht mehr meine Parteien, ich mache dabei nicht mehr mit, dann nicht bloß einmal, nicht bloß zweimal, nicht bloß dreimal zur Wahlenthaltung greift, sondern dauernd abseits steht, beteiligt man sich nicht mehr an dieser Demokratie und dann wird’s gefährlich. Dann hätten diese Reformen, die den Staat stabilisieren sollten, den Sozialstaat umbauen und dadurch wieder lebenskräftig machen – so haben es ja die Betreiber begründet – dazu geführt, dass man letztendlich diesem Staatswesen massiv geschadet hätte, weil man Demokratie kaputt macht."

    Das Argument, der Sozialstaat sei nicht mehr finanzierbar, lässt Heribert Prantl nicht gelten. Der Staat sei sehr wohl in der Lage, mehr Geld für soziale Zwecke zu binden, wenn er denn nur wolle: Wenn er nicht nur die abhängig Beschäftigten, sondern auch die großen Vermögen belasten und Wertsteigerungen abschöpfen würde.

    "Jetzt sagt man: gut, wenn man auf das Kapital zugreift – wir kennen die Sprüche alle: das Kapital sei flüchtig wie ein Reh, dann ist es halt weg. Erstens hat man sich nie bemüht, das Reh dazubehalten, man hat sich auch nie bemüht, sozusagen den ganzen Wald zu gemeinsamen Regelungen zusammenzukriegen, d.h. zumindest mal die Länder der Europäischen Union und hier zu schauen, dass wenigstens in dem Bereich Kapitalflucht nicht stattfinden kann, dass man sich nicht gegenseitig ausspielen lässt, und dann gibt es Vermögensobjekte, die sind realiter nicht flüchtig, und das ist Grund und Boden. Immobilien heißen Immobilien, weil sie immobil sind, und hier macht der Staat eigentlich gar nichts. "

    Stattdessen werden aus Prantls Sicht die Familien über Gebühr belastet. Sie leiden unter der Privatisierung und dem Abbau von Sozialleistungen und können dem neuen Leitbild vom flexiblen, überall einsetzbaren Individuum nicht entsprechen - und wollen es vermutlich auch nicht.

    "Wer im privaten Leben Solidarität lebt, wird im staatlichen Solidarverband bestraft. Er muss sich darauf verweisen lassen, erst einmal vom Geld anderer – vom Partner, von Kindern, von Eltern – zu zehren, bevor er selbst Anspruch auf staatliches Geld hat. So ist es beim Arbeitslosengeld 2, so ist es bei Hartz IV. Zwar nimmt die Gesellschaft gern all die Leistungen kostenlos entgegen, welche Familien bei der Betreuung und Erziehung von Kindern, ihrer Ausbildung oder bei der Pflege alter Menschen erbringen. Zum Dank dafür werden sie jedoch zusätzlich belastet."

    Einen Primat der Wirtschaft über die Politik mag Heribert Prantl in seinem Buch nicht gelten lassen. Er bilanziert die Ungerechtigkeiten und lässt sich auf keinerlei Sachzwangdiskussion ein. In seinem Plädoyer für den Sozialstaat beruft sich der ehemalige Staatsanwalt hauptsächlich auf zwei Zeugen: die Katholische Kirche und das Grundgesetz. Von den Parteien, die aus seiner Sicht fast unisono den Abbau des Sozialstaates betreiben, erwartet er dabei wenig.

    "Ich erhoffe mir ein bisschen was, vielleicht bin ich da zu sehr Jurist, vom Bundesverfassungsgericht. Es gibt ja immerhin den in neuerer Zeit wieder intensiver zitierten Artikel 14, Absatz 2: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich zum Wohl der Allgemeinheit dienen". Da könnte ja ein Verfassungsgericht mal wieder in concreto sagen, was es bedeutet. Es gab ja mal, es ist nur es schon elend lang her, in den frühen 60er Jahren eine Rechtsprechung, die hier durchaus markant war. Man könnte durchaus, wenn die einzelnen Teile der Agenda, wenn einzelne Teile von Renten-, Gesundheitsreform vor’s Verfassungsgericht kommen, hier ganz deutliche Worte sagen."

    In der Wolle gefärbte Anhänger des freien Spiels der Marktkräfte wird Heribert Prantl mit seinem brillant und engagiert geschriebenen Buch wohl nicht erreichen. Dazu beruft er sich zu sehr auf das, was seit Jahren in der veröffentlichten Meinung als "Sozialklimbim" gilt. Dass es auch der Wirtschaft nützen könnte, wenn der Standortvorteil Sozialstaat erhalten bleibt, kommt bei ihm etwas zu kurz. Jedoch macht er überzeugend deutlich, wie stark die öffentliche Meinungsbildung in wirtschaftlichen Fragen einseitig vom neoliberalen Zeitgeist geprägt ist und kaum noch hinterfragt wird. Für diejenigen, denen soziale Gerechtigkeit mehr ist als ein Kostenfaktor, ist "Kein schöner Land" Ermutigung und Argumentationshilfe in einem. Und wer eine bildhafte Sprache und die Verve eines rhetorisch versierten Anklägers liebt, ist bei Heribert Prantl ohnehin gut aufgehoben.

    Brigitte Baetz über Heribert Prantl: "Kein schöner Land. Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit", erschienen bei Droemer in München zum Preis von 12 Euro 90.